S. Chronopoulos u.a. (Hrsg.): Digitale Altertumswissenschaften

Cover
Titel
Digitale Altertumswissenschaften. Thesen und Debatten zu Methoden und Anwendungen


Herausgeber
Chronopoulos, Stylianos; Maier, Felix K.; Novokhatko, Anna
Erschienen
Heidelberg 2020: Propylaeum
Anzahl Seiten
240 S.
Preis
€ 41,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Isabella Walser-Bürgler, Ludwig Boltzmann Institut für Neulateinische Studien, Innsbruck

Bereits Ende der 1990er-Jahre hielt man selbst in nicht-wissenschaftlichen Kreisen anerkennend fest, dass gerade die Altphilologie sich des zunehmend an Bedeutung gewinnenden Mediums des Internets bediente, um Textkorpora langfristig digital zu speichern und der Welt zugänglich zu machen.1 Dass sich die Altertumswissenschaften knapp ein Vierteljahrhundert später nach wie vor in Sachen Digital Turn nicht zu verstecken brauchen, beweist nicht zuletzt der vorliegende Band. Die wachsende Erstellungs- und Benutzerfreundlichkeit von digitalen Tools gibt Philolog:innen und Althistoriker:innen stets neue Möglichkeiten an die Hand, die antiken Sprachen, die antike Literatur und antike historische Kontexte zu erschließen und zu vermitteln.

Genau hier knüpft der vorliegende Band an, der nicht nur die Errungenschaften, Problemfelder und Herausforderungen der digitalen Altertumswissenschaften kritisch reflektiert, sondern auch einzelne aus der Digitalisierung hervorgegangene Forschungsmethoden vorstellt und konkrete digitale Projekte in den Fokus rückt. Neben der Diskussion der Frage, wie sich die Digitalisierung auf den traditionellen philologischen und hermeneutischen Ansatz auswirkt, wird überzeugend argumentiert, warum die digitale Arbeit im Fall der Altertumswissenschaften nicht auf technologisch spezialisierte Forschungsgruppen ausgelagert werden muss, sondern wie man innerhalb der Altertumswissenschaften produktiv mit digitalen Tools umgehen kann.

Der erste von insgesamt drei Teilen des Bandes („Ein digital turn in den Altertumswissenschaften? Grundlegende Überlegungen“; S. 15–54) widmet sich in drei Beiträgen ganz allgemein der Digitalisierung in den Bereichen Klassische Philologie und Alte Geschichte. Die Beiträge richten sich dabei v.a. an jene, die mit den Digital Humanities noch wenig vertraut sind bzw. sich damit noch kaum beschäftigt haben. Wiewohl zumindest im Beitrag von Charlotte Schubert ein durch die Digital Humanities ausgelöster Paradigmenwechsel im positiven Sinn konstatiert wird, ist die zurückhaltende und z.T. sogar ablehnende Haltung gegenüber den Errungenschaften und Möglichkeiten der Digital Humanities für Altertumswissenschaftler:innen in den Beiträgen von S. Douglas Olson und Samuel J. Huskey auffällig präsent. Olson stellt besonders die Nützlichkeit und den Erkenntnisgewinn von digitalen textkritischen Editionen im Vergleich zu den traditionellen „analogen“ Editionen in Frage. Experimentelle Herangehensweisen, kaum anders geartete Ergebnisse und hohe Investitionskosten würden ihm zufolge letztlich nicht die analogen, sondern die digitalen Editionen redundant machen. Huskey pflichtet ihm grundsätzlich bei, was die rein philologische Arbeit betrifft, spricht sich mit Verweis auf die digitale Entwicklung von Datenmodellen und Visualisierungen aber dennoch auch klar für die digitale Herangehensweise aus. Was alle drei Beiträge eint, ist die Forderung nach gemeinsamen Handlungsräumen, innerhalb derer sich die wissenschaftlichen Akteure auf verbindliche Zielsetzungen, Methoden und Qualitätskriterien für die digitale Auseinandersetzung mit antiken Texten einigen.

