H. Martini: Dokumentarfilm-Festival Leipzig

Cover
Titel
Dokumentarfilm-Festival Leipzig. Filme und Politik im Blick und Gegenblick


Autor(en)
Martini, Heidi
Erschienen
Berlin 2007: DEFA-Stiftung
Anzahl Seiten
686 S.
Preis
€ 12,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Günter Agde, Berlin

Viele Facetten des Filmlebens der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) sind mittlerweile gründlich ausgeleuchtet. Da verwundert es einigermaßen, dass eine wissenschaftliche Untersuchung des über 50 Jahre bestehenden Leipziger Dokumentar- und Kurzfilmfestivals erst jetzt erscheint – wenn man von materialreichen, faktengesättigten Textsammlungen absieht, die von Insidern des Festivals herausgegeben wurden.1 Der Rohstoff für die Arbeit, die 2007 als Dissertation von Irmgard Wilharm in Hannover angenommen wurde, ist enorm: über 50 Jahre hin jedes Jahr ein einwöchiges Filmfestival (nebst opulenten Katalogen), bestückt mit zahlreichen frisch produzierten Dokumentarfilmen, besucht von vielen Filmemachern und einem großen Publikum. Die Autorin befand sich in einer komfortablen Situation: Sie fand eine ausgezeichnete Quellenlage, da die meisten relevanten Dokumente erhalten sind, und sie konnte reiches Zeitzeugen-Material hinzuziehen.

Das Leipziger Dokumentarfilmfestival wurde 1955 mitten im Kalten Krieg begründet, noch als deutsch-deutsches Treffen zum fachlichen Austausch via Film gedacht, und um die Hoffnung nicht aufzugeben, dass es doch eine einheitliche deutsche Kultur geben möge. Ganz offenbar waren jedoch die zeitgebundenen Illusionen der Filmemacher in Ost und West größer als die verborgenen Strategien der Politiker. Das Leipziger Festival sollte die damalige, griffige Agit-Formel „Deutsche an einen Tisch!“ in Filmprogramm und Festivalalltag realisieren. Hier trafen über fünf Jahrzehnte internationale und deutsch-deutsche Dokumentarfilmentwicklungen aufeinander, hinzu kamen die direkten Begegnungen der deutsch-deutschen Dokumentarfilmer untereinander und mit internationalen Fach-Koryphäen und deren Filmen. „Die Größen der Welt!“, schwärmt Jürgen Böttcher noch heute, einer der eigenwilligsten DDR-Filmemacher (S. 218). Dieses gärende, brodelnde Amalgam wirkte wie ein flexibles Scharnier weltweiter Dokumentarfilm-Kraftströme und präsentierte einen gewaltigen Fluss an Bildern, Emotionen, Stellungnahmen, Blickwinkeln, an Temperamenten sowie den dazugehörigen Debatten.

Natürlich wurde das Festival von den DDR-Oberen politisch instrumentalisiert, weil diese schnell erkannt hatten, dass eine solch attraktive und auch extravagante Plattform internationalen Austausches zugunsten des DDR-Ansehens wirken könne. So wurde das Festival über die Zeit begleitet und mehr noch beeinflusst von den diversen politisch-strategischen Ambitionen der DDR und dem bekannten historischen Auf und Ab der wechselnden politischen Strategien, eingeschlossen die ebenso wechselnden Abhängigkeiten der DDR zur Sowjetunion, der DDR-Filmadministratoren zu denen in Moskau. Das beschreibt Martini treffend mit dem nötigen Hintergrundmaterial und einem historisierenden Zugriff. Sie fügt damit nicht zuletzt der mittlerweile reichen zeithistorischen Ausleuchtung der Verhältnisse zwischen der Bundesrepublik und der DDR eine weitere schillernde Facette hinzu.

