A. Plassmann u.a. (Hrsg.): Herrschaftsnorm und Herrschaftspraxis

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Titel
Herrschaftsnorm und Herrschaftspraxis im Kurfürstentum Köln im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit.


Herausgeber
Plassmann, Alheydis; Rohrschneider, Michael; Stieldorf, Andrea
Reihe
Studien zu Macht und Herrschaft (11)
Erschienen
Bonn 2021: V&R unipress
Anzahl Seiten
321 S.
Preis
€ 50,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Pätzold, Stadtarchiv / Haus der Stadtgeschichte, Stadt Mülheim an der Ruhr

Der vorliegende Sammelband vereinigt die für den Druck überarbeiteten Vorträge, die anlässlich der Herbsttagung der Abteilung für Geschichte der Frühen Neuzeit und Rheinische Landesgeschichte des Instituts für Geschichtswissenschaft der Universität Bonn am 23. und 24. September 2019 in Bonn gehalten wurden. Den Beiträgen liegen die Annahmen und Beobachtungen zugrunde, dass Herrschaft „durch Normen, die schriftlich oder durch das Herkommen definiert sein können“, eingehegt wird. Herrschaft auszuüben „bedeutet zugleich […], dass sie an diesen Normen gemessen wird. Indes wird sich die Praxis von Herrschaft nicht immer genau an diesen Normen oder Erwartungshaltungen ausrichten, sondern mitunter an Agenden orientieren, die jenseits der Normen liegen, im Zweifel aber dem Erhalt oder der Erweiterung bestehender Herrschaft in territorialer Hinsicht ebenso wie in der Dichte dienen“ (S. 11). Zwischen der Herrschaftspraxis, die hier als „ständiger, multipolarer und dynamisch-kommunikativer Aushandlungsprozess“ verstanden wird, und der Herrschaftsnorm als „Sollzustand der Ansprüche“ ergeben sich in der Regel „Spannungen und Diskrepanzen“ (S. 13). Im Fall der Kölner Erzbischöfe und Kurfürsten traten diese Spannungen aufgrund ihrer „Rollenpluralität“ (S. 267) deutlich zutage: „Der [Erz-] Bischof hatte geistliche Aufgaben zu erledigen, die denen als weltlicher Herrscher zum Teil diametral entgegengesetzt sein konnten“ (S. 14).

Nach den einführenden Überlegungen der Herausgeber (S. 11–18) behandeln zehn Aufsätze die hier umrissene Problematik aus ganz unterschiedlichen Perspektiven. Sie sind drei Abschnitten zugeordnet: I. Akteure und personelle Praktiken (S. 21–96), II. Herrschaft und Außenbeziehungen (S. 99–205) und III. Zur Rollenpluralität der Erzbischöfe und Kurfürsten von Köln (S. 209–288). Der letzte Beitrag des Bandes (zugleich Abschnitt IV: ‚Digitales‘ Kurköln) von Jonas Bechtold, Jochen Hermel und Christoph Kaltscheuer („Verschwunden – überwunden? Kurkölns digitale Präsenz als Tagungsblog“; S. 291–308) ist einem Aspekt moderner Wissenschaftskommunikation mittels Sozialer Medien, nicht aber dem eigentlichen Tagungsthema gewidmet.