Der zweite und umfangreichste Teil („Zwei neue alte Gattungen: praefationes und Rezensionen zu digitalen Editionen“; S. 55–144) wendet sich der digitalen Edition zu und stellt anhand von drei Fallbeispielen deren Vor- und Nachteile heraus. Es handelt sich dabei um Franz Fischers kritische Online-Edition zu Wilhelm von Auxerres Summa de officiis ecclesiasticis, Dániel Kiss' Catullus Online, die digitale kritische Edition der Gedichte Catulls, und Donald Mastronardes digitaler Ausgabe der Scholien zu den Tragödien von Euripides, ein Open Access-Archiv der antiken und mittelalterlichen Anmerkungen in den erhaltenen Papyri und Handschriften. Das Format, das für die Vorstellung und kritische Bewertung der drei digitalen Editionen gewählt wurde, ist für den Leser ebenso informativ wie unterhaltsam. Es ahmt das für die Beschäftigung mit antiken Texten traditionelle Medium der Herausgeber-praefatio einerseits und der literaturwissenschaftlichen Rezension durch Fachkollegen andererseits nach. Während Fischer, Kiss und Mastronarde ihre Beiträge jeweils wie eine praefatio gestalten und darin über die wesentlichen Details zu den Autoren, den Texten, den Überlieferungssituationen und den editorischen Leitprinzipien aufklären, fungieren ausgewählte Fachkollegen als Rezensenten der von ihnen angefertigten digitalen Editionen. Dieser evaluierende Zugang verfolgt den Zweck, bestimmte Kriterien herauszustellen, die für zukünftige Besprechungen von digitalen Editionen als verbindlich gelten sollten (dazu zählen etwa die allgemeine Zugänglichkeit bzw. Übersichtlichkeit der Edition auch für ein fachfremdes Publikum, die visuelle Aufbereitung der Originalhandschriften oder die „programming infrastructure“ von Daten wie Stemmata, Marginalia, Apparaten oder Konjekturen). Besondere Beachtung findet dabei Fischers mittellateinische Edition, die von gleich zwei Rezensionen begleitet wird – einer von Leonardo Costantini, der v.a. die Vorteile des XML-Coding im Umgang mit dem lateinischen Text betont, und einer von S. Douglas Olson, der v. a. die generelle Anlage des kritischen Apparates in den Blick nimmt.

Der dritte Teil („Anwendungen von Digitalisierung in den Altertumswissenschaften“; S. 145–206) behandelt schließlich Bereiche der Digital Humanities, die oft nicht unbedingt in Überlegungen zu diesen Platz finden und daher innerhalb dieses Bandes als umso wertvoller gelten dürfen: Analyseprozesse und Interpretationsmethoden von Daten in der althistorischen Auseinandersetzung mit Texten, die Anwendung digitaler Tools im altertumswissenschaftlichen Unterricht sowie Fragen zur Prestigeträchtigkeit, zum Adressatenspektrum, zur Erreichbarkeit und Nachhaltigkeit digitaler Publikationen in der geisteswissenschaftlichen Welt. Dabei ragt der Beitrag von Andrea Beyer und Konstantin Schulz heraus, der die Möglichkeiten der Digital Humanities im altsprachlichen Unterricht an den Schulen und Universitäten diskutiert. Im Mittelpunkt der Ausführungen steht das von den Beiträgern entwickelte Tool CALLIDUS (Computer-Aided Language Learning: Lexikonerwerb im Lateinunterricht durch korpusgestützte Methoden), das über eine linguistisch ausgerichtete Software verfügt und auf korpusbasierte Wortschatzarbeit ausgerichtet ist. Der Einsatz des Tools zielt darauf ab, die Grundlagen der lateinischen Sprache effizienter zu vermitteln, um Schüler:innen und Studierenden dadurch zu einer schnelleren Spezialisierung innerhalb der altertumswissenschaftlichen Disziplinen zu verhelfen.

Alles in allem kann der Band natürlich nicht sämtliche Aspekte der Digital Humanities abdecken. So bleiben etwa Medien wie dingliche Quellen (Vasen, Münzen, Monumentalarchitektur) ebenso unberücksichtigt wie die mittlerweile überaus populäre Technik der digitalen Texterkennung (OCR). Allerdings ließe sich ein Anspruch auf Vollständigkeit aufgrund der Weitläufigkeit digitaler Arbeitsprozesse auch gar nicht ernsthaft in einem einzigen Band erfüllen. Die eigentliche Leistung des Bandes liegt daher im überzeugenden Abstecken von Problemfeldern bei der Auseinandersetzung mit antiken Texten. Besonders gelungen ist dabei das Hervorheben der aus wissenschaftlicher Sicht fruchtbaren Verbindung und gegenseitigen Ergänzung von analogen und digitalen Verfahren, anstatt diese nur – wie es häufig geschieht – antagonistisch zu positionieren.

Anmerkung:
1 Johannes Saltzwedel, Vom Olymp ins Netz, in: Der Spiegel, 20.04.1997, https://www.spiegel.de/kultur/vom-olymp-ins-netz-a-dde4b956-0002-0001-0000-000008701102 (07.08.2021).

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension