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Titel
Der Krake. Geschichte und Gegenwart einer politischen Leitmetapher


Autor(en)
Lindemann, Uwe
Erschienen
Anzahl Seiten
149 S., 35 Abb.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ernst Müller, Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, Berlin

Nicht zum ersten Mal ist der Kopffüßer Krake Gegenstand einer historischen Arbeit. Vor nahezu 50 Jahren hat der französische Philosoph und Mitbegründer des Collège de Sociologie Roger Caillois in „La Pieuvre. Essai sur la logique de l’imaginaire“ (Paris 1973, dt. Übersetzung München 1986) seine Theorie der Einbildungskraft an der Krakensymbolik entwickelt. Uwe Lindemann, Bochumer Komparatist und – mit biologischen Fragen vertrauter – Mykologe, der bereits in seiner Dissertation die Imaginationen der Wüste historisch untersucht hatte, knüpft an diese breiter konzipierte kulturwissenschaftliche Arbeit an; auch ihm geht es um die Frage, worin die Faszinationskraft, Beständigkeit und semantische Anpassungsfähigkeit dieses Tiefseetieres besteht. Doch sein Buch konzentriert sich auf die moderne politische Metaphorik, ein von Caillois explizit ausgespartes Thema. Im Rückgriff auf Metapherntheorien von George Lakoff, Mark Johnson, Susanne Lüdemann und Hans Blumenberg, aber auch auf die Kollektivsymboltheorie von Jürgen Link und die Mythentheorie von Roland Barthes geht der Autor davon aus, dass Gesellschaften für ihr kulturelles Selbstverständnis Metaphern benötigen. Seine These lautet, dass die Krakenmetapher als kollektivsymbolisches Brennglas fungiert, das die strukturelle und metaphorische Verfasstheit des modernen Globalisierungsdenkens sichtbar mache. Der mit 35 – teils farbigen – Abbildungen reich illustrierte Band bezieht dabei neben Textdokumenten weitere und bis in die jüngste Gegenwart reichende, vor allem massenmedial wirksame Quellen ein: Karikaturen, Bildtafeln, Landkarten, Romane und Zeitungen sowie Spielfilme, Fernseh- und Internetdarstellungen. Die Quellenauswahl des Komparatisten ist international.

Lindemann beginnt wissenshistorisch. Er verfolgt die Geschichte des Kraken im Kontext der entstehenden Tiefsee-Erforschung. Der Autor parallelisiert dabei strukturelle Narrative des Globalisierungsgedankens und der modern-mythologischen Gestalt des Kraken. Erst 1861, zu einer Zeit, als die Meere bereits ein Medium des Austausches von Menschen, Nachrichten und Handelsgütern waren, beobachtete mit großer Öffentlichkeitswirkung die Besatzung einer französischen Korvette vor Teneriffa einen harpunierten Riesenkalmar zum ersten Mal lebendig. Es waren dann vor allem zwei Romane, die zur Semantik, ja zur Dämonisierung des Kraken beitrugen: Victor Hugos „Arbeiter des Meeres“ (1866) und Jules Vernes, in die Weltsprachen übersetzter illustrierter Roman „Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer“ (1869/70). Der Krake, zuvor durchaus widersprüchlich konnotiert, wurde nun zum angst- und ekelerregenden, zum parasitären und angesichts seiner Saugnäpfe auch sexuell konnotierten, den Menschen bedrohenden Ungeheuer, das durch Distanzwaffen kaum zu töten ist. In Anlehnung an diese literarischen Mythisierungen sieht Lindemann in den frühen 1870er-Jahren einen Prozess beginnen, in dem Kraken in andere Kontexte transferiert werden. Seitdem ist die „Adaption als politische Metapher nicht mehr aufzuhalten“ (S. 46).

