Cover
Titel
Prostitution and Subjectivity in Late Medieval Germany.


Autor(en)
Page, Jamie
Erschienen
Anzahl Seiten
176 S.
Preis
£ 65.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jacqueline Turek, Historisches Institut, RWTH Aachen University

Die zu rezensierende Monographie des britischen Historikers Jamie Page basiert auf seiner an der University of St. Andrews eingereichten Promotionsschrift. Im Fokus steht spätmittelalterliche Prostitution im Hinblick auf speziell subjektive Konzepte, die den individuellen Umgang mit dem kulturellen Diskurs zu den Themen Körper, Sexualität und Sünde prägten. Der gewählte Untersuchungszeitraum ist für die Thematik besonders interessant, da innerhalb des 14. und 15. Jahrhunderts Prostitution in Form von städtischen Bordellen institutionalisiert wurde und ihre Bedeutung für die Regulation sexuellen Verhaltens zunahm. In diesem Zusammenhang wurden Prostituierte zwar aufgrund ihrer Funktion für den „städtischen Frieden“ akzeptiert, gleichzeitig aber als Sinnbild weiblicher Sündhaftigkeit von Obrigkeiten und Mitmenschen oftmals stigmatisiert und marginalisiert.

In diesem Spannungsfeld siedelt sich Pages Forschung im vorliegenden Buch an und leistet damit einen weiteren Beitrag innerhalb des geschichtswissenschaftlichen Diskurses zum Thema Prostitution. Während jenes Gewerbe innerhalb des Spätmittelalters lange im Kontext von Devianz, Armut und Kriminalität 1 oder in seiner oben genannten institutionalisierten Form untersucht worden ist und noch wird 2, thematisiert Page den Einfluss zeitgenössischer gesellschaftlicher Konzepte von Körper, Sexualität und Sünde auf das individuelle Leben und die Selbstsicht von Prostituierten. Damit löst sich der Autor von der Betrachtung der Prostituierten als Kollektiv und knüpft an den Ansatz von Ruth Mazo Karras an, welche erstmalig die Frage nach Identität und Subjektivität von Prostituierten im Mittelalter stellte. 3 Aus dieser Perspektive heraus erörtert Page, welchen praktischen Einfluss gesellschaftliche Kategorien wie „hur“ oder „heimliche fraw“ auf das Leben der Prostituierten hatten, ob es für jene Möglichkeiten gab, diese Klassifizierungen zu ändern und wie sich diese Frauen in eigenen Worten bezeichnen würden.

Um diese Fragen zu beantworten, stützt er sich – in Ermangelung von Selbstzeugnissen öffentlicher und geheimer Prostituierten des Spätmittelalters – auf drei unveröffentlichte Gerichtsprotokolle aus dem südlichen deutschsprachigen Raum des Heiligen Römischen Reiches (Zürich, Augsburg und Nördlingen). Die Auswahl jener juristischen Quellengattung begründet Page in der Möglichkeit, Stimmen längst verstorbener Individuen zu hören, die in anderen Quellen nicht zu Wort kommen, da sie unteren sozialen Schichten oder Randgruppen angehörten.

Die umfangreiche Einleitung des Buches enthält einen detaillierten Überblick über die Entwicklung und den aktuellen Stand der Forschung zum Thema Prostitution. Außerdem definiert Page auf Basis philosophischer Deutungsmuster den Begriff „Subjektivität“ einerseits als Selbstbild, andererseits als Möglichkeit, Einfluss auf soziale Umstände und zwischenmenschliche Beziehungen zu nehmen. Des Weiteren führt er die Problematik juristischer Quellen als Erkenntnismedium eingehend aus; insbesondere Aussagen von Zeugen oder Angeklagten können durch Fragestellungen, Zwang oder persönliche Ziele des Befragten beeinflusst werden.

Im zweiten Kapitel steigt Page in die kritische Analyse des ersten Ermittlungsprozesses ein, der 1392 in Zürich mit der Auffindung eines toten Babys begann. Hauptverdächtige war eine heimliche Prostituierte namens Repplin, die zum fraglichen Zeitraum schwanger gewesen sein soll. Eine Selbstaussage der Angeklagten ist nicht erhalten. Mithilfe der Zeugenaussagen von Freiern und Nachbarn über Repplins Selbstdarstellung innerhalb ihres sozialen Umfeldes gelingt es Page jedoch, ihre Selbstsicht zu rekonstruieren. Es zeichnet sich das Bild einer Frau, die offen ihre berufliche Promiskuität lebte sowie ihre Schwangerschaft kommunizierte und trotzdem ein akzeptiertes Mitglied einer sozialen Gemeinschaft war. Trotz der rechtswidrigen Praxis von unehelichem Sex gab es demnach Möglichkeiten für Prostituierte, gesellschaftliche Akzeptanz zu verhandeln und die subjektive Fremdwahrnehmung ihrer Person positiv zu beeinflussen. Diese Beeinflussung hatte jedoch Grenzen. Inhaftiert und angeklagt wurde Repplin schlussendlich aufgrund der Anschuldigung eines einzelnen Freiers, der ihr unterstellte, sich auf illegale Weise des Ungeborenen entledigen zu wollen. Jener Vorwurf, in dem sich das weitverbreitete Stereotyp der unmoralischen Prostituierten spiegelte, machte Repplin zur Hauptverdächtigen. Der Prozess kam jedoch nicht zu einem juristischen Ende, da Repplin in der Haft verstarb.

Das dritte Kapitel beinhaltet einen Fall von 1471/72 aus einem städtischen Bordell in Nördlingen. Ausgangspunkt für die Ermittlungen war eine von der Bordellleitung gegen den Willen der schwangeren Prostituierten vorgenommene Abtreibung. Dieser Vorfall überschritt das in der Welt- und Selbstsicht der Nördlinger Prostituierten für ihresgleichen Akzeptable und sorgte dafür, dass sie sich zusammenschlossen und ihr Recht auf obrigkeitlichen Schutz mit Erfolg einklagten: Die Bordellleitung wurde hart bestraft und eine strengere Regelung für den Bordellbetrieb erlassen. Dieses Beispiel verdeutlich, dass es spätmittelalterlichen Prostituierten trotz ihres zweifelhaften gesellschaftlichen Rufes möglich war, als glaubwürdige Klägerinnen und Zeuginnen vor Gericht auf- und für ihre Belange einzutreten. Jedoch gibt Page zu bedenken, dass es im selben Jahrzehnt wieder zu Lockerungen der Reglementierungen kam und es fraglich bleibt, inwiefern jene normativen Änderungen Einfluss auf die tatsächlichen Lebensumstände von Prostituierten in Nördlinger Frauenhäusern hatten.

Der dritte und letzte Fall stammt aus der Augsburger Urgichtensammlung und handelt von der am 17. Juni 1497 bei ihrer Einreise in die Stadt festgenommenen Gerdrut Birckin. In der ersten Befragung des Diebstahls bezichtigt, unterstellte ihr die Augsburger Obrigkeit in der zweiten Befragung, eine Prostituierte zu sein. Verdachtsgrundlage bildete einerseits Gerdruts langjährige Arbeit als „dierne“ (Magd oder Prostituierte - sie selbst spezifizierte den Begriff nicht) eines Scharfrichters und andererseits die Tatsache, dass sie in fremder – also nicht verwandter – männlicher Begleitung nach Augsburg kam. Auf den Prostitutionsvorwurf reagierte Gerdrut zunächst mit vehementem Dementi und wehrte sich aktiv gegen die Rolle, die ihr die städtische Autorität aufgrund ihres Status‘ als ledige Frau aufzudrängen versuchte. Dennoch scheint der obrigkeitliche Druck und Zwang zu groß gewesen zu sein, Gerdruts Verteidigungsversuche ihrer Selbstsicht scheiterten: Laut Gerichtsschreiber bekannte diese sich schlussendlich zu einem „ellennd verschmecht leben“ als Prostituierte und erlag damit dem Gewicht der misogynen, mittelalterlichen Klassifikation von „hur“. Es fehlt auch hier ein abschließendes Urteil.

Pages Monographie schließt mit einer verhältnismäßig kurzen Konklusion und dem Hinweis, dass die drei auf Subjektivität der Agierenden analysierten Strafprozesse nicht das ganze Spektrum von Prostitution im Spätmittelalter erfassen können. Deshalb regt Page dazu an, weiter mit diesem Ansatz zu forschen, aber auch die Grenzen desselbigen zu reflektieren: „[…] the most meaningful attempts to do so might need to admit the impossibility of ever fully capturing them.“ (S. 141)

Die vorliegende Untersuchung leistet mit ihrer Fragestellung nach Selbstwahrnehmung und Handlungsspielräumen von spätmittelalterlichen Prostituierten einen wichtigen Beitrag zum historischen Diskurs. Dem Autor gelingt es anhand der Beispiele, Konturen der Selbst- und Innensicht der Akteurinnen herauszuarbeiten und Einblicke in die individuellen Möglichkeiten zu geben, die Prostituierte besaßen, um Einfluss auf ihre Fremdwahrnehmung sowie ihre Lebensumstände zu nehmen. Infolgedessen erweitert er das Bild mittelalterlicher Prostitution, welches bislang weitestgehend auf normativen Regelungen und gesellschaftlich-obrigkeitlichen Narrativen beruhte, um die Stimmen einzelner Frauen, die in diesem Gewerbe tätig waren. Diese Herangehensweise ermöglicht es Page, auf Basis der drei Mikrostudien aufzuzeigen, wie unterschiedlich die Kategorie „hur“ das Leben und die Selbstsicht spätmittelalterlicher Prostituierter bestimmte: Repplin war trotz ihrer Arbeit ein anerkanntes Mitglied ihrer Gemeinschaft und die Nördlinger Prostituierten konnten ihre gesellschaftliche Stellung als Schutzbefohlene des Rates nutzen, um sich gegen die Misshandlung im Bordell zu wehren. Gerdruts Schicksal hingegen verdeutlicht, dass diese Handlungsmöglichkeiten und -freiheiten nicht zu verallgemeinern sind: Für Gerdrut war es nämlich der Prostitutionsverdacht, welcher sie zur gesellschaftlichen Außenseiterin und zum hilflosen Opfer von obrigkeitlichen Sozialdisziplinierungsmaßnahmen werden ließ.

Die letzten Seiten des Buches füllt ein überschaubares Quellen- und Literaturverzeichnis, welches sich neben den Verweisen auf das mittelalterliche Quellenmaterial fast vollständig auf deutsch- sowie englischsprachige Publikationen der letzten drei Jahrzehnte beschränkt. Nichtsdestotrotz stellt die vorliegende historische Mikrostudie eine empfehlenswerte Lektüre für thematisch Interessierte dar. Zudem ist Pages Untersuchung von juristischem Quellenmaterial unter einer subjektorientierten Fragestellung auch auf die Erforschung anderer marginalisierter Gruppen innerhalb der spätmittelalterlichen Gesellschaft anwendbar und bietet damit neue Erkenntnismöglichkeiten in Bezug auf Identität und Individualität von Angehörigen einzelner (sozialer) Bevölkerungsgruppen des Mittelalters.

Anmerkungen:
1 Z.B. František Graus, Randgruppen der städtischen Gesellschaft im Mittelalter, in: Zeitschrift für Historische Forschung 8 (1981), S. 385–437; Michel Mollat, Die Armen im Mittelalter, übers. v. Ursula Irsigler, München 1984; Gerhard Otto Oexle (Hrsg.), Armut im Mittelalter, Ostfildern 2004.
2 Beispielsweise Michael Hammer, Prostitution in Urban Brothels in Late Medieval Austria, in: Christopher Mielke / Andrea-Bianka Znorovszky (Hrsg.), Same Bodies, Different Women. 'Other' Women in the Middle Ages and the Early Modern Period, Budapest 2019, S. 70–82; Beate Schuster, Die freien Frauen. Dirnen und Frauenhäuser im 15. und 16. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1995; Peter Schuster, Das Frauenhaus und städtische Bordelle in Deutschland (1350–1600), Paderborn 1992.
3 Ruth Mazo Karras, Prostitution in Medieval Europe, in: Vern L. Bullough (Hrsg.), Handbook of Medieval Sexuality, New York 1996, S. 243–261; spätere Werke: Ruth Mazo Karras, Prostitution and the Question of Sexuality in Medieval England, in: Journal of Women’s History 11/2 (1999), S. 159–177; Ruth Mazo Karras, Sexuality in Medieval Europe. Doing Unto Others, New York 2005.