Den ersten Abschnitt eröffnet der Text von Fabian Schmitt über „Die Ministerialen in der Politik des Kölner Erzbischofs Engelbert von Berg (1216–1225). Herrschaftspraxis und soziale Mobilität“ (S. 21–48). Schmitt zeigt umsichtig, dass sich Engelbert seiner Ministerialen noch als Helfer gegenüber dem regionalen Adel erfolgreich bedienen konnte. Diese Praxis fortzusetzen wurde im 13. Jahrhundert für seine Nachfolger allerdings immer schwieriger, da sich die ehemaligen Dienstleute allmählich zu eigenständigen politischen Subjekten entwickelten, deren Selbstbewusstsein und Machtposition in vielen Fällen erheblich zunahm. Philipp Gatzen („Weisungsbefugter Stellvertreter oder subalterner Repräsentant? Die Statthalter im Rheinischen Erzstift während der Regierungszeit Kurfürst Clemens Augusts“, S. 49–74) untersucht in seinem klar formulierten Beitrag die Handlungsoptionen und -intentionen des von 1723 bis 1761 herrschenden Kurfürsten bei der Auswahl seiner Beauftragten, wobei sich Gatzen insbesondere mit Franz Christoph Anton von Hohenzollern beschäftigt. Ein – üblicherweise aus der Gruppe der Domherren reichsgräflicher Herkunft ausgewählter – Statthalter übernahm zumeist Aufgaben bei der Repräsentation und Vertretung des Fürsten während dessen Abwesenheit und war „in erster Linie ein Instrument des Kurfürsten zur Durchsetzung seiner Interessen“ (S. 68). Michael Rohrschneider („Die Herrschaftspraxis während der Regierungszeit Kurfürst Clemens Augusts im Spiegel der Arbeiten Max Braubachs“, S. 75–96) referiert die Thesen des Bonner Historikers (1899–1975) zur Herrschaft des Kurfürsten, den Braubach als manisch-depressiv sowie sittlich und politisch für sein Amt als ungeeignet betrachtete (S. 84, 91). Diesen allein auf die Person Clemens Augusts ausgerichteten Ansichten stellt Rohrschneider jüngere Deutungsansätze entgegen, die sich an den strukturellen Gegebenheiten der Beherrschung eines „composite state“ orientieren (S. 86–88) – und bietet damit zugleich eine instruktive Studie über den Wandel geschichtswissenschaftlicher Perspektiven in den letzten hundert Jahren.

Der zweite Abschnitt beginnt mit dem Aufsatz von Alheydis Plassmann über „Die Kölner Erzbischöfe und das Reich – Nutzen und Schaden des Engagements im Reich“ (S. 99–128). Sie betrachtet darin Herrschaftsnormen vornehmlich als zeitgenössische Erwartungshaltungen, mit denen sich die Erzbischöfe in geistlicher wie weltlicher Hinsicht konfrontiert sahen. Plassmann fasst diese Erwartungen in überblicksartigen Abschnitten zu elf Erzbischöfen von Friedrich I. von Schwarzenburg (1100-1131) bis zu Konrad von Hochstaden (1238-1261) zusammen und visualisiert die Ergebnisse schematisch und etwas holzschnittartig in graphischen Darstellungen. Dieses Vorgehen erleichtert zwar die Übersicht über die Vielzahl der Aspekte und Fakten, bringt aber kaum Erkenntnisgewinn. Manfred Groten („Herrschaft auf den Punkt gebracht. Wo verhandelte man im Spätmittelalter mit dem Kölner Erzbischof?“, S. 129-150) thematisiert den Aspekt des Raums im Kontext der Ausübung weltlicher Herrschaft sowie die Bedeutung von Orten bei der Demonstration fürstlichen Ranges. Am Beispiel des Erzbischofs Heinrich von Virneburg (1304-1332) erlaubt Groten durch die Behandlung von Rangfragen Einblicke in das normenbezogene Denken jener Zeit, wie es in damaligen Hierarchie- und Repräsentationskonzepten zum Ausdruck kommt.

Claudia Garnier („Von Freundschaften und Fehden. Herrschaft und Konflikt im spätmittelalterlichen Kurfürstentum Köln“, S. 151–185) erkundet raumbezogenes soziales Handeln („doing territory“), indem sie herrscherliche Interaktions- und Kommunikationsformen sowie Kooperation und Konkurrenz mit fürstlichen Adelsfamilien aus der Umgebung des Erzstifts in den Blick nimmt. Sie untersucht dabei luzide verschiedene Austragungsweisen von Konflikten, Landfrieden und Einungen sowie die geistlichen Disziplinierungsmittel Exkommunikation und Interdikt als variabel einsetzbare politische Instrumente. In der Behandlung von Freundschaft und Feindschaft sowie der Nutzung geistlicher Sanktionsgewalt kommen auch Herrschaftskonzepte zur Sprache. Philippe Sturmel („Les relations entre la cour du prince électeur de Cologne et la cour française au XVIIIe siècle: la question du pouvoir“, S. 187–205) befasst sich mit den kurfürstlichen Außenbeziehungen zum französischen Königshof im 18. Jahrhundert vornehmlich auf der Basis der wechselseitigen geheimen Korrespondenz ab 1748. Hierbei ergibt sich – freilich kaum überraschend –, dass die Kölner Kurfürsten aus französischer Perspektive zwar innerhalb des Adelsgefüges im Reich als erstrangig, im europäischen Kontext aber eher als weniger bedeutsam angesehen wurden.

