Cover
Titel
Mit Quellen arbeiten. Aufgaben für historisches Lernen in der Primar- und Sekundarstufe


Herausgeber
Buchberger, Wolfgang; Mattle, Elmar; Mörwald, Simon
Erschienen
Salzburg 2020: Edition Tandem
Anzahl Seiten
107 S.
Preis
€ 20,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Pichler, Pädagogische Hochschule Kärnten

„Mit Quellen arbeiten“ ist eine didaktische Handreichung für den Geschichtsunterricht in Primar- und Sekundarstufe 1. Sie beinhaltet Vorschläge zur Aufbereitung von Unterrichtsmaterialien, die sich in Intention, Konzeption und Form von gängigen Produkten des Schulbuchmarkts abheben. Nicht die Strukturierung von Stoffinhalten und die Repräsentativität der Themenauswahl stehen im Vordergrund1, sondern eine spezifische Gruppe von Materialien (schriftliche und bildliche Quellen) wird in den Blick genommen und deren prozesshafte Erarbeitung durch Schüler/innen angeleitet. Innovativ ist sowohl der Ansatz, Lehrende zu inspirieren und Schüler/innen zu aktivieren als auch die Idee der Rahmung der Primar- und Sekundarstufe 1. Das Werk wurzelt in der fachdidaktischen Theorie. Es rekurriert auf Kompetenzvorstellungen des Modells „FUER Geschichtsbewusstsein“2 und deren schulpraktische Konkretisierung in österreichischen Lehrplänen. Ziel ist die Förderung reflektierten und selbstreflexiven Denkens bei Schüler/innen. Folglich spannt jeder der elf Bausteine einen Bogen von der Klärung des Erkenntnisinteresses (Frage) über Kenntnisse zur Heuristik (Materialsichtung) und dem Vermögen zur Quellenkritik (Triftigkeitsprüfung) bis zur Fähigkeit zu deuten (Interpretation) und zur Entwicklung von Erzählungen (Darstellung des Erkenntnisprodukts). Inkludiert sind die Aneignung typologischer Merkmale (v. a. der Unterschied zu Darstellungen), die Klärung der Funktion von Quellen im Erkenntnisprozess (Ausgangspunkt des Umgangs mit Geschichte, Impuls für Denkprozesse) und das Einüben des nötigen terminologischen Rüstzeugs (Begriffe). Die Arrangements beinhalten Erläuterungen der geschichtsdidaktischen Anliegen des jeweiligen Lernsettings, stellen Bezüge zu Lehrplänen her und geben methodische Hinweise zur Realisierung im Unterricht, getragen vom Interesse, den Schüler/innen ein hohes Maß an Selbstständigkeit bei der Lösung der Aufgaben zuzumuten. Abgerundet werden die didaktischen Hinweise durch Anregungen zu weiterführenden Arbeiten („Follow up“) sowie Vorschläge zur Differenzierung im Unterricht.

Jeder der elf Bausteine zielt auf spezielle fachliche Fähigkeiten. So widmet sich Wolfgang Buchberger dem Thema Re-Konstruktion. Am Beispiel der „Kriegsbegeisterung 1914“ wird anhand von schriftlichen und bildlichen Quellen sukzessive der Weg zur Konzeption von Narrationen angeleitet. Belegbare Aussagen werden erwartet. Alternativ dazu gibt es die Möglichkeit, fertige Schüler/innen-Erzählungen analytisch zu durchdringen. Simon Mörwald nimmt Adressant/innen-Orientierung anhand des Themas „Arbeitszeitdebatten“ in den Fokus. Durch die Verwendung unterschiedlicher Darstellungsformen (Schulbuchtext, Radiospot, Kurz-Video) wird zudem die Reflexion von Gattungsspezifika en passant erlernt. Die Weitung des Horizonts zu globalgeschichtlichen Themen beabsichtigen Irmgard Plattner / Claus Oberhauser durch die Bearbeitung der Quellengattung Bildgeschichte („Codex Mendoza“). Die Herausforderung liegt in der Fähigkeit zur Entschlüsselung bildlicher Codes. Gelingt das, werden Einsichten in die sozioökonomischen und kulturellen Spezifika präkolumbianischer Gesellschaften ermöglicht. Magdalena Wallisch-Koch widmet ihren Baustein der Fragekompetenz. Am Thema „Bildung im Mittelalter“ wird das Vermögen, Fragen an Geschichte zu stellen und zu beantworten, stimuliert und in mehreren Aufgabensettings variabel operationalisiert: Identifizierung und Diskussion potenzieller Fragen in Texten, Förderung der Einsicht der Wirkmächtigkeit epistemologischer Prinzipien auf Textgestaltung, Einüben von Recherchefähigkeit zu vorgegebenen Fragestellungen, Beantwortung von Fragen. Eigenständiges Erarbeiten von Kontextwissen mittels strukturierter Recherche thematisiert Johannes Brzobohaty am Beispiel „Merkmale von Herrschaftsformen“ (NS-Diktatur). Ziel ist das Ausprobieren von Verfahren, damit Schüler/innen schrittweise Selbstständigkeit im Aneignen von Arbeitswissen einüben können: Nachschlagen (Begriffsklärung), Systematisieren (Checkliste), Bewerten (Relevanzbeurteilung). Auf Belegbarkeit entnommener Informationen wird geachtet. Das weite Feld der Quellen-Typologie eröffnet Beatrix Oberndorfer anhand der Pest. Mittels dreier unterschiedlicher Textquellen (Chronik, Infektionsordnung, Volkslied) wird innere und äußere Quellenkritik (Analyse und Gattungsspezifik) sowie die Entnahme von Informationen (Aussagewert) erlernt. Perspektivenwechsel samt Reflexion sind integrale Bestandteile der Übungen. Multiperspektivität wahrzunehmen ist auch Anliegen von Elmar Mattle. Mit Hilfe von Tagebuch-Einträgen wird der „Anschluss 1938“ aus der Sicht eines illegalen Nationalsozialisten, eines Opportunisten, eines NS-Opfers und einer NS-Gegnerin beleuchtet. Der Vergleich der Aussagen ermöglicht persönliche Zugänge zur Beurteilung historischer Mythen (z. B. Opferthese) und zur Teilnahme am geschichtskulturellen und -politischen Diskurs. Er zeigt aber auch die Grenzen der Deutbarkeit von Geschichte anhand lediglich einer Quellengattung auf. Robert Hummer widmet sich dem Genre Bildquelle unter den Aspekten „Selbstdarstellung“ und „Feindbildkonstruktion“. Es wird zwischen Foto und Karikatur changiert. Anhand von Darstellungen Ignaz Seipels und Otto Bauers leiten die Arbeitsaufträge zu ikonografischem Sehen (Identifizierung visueller Codes), Bildbeschreibung und Deutung an. Ziel ist analytisches Erkennen von Perspektivität und Einüben der Fähigkeit, erhobene Ergebnisse in den historischen Kontext zu integrieren. Perspektivität wird auch von Philipp Mittnik aufgegriffen, indem er den Mythos der „sauberen Wehrmacht“ thematisiert. Aussagen von Wehrmachtsoffizieren und Soldaten zu den Befehlen Hitlers zur Vernichtung von Teilen der Zivilbevölkerung sind zu analysieren und zu bewerten. Zudem zielt der Autor auf das Erkennen bewussten Pflegens historischer Mythen und deren Instrumentalisierung durch Geschichtspolitik. Da Menschen bereits im Kindergartenalter historisches Bewusstsein entwickeln, ist es bereits Aufgabe des Sachunterrichts der Primarstufe, historische Fähigkeiten und Fertigkeiten altersadäquat zu fördern. Heike Krösche schlägt vor, Volksschüler/innen am Beispiel von „Kindheit um 1900“ zur Auseinandersetzung mit Quellen anzuregen. Sie sollen einem autobiografischen Text Erich Kästners Informationen entnehmen und diese mit eigenen Erfahrungen von Alltagsverläufen vergleichen. Die epistemologische Spezifik von Erinnerungsliteratur wird reflektiert. Die Bekanntheit Olympischer Spiele nimmt Nikolaus Eigler zum Anlass, um Kindern zu zeigen, „woher Historiker*innen wissen, wie es damals gewesen sein könnte“.3 Ausgehend von der Sicherung individueller Vorstellungen der Kinder von antiken olympischen Spielen, sind gekennzeichneten Aussagen in einer historischen Darstellung vorgegebene Quellenbelege zuzuordnen. Dazu müssen sie Erläuterungen bildlicher Quellen lesen und verstehen können. Ziel ist die Förderung „passiver Rekonstruktionskompetenz“.

Die Stärke der vorliegenden Handreichung und zugleich ihre Innovationskraft, erwächst aus einer gelungenen Verschränkung von Theorie und Praxis. Der Kompetenztheorie deduzierte Lernziele sind einsichtig erläutert, der Weg zur Konkretisierung im Unterricht wird praxistauglich gewiesen, Varianten (Weiterführung, bzw. Differenzierung von Bearbeitungswegen) sind expliziert. Das Buch vermag es, die Vorstellungskraft von Lehrer/innen anzuregen und Lust auf eigenständige Konzeption von Unterricht, abseits von Schulbüchern, zu machen. Es wird deutlich, dass Aneignung und Entwicklung fachlicher Fähigkeiten und die Förderung individueller historischer Denkprozesse bei Schüler/innen durch das Ermöglichen selbstständiger Bewältigung von Anforderungen gelingen kann. Überlegte Quellenauswahl begünstigt einen abwechslungsreichen, individuellen Zugang zu Geschichte, kurzum forschendes Interesse. Wünschenswert gewesen wäre eine breitere Auffächerung der behandelten Kategorien und Konzepte (dominierend sind Gesellschaft und Herrschaft) sowie eine stärkere Berücksichtigung der Epochen (der Fokus liegt auf Neuzeit und Zeitgeschichte). Politische Bildung, in Österreich ein Fächerbündel mit Geschichte, wird implizit thematisiert. Der Baustein „olympische Spiele“ operiert mit einer Kumulation von Fachvokabular („attische Schale“, „Sprunggewichte aus Schiefergneis“, „attische rotfigurige Kylix“, „Hoplitenlauf“ etc. 4), das Volksschüler/innen ermüden und überfordern dürfte. Hier ist zu Vereinfachungen zu raten. Trotzdem ist dem Autor/innenteam ein Wurf gelungen, der exemplarisch zeigt, wie kompetenzorientierter Unterricht altersadäquat gelingen kann. Es darf mit Interesse auf ähnliche Handreichungen zu anderen Materialgattungen (Darstellungen, Film, digitale Medien, Produkte der Geschichtskultur, etc.) gewartet werden.

Anmerkungen:
1 Christoph Bramann / Christoph Kühberger / Roland Bernhard (Hrsg.), Historisch denken lernen mit Schulbüchern. Frankfurt am Main 2018; Björn Onken, Theorie und Praxis im Konflikt. Überlegungen zur Narrativität von Verfassertexten in Geschichtsschulbüchern, in: Martin Buchsteiner / Martin Nitsche (Hrsg.), Historisches Erzählen und Lernen. Historische, theoretische, empirische und pragmatische Erkundungen, Wiesbaden 2016, S. 69–84; Holger Thünemann, Geschichtsunterricht ohne Geschichte? Überlegungen und empirische Befunde zu historischen Fragen im Geschichtsunterricht und im Schulgeschichtsbuch, in: Saskia Handro / Bernd Schönemann (Hrsg.), Geschichte und Sprache, in: Zeitgeschichte–Zeitverständnis 21, Berlin 2010, S. 49–60.
2 Andreas Körber / Waltraud Schreiber / Alexander Schöner (Hrsg.), Kompetenzen historischen Denkens. Ein Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik, in: Kompetenzen: Grundlagen – Entwicklung – Förderung, Band 2, Neuried 2007.
3 Buchberger, Quellen, S. 101.
4 Ebd., S. 105f.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension