K. Kerby-Fulton u.a. (Hrsg.): Women Intellectuals and Leaders in the Middle Ages

Cover
Titel
Women Intellectuals and Leaders in the Middle Ages.


Herausgeber
Kerby-Fulton, Kathryn; Bugyis, Katie Ann-Marie; Van Engen, John
Erschienen
Woodbridge 2020: Boydell & Brewer
Anzahl Seiten
436 S.
Preis
£ 60.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lena Vosding, Faculty of Medieval and Modern Languages, Universität Oxford

Mit dem hier anzuzeigenden Sammelband, der aus der gleichnamigen Konferenz im Jahr 2015 entstand, haben die Herausgeberinnen und Beteiligten ein Werk vorgelegt, das nicht nur aktuelle Aspekte der mediävistischen Frauengeschichte aufgreift. Es ist durchaus auch dazu geeignet, der Forschungsdiskussion auf grundlegenderer Basis neue und teilweise überfällige Impulse zu geben.

Organisiert ist der Band in sechs thematische Abschnitte, die jeweils mit einem kurzen Vorwort durchschnittlich drei der insgesamt 21 Artikel umfassen. Den Rahmen bilden die Einleitung von Kathryn Kerby-Fulton „Taking Early Women Intellectuals and Leaders Seriously“ (S. 1–18) und der Epilog von John van Engen „Positioning Women in Medieval Society, Culture, and Religion“ (S. 397–401). Bereits die Titel dieser beiden Texte nennen die Elemente, auf deren Schnittmenge der Band ausgerichtet wurde: Die Verbindung von „Ernstnehmen“ und „Positionieren“ von Frauen bzw. Weiblichkeit nicht nur in der jeweils zeitgenössischen Gesellschaft, sondern vor allem in der wissenschaftlichen Perspektive darauf. Hier wollen die Beteiligten nach eigenem Bekunden mindestens drei traditionelle Positionen hinterfragen: Erstens die Vorstellung, „that women’s intellectual accomplishments were limited to the Latin literate“, mithin also die Verknüpfung höchster Intellektualität mit Latinität (S. 1), zweitens die Vorstellung, „that women’s accomplishments were limited to the vernacular and the material“ (S. 2), und drittens die Vorstellung, „that women were somehow more ‚original‘ for their lack of learning and dependence on their mother tongue“ (S. 2).

Dabei gehe es keinesfalls um die künstliche Suche nach Geschlechtergerechtigkeit oder die Umkehrung historischer Belege für die in weiten Teilen patriarchale und oft genug misogyne Vergangenheit. Vielmehr wird eine Sensibilisierung dafür angestrebt, dass wissenschaftliche Annahmen über die gesellschaftlichen Möglichkeiten von Frauen eben zu einem Gutteil auch von der Fokussierung auf jene Quellen(-aussagen) bestimmt werden, die sich reibungsarm in das Narrativ proaktiver, intellektuell innovativer und strukturell überlegener Männlichkeit einfügen lassen. In diesem Narrativ kann die Frau vornehmlich die Rolle der Ausnahmebegabten oder der abhängig Teilhabenden mit eigenen Zuständigkeitsbereichen (häufig der Körper) übernehmen; Stereotype, die als mittelalterliches Konzept natürlich existieren, als Prämisse wissenschaftlicher Studien aber zu einem Perpetuum mobile werden und andere Konzepte verschleiern können.

Dem ein nuancierteres Bild entgegen zu setzen und den Blick zu erweitern auf heute eher unbekannte Frauen, die zentrale Bereiche von Gelehrsamkeit und Gesellschaft mitgestalteten bzw. auf bisher eher unbeachtete Aspekte dieser Beteiligung, gelingt dem Band an vielen Stellen. Aus Sicht der Rezensentin sind hier die Beiträge in Teil I (Scholarship, Law, and Poetry: Jewish and Muslim Women) hervorzuheben, die mit dem oft unreflektierten Fokus der (westlichen) Forschungstradition auf christliche Frauen brechen und Beispiele von jüdischen und muslimischen Frauen einbringen. Nicht zuletzt dank der weniger ausgeprägten Aufteilung jüdischer und muslimischer Gemeinschaften in geweihte und nicht-geweihte Personen (Mazo Karras, S. 22), nahmen die vorgestellten Frauen eine aktive Rolle in der spirituellen Lehre, Literatur, Geschäfts- und Rechtspraxis ein, auch wenn sie genau wie christliche Frauen in vielen Bereichen Restriktionen unterworfen waren oder heute kaum mehr greifbar sind. Diese (mittelalterlichen wie wissenschaftlichen) Mechanismen über die Religionsgrenzen hinweg stärker zu vergleichen und somit klarer erkennen zu können, scheint dringend angeraten.

Dem gegenüber steht der eher klassische Zuschnitt der Beiträge in Teil II (Authorship, Intellectual Life, and the Professional Writer) in dem mit Agnes d‘Harcourt, Christine de Pizan, Katharina von Siena und Mary Ward wieder vier prominente Gestalten thematisiert werden. Die Beiträge kreisen zum einen um die Authentizität der Urheberschaft, die bei Verfasserinnen noch häufig stärker hinterfragt wird als bei Verfassern, zum anderen um die Abhängigkeit weiblicher Intellektualität von gesellschaftlichen und literarischen Konventionen. Hier zeigt sich einmal mehr, dass durch die detaillierte Kontextualisierung der vorhandenen Quellen weit weniger Passivität nachweisbar als vielmehr ein individuelles Abwägen von Möglichkeiten und Absichten beim Schreiben der Frauen und in Texten über sie anzunehmen ist.

In eine ähnliche Richtung weist auch Abschnitt III (Recovering Lost Women’s Authorship), in dem durch „forensic textual and historical work“ (Kerby-Fulton, S. 153) unbekannte Autorinnen aus der Unsichtbarkeit geholt werden. Die stimmig kombinierten Texte bieten großes methodisches Potential für die Einschätzung der Quellenlage insgesamt, da nicht nur vorgeführt wird, wie ein Text aus dem Œuvre des ewig männlichen Anonymus („there has never been a female anonymous“, Wallace, S. 74) herausgehoben und als Werk einer Frau wahrscheinlich gemacht werden kann. Auch verschiedene Wege der Mitarbeit von Frauen am Komplex „Literatur“ jenseits einer eng ausgelegten Autorschaft sind wohl noch wesentlich stärker mitzudenken, hier plausibel gemacht durch die These verschiedener Imitatorinnen, die sich anonym hinter einer einzelnen Pionierin (Marie de France) verbargen, und durch das seltene Beispiel eines männlichen Verfassers (Johannes von Morigny), der in seinem Werk die intellektuelle Zuarbeit einer Frau (Bridget of Autruy) sichtbar macht und sie so vor dem Verschwinden in der Anonymität bewahrt. Gerade dieser Fall dürfte ein winziges Fenster sein, das den Blick auf oft nur vermutete Verhältnisse der Textproduktion ermöglicht und an Erkenntnisse zu kollektiver Autorschaft anschließt.

Die letzten drei Abschnitte des Bandes (IV: Multidisciplinary Approaches to Gender, Patronage, and Power; V: Religious Women in Leadership, Ministry, and Latin Ecclesiastical Culture; VI: Out of the Shadows: Laywomen in Communal Leadership), versammeln schließlich Arbeiten zu recht verschiedenen Gegenständen, deren Zuordnung zum jeweiligen Abschnitt manchmal etwas zufällig wirkt. Andererseits werden durch solche thematischen Überschneidungen – auch mit den ersten Abschnitten des Bandes – bestimmte Perspektiven und Argumentationen noch einmal betont, was wiederum der Schlüssigkeit des Bandes zugutekommt. Besonders die mehrfach verhandelte Proaktivität von Frauen, sei es in eigener oder in übergeordneter Sache, wird facettenreich ausgeleuchtet. Ein nahezu durgehend erkennbares Element ist hier die finanzielle Verfügungsmasse und der soziale Status als Voraussetzung solcher Aktivitäten, beispielsweise als Erblasserinnen oder als Stifterinnen. Diese Bedingung wird vor allem für laikale Akteurinnen betont; Frauen im religiös institutionalisierten Kontext boten sich noch andere Möglichkeiten, die natürlich auch in spezifischen Quellen sichtbar werden. Diese Zeugnisse werden aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet, sodass erneut die Vielfalt der Strategien sichtbar wird, mit der weibliche Religiose die Normen und Regularien zugunsten eigener Handlungsfähigkeit auslegten, ohne den Rahmen der Legitimität zu sprengen. Indirekt und direkt wird damit erneut das Plädoyer für eine höhere Flexibilität in den Annahmen über die Lebensrealitäten mittelalterlicher Frauen gehalten, nicht zuletzt auch hinsichtlich ihrer Latinität, die in vielen Fällen eben doch ohne männliche Vermittlung vorhanden war und genutzt wurde.

Solche Rückschlüsse lassen sich aus den einzelnen Fallstudien abstrahieren, sie werden aber auch ganz konkret in den Einleitungen der sechs Abschnitte formuliert. Hier finden sich jene Fragen, auf die die jeweiligen Artikel exemplarische Antworten geben, die aber eigentlich an die gesamte Forschungsgemeinschaft gerichtet sind. Sie betreffen nicht nur die Interpretation anonym überlieferter Zeugnisse oder die Bewertung der Quellenlage („As happens all too often in medieval studies, absence of evidence was confused with evidence of absence“, Watson, S. 213), sondern beispielsweise auch die Probleme und Nutzen der analytischen Kategorie „Frau“ (Elliott, S. 339). Gerade mit den Überlegungen zu Vorhandensein und Möglichkeiten weiblichen Kollektivbewusstseins mittelalterlicher Frauen auch über Standesgrenzen hinweg wird der Bogen zur heutigen Diskussion um Formen weiblicher Solidarität gespannt, so wie auch an vielen anderen Stellen Bezug zum modernen Geschlechterdiskurs genommen wird. Dass an einigen wenigen Stellen eine grundwissenschaftlich etwas sorgfältigere Quellendiskussion wünschenswert gewesen wäre und die Spezifika der Gesellschaft in der jeweils untersuchten Zeit und Region etwas klarer benannt hätten werden können, fällt nur wenig ins Gewicht. Insgesamt präsentiert sich der Sammelband schlüssig komponiert, auf offene Forschungsfragen ausgerichtet und als gutes Beispiel dafür, dass Geschichtswissenschaft nicht zum Selbstzweck betrieben wird, sondern die kritische Erforschung der Vergangenheit einen Beitrag zu aktuellen Gesellschaftsverhandlungen leisten kann.