Martini stellt – im flotten Durchgang durch die Jahre – die diversen Programmstrategien und Präsentationstechnologien, die Einladungspolitik des Festivals, die propagandistischen Aufwendungen, die Disziplinierungsmechanismen und die skurrilen Abseitigkeiten in ihren jeweiligen Metamorphosen dar. Das ist informativ, in Teilen spannend, und man kann sich durchaus ein annähernd treffendes, kursorisches Bild des Festivals machen. Bedauerlich ist nur, dass sie es sich entgehen lässt, die Hintergründe und Innenarchitektur der Trade Shows zu schildern, einer enorm beliebten, pragmatischen Festival-Erfindung, die es erlaubte, im Abseits Filme zu zeigen, die „neben“ allen Festivalinstrumentarien lagen, und die eine exquisite Form des Subversiven darstellte.

Jenseits dessen müssen zwei erhebliche Einwände gemacht werden. Zum einen schreibt Martini wortselig und anstrengend ausführlich. Da referiert sie auf knapp 20 Seiten kommentar- und kritiklos unter der irreführenden Überschrift „Forschungsstand“ lediglich die allgemeine Filmliteratur der letzten Jahre (S. 45 ff.). Da schreibt sie unter dem Titel „Eigensinn eines Genres“ einen schier endlosen Exkurs über den Dokumentarfilm „als solchen“, ohne dass ein sinnfälliger Zusammenhang zu dem Festival erkennbar oder begründet wird (S. 62 ff.). Da erläutert sie treffend das Einwirken der Stasi auf das Festival, lässt sich aber zu einem sehr langen, sehr allgemeinen und überflüssigen Exkurs über die Stasi als Herrschaftsinstrument der DDR inklusive der Genesis der Behörde der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) hinreißen, offenbar ihr Tribut an die immer wieder anzutreffende Mode, eine DDR- Erscheinung zuerst durch die Brille der Stasi darzustellen. Im VI. Kapitel „Instrumentalisierungen des Leipziger Festivals“ (S. 425 ff.) rekapituliert sie alles bis dahin Gesagte – ohne jeden sachlichen Gewinn einer neuen Erkenntnis, nur eben wortreich. So mäandert sie sich durch die Jahrzehnte. Ein energischer Lektor hätte den gesamten Text gründlich ausdünnen und die endlosen Wiederholungen und verbalen Schnörkel ausmerzen müssen. Ein erheblicher Teil der 659 Textseiten hätte sich so einsparen lassen. Ich akzeptiere Martinis detailreiche Darstellung als Mühe um die Kontextualisierung des Festivals, das allemal ein durch und durch politisches Festival war. Jedoch ist diese Ausführlichkeit nebst Wiederholungen nicht akzeptabel, weil sie zu oft nicht die nötige wissenschaftliche Genauigkeit leistet. Wortreichtum garantiert noch keine Präzision. Der übergewaltigen Text-Massivität entspricht leider auch ein ungeschicktes Layout: Die zahlreichen, ebenfalls redundanten Fußnoten sind in einer äußerst niedrigen Schriftgröße gesetzt, und zwischen ihnen bleibt viel störender Platz.

Mein zweiter Einwand betrifft das Fehlen der Filme, dem Kern eines jeden Filmfestivals. Die Filme, die in Leipzig gezeigt wurden, spiegelten nicht nur die politischen Adaptionsbemühungen der Partei-Oberen beziehungsweise die jeweiligen Gegenpositionen wieder, sondern sie gaben zugleich auf einer sinnlichen Ebene Auskünfte über weltweite Veränderungen in den Bilderwelten des Dokumentarfilms bis hin zu neuen Montagetechniken, zu neuen Aufnahmemöglichkeiten und ähnlichem. So leiteten etwa die Filme des Cinéma Vérité auf dem Leipziger Festival explosionsartig einen Blickwechsel in den östlichen Kinematographien ein. Auch die filmspezifischen Rückgriffe der einzelnen nationalen Dokumentarfilmsparten auf die internationalen Entwicklungen des Dokumentarfilms als komplizierte, wechselseitig fruchtbare Kommunikation, als ein osmotischer Prozess von Bildern mit Langzeitwirkung, kommen in der Arbeit nicht vor. Die enorme politische und ästhetische Bilder-Sprengkraft der Filme des Kubaners Santiago Alvarez etwa für die internationale Dokumentarfilmentwicklung und für das Festival erkennt und beschreibt sie ebenso wenig 2 wie die für die filmische Auseinandersetzung mit dem Faschismus Maßstäbe setzenden Filme des polnischen Dokumentarfilmregisseurs Jerzy Bossak. Und der „Fall“ Joris Ivens ist für sie nur ein politisch-strategisches „Vorkommnis“, keine tieferreichende ästhetische, filmische und erst dann auch eine politische Auseinandersetzung um eine Jahrhundertfigur des Dokumentarfilms, die verheerende Folgen hatte.

Die Geringschätzung der Filme wird auch in Martinis Auslassungen über die Retrospektiven deutlich, die das Staatliche Filmarchiv der DDR, dann das Bundesarchiv/Filmarchiv ausrichtete, die alljährlich das Leipziger Festival flankierten und die oft zu „geheimen“ Attraktionen avancierten. Diese Retrospektiven insistierten unaufgeregt und sehr nachhaltig – und eben durch Filme! –, dass es eine reiche, ehrenvolle und filmisch überaus ergiebige Tradition der Welt-Dokumentarfilmkunst gab und gibt.3 Zugegebenermaßen gehört es zum Schwierigsten in der Filmliteratur, Filme in ihren optischen und medialen Besonderheiten so zu beschreiben, dass sie die filmwissenschaftliche Forschung wirklich stützen und deren Ergebnisse beweisen, aber es ist unumgänglich.

Den Abschluss ihrer Arbeit widmet Martini den Änderungen des Festivals nach dem Ende der DDR und den verschieden erfolgreichen, mittlerweile zwanzigjährigen Bemühungen, das Festival so zu modulieren, dass es einen Wert für eine zutiefst veränderte Welt – auch des Dokumentarfilms – wahrnehmen kann (S. 447 ff.) Das freilich ist ein sehr anderes, nicht weniger interessantes und spannendes Kapitel. Es gerät jedoch in der Darstellungsweise Martinis derart kursorisch, dass man meinen könnte, sie habe es wegen des bevorstehenden 50. Jahrestages des Festivals schnell heruntergeschrieben. Dabei wären diese Jahre eine eigene Untersuchung wert.

Anmerkungen:
1 Vgl. Leipziger DOK-Filmwochen GmbH (Hrsg.), Weiße Taube auf dunklem Grund. 40 Jahre Internationales Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm, Berlin 1997 und Dies., Bilder einer gespaltenen Welt. 50 Jahre Dokumentar- und Animationsfilmfestival Leipzig, Red. Ralf Schenk, Berlin 2007.
2 Das leistete bereits vor zehn Jahren: Amir Labaki, Santiago Alvarez, Zur Ästhetik seiner Filme, in: Fred Gehler / Rüdiger Steinmetz, Dialog mit einem Mythos, Ästhetische und politische Entwicklungen des Leipziger Dokumentarfilm-Festivals in vier Jahrzehnten, Leipzig 1998, S. 51 ff.
3 Hier schreibt die Autorin auch ohne Kennzeichnung schlicht von anderen ab, so von dem langjährigen Direktor des Staatlichen Filmarchivs der DDR Wolfgang Klaue, der die Retrospektiven zu DDR-Zeiten verantwortete: vgl. Martini S. 370 und Wolfgang Klaue, Retrospektiven in Leipzig, Der Dokumentarfilm und seine Geschichte, in: Gehler / Steinmetz, Dialog mit einem Mythos, S. 28.

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