Den dritten Abschnitt eröffnet Andrea Stieldorfs Aufsatz über „Mitra, Thron und Krummstab. Siegel und Münzen als Quellen für Herrschaftsvorstellungen der Kölner Erzbischöfe des Hoch- und Spätmittelalters“ (S. 209–241). Nach einer instruktiven Übersicht über die wesentlichen Merkmale der erzbischöflichen Siegel und Münzen vom 12. bis 15. Jahrhundert hebt Stieldorf am Schluss zurecht hervor, dass die Bischofsbilder das geistliche Amt betonen, „auf dem nicht nur die geistlichen Grundlagen der erzbischöflichen Macht weitgehend beruhten, sondern das zugleich Ausgangspunkt für die weltliche Machtstellung der Kölner Erzbischöfe war“ (S. 233). Die Verfasserin kann überzeugend resümieren, dass Siegel und Münzen „die sich durchaus verändernden Normen erzbischöflicher Herrschaft“ spiegeln (S. 235). Nina Gallion fragt in ihrem Aufsatz „Reine Formsache? Der Kölner Metropolit im 13. und 14. Jahrhundert“ (S. 243–266), wie bei der Ausübung des Metropolitenamts „Norm und Praxis miteinander verzahnt“ waren (S. 245). Sie stellt fest, dass Könige, Päpste und Suffragane zwar wesentliche, mit dem Metropolitenstatus verbundene Kompetenzen für sich vereinnahmten (S. 259), der Metropolit aber „weiterhin eine hervorgehobene […] Position innehatte“ (S. 261). Frederieke Maria Schnack („Dynastiepolitik im Zeichen der Erzbischofswürde. Das Streben der Grafen von Moers nach Kölner Suffraganbistümern im 15. Jahrhundert“, S. 267–288) untersucht die lange Sedenzzeit des Erzbischofs Dietrich von Moers (1414–1463) unter dem Aspekt, inwieweit der Metropolit die Belange seiner Familie im Blick behielt und insbesondere seine Brüder in ihrem Streben nach Bischofswürden in den Kölner Suffraganbistümern unterstützte (S. 268). Schnack betont dabei die kaum entwirrbare Rollenpluralität von Erzbischöfen als hochrangigen Geistlichen, Reichsfürsten und Landesherrn. „Die Politik dieser Kleriker war nie ausschließlich auf das jeweilige Bistum und speziell die geistliche Seite ihrer jeweiligen Würde ausgerichtet, sondern musste zwangsläufig die Hochstifte und die damit verbundenen weltlichen Herrschaftsfragen, zu denen nicht zuletzt die Konkurrenz mit anderen Adelsfamilien und generell die Beziehungen zur eigenen benachbarten Dynastie gehörten, einbeziehen“ (S. 283).

Die Aufsätze dieses Bandes bieten eine multiperspektivische Betrachtung des Rahmenthemas. Man lernt durch ihre Lektüre viel über die Herrschaft der Kölner Erzbischöfe und Kurfürsten sowie darüber hinaus über unterschiedliche Facetten jener geschichtswissenschaftlichen Ansätze, die Herrschaft als soziale Praxis und kommunikativen Aushandlungsprozess verstehen. Die herrschaftsrelevante Bedeutung von Räumen und Orten (Groten) kommt dabei ebenso zur Sprache wie Freundschaft und Feindschaft, Konfliktregelungen, verbale und symbolische Kommunikation (Garnier) oder überholte und moderne Vorstellungen von Staatlichkeit (Rohrschneider). Die aus der Pluralität ihrer Funktionen erwachsene Spannung zwischen den unterschiedlichen Rollenkonzepten und -erwartungen sowie den Anforderungen der Herrschaftspraxis wird in mehreren Aufsätzen deutlich herausgearbeitet (Plassmann, Stieldorf, Gallion und Schnack).

Dass ein Tagungsband zu diesem weiten Themenfeld keine systematische Aufarbeitung bieten kann, versteht sich von selbst. Das vorliegende Werk bietet allerdings reichlich Anregungen und Bausteine für eine neue – nach Epochen und deren jeweiligem politischen wie gesellschaftlichen Gefüge differenzierende – Darstellung der erzbischöflichen Herrschaft als Aushandlungsprozess. Zu bedauern ist lediglich, dass vergleichsweise viel von der Herrschaftspraxis, aber nur wenig von den Herrschaftsnormen die Rede ist. Sie bedürfen nach wie vor einer systematischen Untersuchung.