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Titel
Kinderlosigkeit. Ersehnte, verweigerte und bereute Elternschaft im Mittelalter


Autor(en)
Toepfer, Regina
Erschienen
Anzahl Seiten
510 S.
Preis
€ 29,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Clara Harder, Historisches Institut, Universität zu Köln

Die hier zu besprechende Monographie von Regina Toepfer über Kinderlosigkeit im Mittelalter lässt Bekanntes weit hinter sich und bricht in neue Gefilde auf. Unterstützt von der Volkswagenstiftung hat die Inhaberin des Lehrstuhls für deutsche Philologie (Ältere Abteilung) an der Universität Würzburg mit ihrem neuesten Buch ein Opus magnum vorgelegt, mit dem ihr das Kunststück gelingt, auf unterhaltsame Art und Weise ein bisher kaum bearbeitetes Themengebiet zu erschließen. Den Dienst, den Toepfer damit der Mediävistik erwiesen hat, gilt es darum zunächst umstandslos anzuerkennen.

Bereits der Untertitel zeigt auf, dass das Phänomen der Kinderlosigkeit überaus facettenreich ist. Toepfer spricht von ersehnter, verweigerter und bereuter Elternschaft im Mittelalter und steckt damit bereits den Rahmen ab, in dem sich ihre Studie bewegt. Sie sucht bewusst und zielgerichtet den Anschluss an gegenwärtige Debatten über die Rollenerwartungen von Eltern bzw. Müttern („Regretting Motherhood“) oder ethisch-moralische Fragen der Reproduktionsmedizin und lässt sich von diesen souverän inspirieren, ohne in unpassende, anachronistische Vergleiche zu verfallen. Zu Beginn erläutert Toepfer ihr Konzept, das wenig überraschend stark kulturhistorisch angelegt ist. Als Germanistin interessiere sie sich für Narrative, nicht dafür, „wie die Situation von kinderlosen Paaren ‚wirklich gewesen‘“ sei (S. 7). Kinderlosigkeit begreift sie als „kulturelles Konstrukt“ (S. 14). Die Bezeichnung einer Person als „kinderlos“ sei fast immer abwertend gemeint (S. 13). Kinderlosigkeit sei aber kein statischer Zustand, könne eine Vielzahl an Ursachen haben und, das ist immer wieder Thema, auch gewollt sein. Deswegen führt Toepfer für ihre Studien den Zentralbegriff der „Un∗fruchtbarkeit“ ein. Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit stünden in einem diskursiv untrennbaren Verhältnis zueinander. Toepfer bietet im Folgenden einen analytisch-systematischen Zugang zu den mittelalterlichen Un∗fruchtbarkeits-Narrativen. Eindrucksvoll widerlegt sie dabei ihre eigene Ausgangsthese über die negative Konnotation von Kinderlosigkeit. Denn sie zeigt mit ihren zahlreichen Quellenbeispielen umfassend, wie vielfältig und ambivalent mittelalterliche Autoren (ausbleibende) Elternschaft diskutieren konnten. Eine grundsätzliche Abwertung von kinderlosen Personen scheint sich, so eine zentrale These des Buches, vor allem in Folge der Reformation durchzusetzen und damit ein frühneuzeitliches Phänomen zu sein.

Die Arbeit zerfällt in einen allgemeineren und einen literaturhistorischen Teil, ohne dass beide explizit voneinander getrennt werden. In den ersten fünf Kapiteln werden theologische, medizinische, rechtliche, dämonische und ethische Diskurse über Kinderlosigkeit aufgegriffen. Das heterogene Quellenmaterial, das Toepfer hierfür direkt und indirekt heranzieht, erlaubt es ihr, die Vielgestaltigkeit der Narrative exemplarisch vorzuführen. Über Auswahl und Schwerpunktsetzung ließe sich trefflich streiten, auch wenn man Toepfer kaum Einseitigkeit vorwerfen kann. Es rief allerdings ein gewisses Befremden bei der Rezensentin hervor, dass ausgerechnet eine Germanistin sich in diesen Kapiteln so selten zu den Autoren und Rezipienten ihrer Quellen sowie zu deren Verbreitung äußert. Einzelne Befunde gilt es deswegen (auch) im Hinblick auf den historischen Kontext der Materialien zu hinterfragen. Die zeitliche Verteilung des Materials über das Mittelalter hinweg ist keineswegs gleichmäßig. Toepfer greift auf einige unentbehrliche antike Zeugnisse (v.a. Bibel, Kirchenväter) zurück und macht auch einen kleinen Ausflug ins Hochmittelalter. Die überwiegende Mehrzahl ihrer Quellen entstammt aber dem 14. bis 16. Jahrhundert, und hier liegt auch der zeitliche Schwerpunkt bei den literarischen Quellen, die im zweiten Teil der Darstellung ausgewertet werden. Die Vielfalt der Materialien geht dabei immer wieder auf Kosten der inhaltlichen Details: Wenn Toepfer die alttestamentarische Leidensgeschichte von Jakobs Frau Rahel darlegt, unterschlägt sie unnötiger Weise (denn es hätte ihrer Argumentation nicht geschadet), dass Gott Rahels Schwester Lea ausdrücklich Kinder als Trost schenkt, da ihr Mann Jakob sie nicht liebt und die jüngere und schönere Rahel bevorzugt. Ihre Söhne bleiben für Lea aber ein unzureichender Ausgleich für die fortgesetzte Zurückweisung durch ihren Mann. Die Geschichte illustriert zweifellos Rahels Leid ob ihrer Kinderlosigkeit, sie zeigt aber gleichzeitig, dass Leas Fruchtbarkeit eben nicht dazu führt, dass diese glücklich wird. Toepfers Lehre aus der Episode („Wer Söhne gebärt, ist von Gott gesegnet“, S. 27) erscheint vor diesem Hintergrund unnötig verkürzt. Ähnliche Beispiele ließen sich für jedes Kapitel in diesem ersten Teil (bis S. 183) anfügen, in dem die Autorin argumentativ zwar nicht immer überzeugt, aber zahlreiche anregende Impulse bietet.

Im zweiten Teil des Werkes kommt die Germanistin zu der ihr eigenen Expertise, wenn sie Diskurse der erzählenden Literatur aufgreift. Ihre Typologie von sieben Narrativen der Kinderlosigkeit ist wunderbar systematisch und argumentativ absolut überzeugend. Sie präsentiert ein wiederum erhebliches Korpus an literarischen (lateinischen und volkssprachlichen) Texten. Zunächst widmet sich die Autorin dem zeitweilig oder dauerhaft unerfüllten Kinderwunsch: Das Kapitel „Göttliche Hilfe“ deutet Erzählungen um göttliche Erlösung und Heilszusagen frommer Protagonisten, die in Form des ersehnten Nachwuchses daherkommt. Weniger glücklich enden hingegen Versuche von Kinderlosen, Hilfe durch „gefährliche Dritte“ zu erhalten. Diese werden von mittelalterlichen Erzählern als „Eindringlinge“ dargestellt, deren Unterwanderung der Kernfamilie Abstammungsfragen meist ebenso verkomplizieren wie die im nächsten Kapitel besprochene „soziale Alternative“ zur Erfüllung des Kinderwunsches, ein fremdes Kind anzunehmen. Absolut herausragend ist das Kapitel über die „mystische Mutterschaft“, in dem die Bedeutung von Jesuskindfiguren für in Orden oder religiösen Gemeinschaften lebenden Frauen dargelegt wird. Toepfer leuchtet hier „Mutterschaft als genuin weibliche Frömmigkeitsform“ (S. 294) in einem völlig neuen Sinne aus. Das Kapitel zeichnet sich auch dadurch aus, dass es vermehrt weibliche Perspektiven in den Vordergrund rückt. Denn in den vorangegangenen wie in den nachfolgenden Kapiteln sind die Autoren der Quellen sowie ihr Gegenstand fast immer Männer. Auch stehen deren Sichtweisen im Vordergrund in den letzten drei Kapiteln, die sich mit bereuter und verweigerter Elternschaft auseinandersetzen – wodurch ein zentraler Unterschied zu gegenwärtigen Debatten mehr als offensichtlich wird. Toepfer rundet ihre Studien mit einem ausführlichen Epilog ab, bevor Anmerkungsapparat, Literaturverzeichnis und ein Namensregister folgen.

Zentral für Toepfers Analyse ist eine normativitätskritische Perspektive. Die Leidenschaft für ihren Gegenstand ist der Autorin dabei stets anzumerken. Diese führt an der ein oder anderen Stelle dazu, dass sie ihre überwiegend wertneutrale Position verlässt. So werden in ihrer Darstellung Frauen, die medizinische Hilfe bei der Fortpflanzung in Anspruch nehmen, überwiegend als hilflose Opfer der Reproduktionsmedizin stilisiert, die allerlei Dinge über sich ergehen lassen müssen. Die spätantiken Kirchenväter verbreiten ein eher freundlich daherkommendes Keuschheitsideal, Luthers Lob der Ehe ist für Toepfer hingegen ein Abweichler unterjochendes Reproduktionsdiktat. Das wirkt aufgrund häufiger Wiederholungen zum Teil etwas anstrengend.

Toepfer hat die Arbeit in dem Willen verfasst, ein Buch für Fachpublikum und breitere Öffentlichkeit gleichermaßen zu schreiben (S. 473). Diesem Ansinnen trägt nicht nur der erfreulich niedrige Preis des Werkes Rechnung, sondern auch die überaus angenehm zu lesende Wissenschaftsprosa. Die Kapitel sind zwar teilweise aufeinander bezogen, aber auch unabhängig voneinander verständlich, so dass ein episodisches Lesen möglich ist. Auch die Diskussion der 14 Bildquellen bereichern die Darstellung. Gleichzeitig sind ein paar Einschränkungen nötig. So muss der interessierte Laie (und/oder Student) erhebliches Vorwissen zur Geschichte im Allgemeinen und zur mittelalterlichen Epoche im Speziellen mitbringen, um den inhaltlichen Anschluss nicht zu verlieren. Das (geschichts-) wissenschaftliche Fachpublikum dürfte hingegen einiges auszusetzen haben an den oftmals sehr knapp ausfallenden Belegen, den seltenen Erläuterungen zum jeweiligen historischen Kontext und an der fehlenden Rückbindung an die aktuellere historische Forschung vor allem im ersten Teil der Arbeit. Angesichts der erstaunlichen Vielfalt der vorgestellten Materialien und Perspektiven ist dies aber wahrscheinlich zu verschmerzen.

Auch wenn die Nutzung des Zentralbegriffs "Un∗fruchtbarkeit" mitsamt seines „Fertilitätssternchens“ nicht alle Leser überzeugen dürfte, so sind die versammelten Studien mit ihrem reichhaltigen Fundus an Quellen und Analysen mit Gewinn zu lesen. Toepfers Buch eröffnet zahlreiche Anknüpfungspunkte für Historiker, Germanisten und andere und lädt zu Widerspruch und zum Weiterarbeiten ein. Ihr Mut, gewohnte Pfade zu verlassen, hat sich gelohnt. Mögen andere dies zum Anlass nehmen, es ihr gleich zu tun!

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