In den drei folgenden Kapiteln differenziert Lindemann die seiner Auffassung nach für die politische Metaphorik drei wesentlichen Konnotationen des Tieres: Er unterscheidet den „imperialen“, den „konspirativen“ und den „monopolistischen“ Kraken und arbeitet heraus, welche dieser zugeschriebenen Semantiken jeweils funktionalisiert werden. In imperialen Darstellungen dominieren die Vielarmigkeit des Kraken, das Verhältnis von Zentrum und Peripherie sowie die Steuerung über große Distanz. Die „Initialzündung für die kollektivsymbolische Adaption des Krakenbildes in der politischen Propaganda“ (S. 66) findet Lindemann in Landkarten, die – seit 1877 und in großer Auflage veröffentlicht – zunächst die vermeintliche imperiale Bedrohung aus dem Osten, nämlich das russische Zarenreich durch einen gigantischen Oktopus darstellten.

Lindemann beginnt jedes seiner drei Kapitel zu den drei Figuren des Kraken mit der Analyse exemplarischer Quellen. Hier wird eine methodische Schwierigkeit deutlich. Denn eigentlich geht der Autor davon aus, dass Metaphern unser Gesellschaftsbild unhintergehbar prägen. Doch zugleich unterstellt er eine Matrix spezifischer Erzählmuster, die der Metapher offenbar noch vorausgehen, den Kraken aber, wie der Autor auch jeweils bemerkt, gar nicht unbedingt als Bild oder Wort verwenden. Es sind dabei insbesondere zwei latente Erzählmuster, die Lindemann hinter der Metapher ausmacht und zusammenführt: verschwörungstheoretische und strukturell-antisemitische. Doch Lindemanns Analysen von H.G. Wells’ „Der Krieg der Welten“ (1898), des James-Bond-Films „Spectre“ (2015), der erfundenen „Protokolle der Weisen von Zion“ (frühes 20. Jahrhundert) oder des „Kommunistischen Manifests“ (1848) zeigen, dass er die vorausgesetzten Narrationsmuster in ihrem Zusammenspiel mit dem Krakensymbol kaum präzise an den Quellen aufweisen kann. Bei vielen Beispielen werden die Narrationen erst nachträglich durch den Kraken bezeichnet oder verkörpert.

Ist die antisemitische und verschwörungstheoretische Dimension der „Protokolle der Weisen von Zion“ offensichtlich, so fehlt in diesem Text allerdings die Kraken-Metapher. Und ist umgekehrt das Symbol der Geheimorganisation S.P.E.C.T.R.E. im James-Bond-Film tatsächlich ein Krake, so muss Lindemann, weil er bei den Protagonisten des Films keine jüdischen Züge auffinden kann, unterstellen, die Organisation sei „in struktureller Hinsicht gleichwohl eng mit dem konspirativen Kraken der jüdischen Weltverschwörung verwandt“ (S. 79). Im Kapitel zum „monopolistischen Kraken“ ist es das „Kommunistische Manifest“, das als „zentraler Referenztext für die spätere kapitalismuskritische Verschwörungstheorie“ fungieren soll. Lindemann entwickelt dabei fragwürdige Kriterien für Verschwörungstheorien, zu denen nicht nur eine „Logik des Verdachts“ zählt (mit der Diskrepanz von Oberfläche und Tiefe), sondern schon aufklärerischer Erkenntnisoptimismus oder der Versuch, das Weltganze rational zu erfassen (S. 81f.). Bezogen auf das „Kommunistische Manifest“ gehört zum verschwörungstheoretischen Konstrukt „das Motiv des nackten, rein auf Profit ausgerichteten Interesses ohne Rücksicht auf moralische und soziale Werte“ (S. 99). Als Figuren der Verschwörung und des Antisemitismus werden sowohl solche der Entpersonalisierung als auch die Personalisierung von gesellschaftlichen Verhältnissen gedeutet; damit wird die Spezifik verschwörungstheoretischer oder antisemitischer Konstrukte kaum noch analysierbar. Die Fragwürdigkeit der (gut gemeinten) Figur des strukturellen Antisemitismus ist bereits beschrieben worden1; und auch die hier enorm ausgeweitete Verschwörungstheorie hätte als kontaminierende Zuschreibungskategorie zunächst sprachpragmatisch und epistemologisch untersucht werden sollen. Lindemanns „Logik des Verdachts“ schlägt hier mitunter auf sein eigenes Verfahren zurück.

Der Autor hat zweifellos ein interessantes, gut lesbares Buch mit neuem Bildmaterial vorgelegt. Und dem kleinen Kadmos-Verlag ist erneut ein graphisch höchst anspruchsvolles Werk gelungen. Die These, dass der Krake eine zentrale Metapher der Globalisierung und antisemitischer Stereotype ist, leuchtet intuitiv ein. Doch bei der Lektüre des Buches wird zunehmend deutlich, dass Lindemann abseits seiner Metapherngeschichte eine weitergehende theoretische Agenda verfolgt. Sie kulminiert in den streitbaren „Sechs Thesen zum modernen Globalisierungsdiskurs“, die den Band beschließen. Die für die historische Analyse kaum zwingenden Gedanken reichen von der ersten These, dass das moderne Globalisierungsdenken auf einem totalitären Denkmodell beruhe, bis hin zu den beiden letzten, sich eigentlich widersprechenden: „Globalisierung ist ein leerer Signifikant“ (These fünf) und „Globalisierung ist ein Mythos“ (These sechs, S. 135). Lindemanns Pejorisierung betrifft nicht nur den kritischen Globalisierungsdiskurs, sondern auch das gelegentlich auftauchende Gegenbild der „egalitistischen“ Globalisierungserzählung. Wenn der Autor gegen den Begriff der Globalisierung die „Unübersichtlichkeit und Unausdeutbarkeit des Wirklichen“ beschwört (S. 134), die eben zu ertragen sei, dann handelt es sich allerdings auch dabei keineswegs um eine neutrale, sondern um eine höchst ideologische Denkfigur.

Uwe Lindemann kommt immer wieder zu interessanten Beobachtungen, zum Beispiel, wenn er der „Tiefseegeschlechterpolitik“ (S. 47) und der Frage nachgeht, warum es sowohl „der“ Krake wie „die“ Krake heißen kann. Anstelle monokausaler Zurechnungen hätte man sich weitere empirisch gesättigte, stärker historisch vergleichende Analysen der Krakenmetapher selbst vorstellen können, etwa mit ihm zusammenhängende, auch politische Vorgänger- und Nebenmetaphern des Kraken sowie andere zoomorphisierende Metaphern von Globalisierung und Antisemitismus. (Neben den im Text erwähnten Spinnen und der Hydra wäre an Mythologeme wie den Leviathan sowie an die Narrationen zum Wal zu denken.) Und ein anderer Befund kommt bei Lindemann nicht vor: Wer heute „Krake“ als Bild googelt, ist nach der Lektüre des Buches erstaunt, fast durchweg freundliche, fast nur kindsgemäße Motive zu sehen – Kuscheltiere, Kinderbücher, Ausmalbilder, Tätowierungen, Fußballorakel. Zeigt sich hier eine Werteverschiebung des Signifikanten Krake, der offenbar längst nicht mehr wie im Gefolge Hugos und Vernes als unheimlich, eklig und bedrohlich erscheint, sondern infantilisierend anthropomorphisiert wird? Wie auch solche Semantiken an ältere Bedeutungsschichten anzuknüpfen vermögen, dazu gibt das frühere Buch von Roger Caillois weitergehende Auskünfte. Doch wie der bei Matthes & Seitz für den Herbst angekündigte Band „Die Gesellschaft des Tentakels“ von Matthias Wittmann zeigt2, scheint der Krake seine Faszination für die Forschung noch nicht verloren zu haben.

Anmerkungen:
1 Vgl. z.B. Gerhard Hanloser, Linker Antisemitismus?, Wien 2020.
2https://www.matthes-seitz-berlin.de/buch/die-gesellschaft-des-tentakels.html (19.07.2021).