Cover
Titel
Stalin's Wars. From World War to Cold War, 1939-1953


Autor(en)
Roberts, Geoffrey
Erschienen
Anzahl Seiten
496 S.
Preis
$ 38.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tanja Penter, Institut für soziale Bewegungen, Ruhr-Universität Bochum

Provokante Thesen von Historikern werden zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich wahrgenommen und sind zumeist durchaus förderlich, um die gebührende Aufmerksamkeit für ein Buch in der Fachwelt sicherzustellen. Das Hauptanliegen von Roberts’ Buch ist es, Stalins Rolle im Zweiten Weltkrieg und im nachfolgenden Kalten Krieg neu und differenzierter zu betrachten und dabei sowohl westliche Polemiken aus der Zeit des Kalten Kriegs als auch die sowjetischen Entstalinisierungs-Diskurse kritisch zu hinterfragen. Es mag allerdings fast kurios anmuten, dass Geoffrey Roberts Versuch, die positiven Seiten des Diktators Stalin zu beleuchten, einhergeht mit Ansätzen eines neu auflebenden Stalin-Kultes in Russland selbst.

Geoffrey Roberts, der bereits durch mehrere Studien zur sowjetischen Diplomatie- und Militärgeschichte ausgewiesen ist und am University College Cork in Irland lehrt, hat mit seinem jüngsten Buch eine umfangreich recherchierte Studie vorgelegt, in der er Archivdokumente aus russischen, US-amerikanischen und britischen Archiven, sowjetische Zeitungen und Zeitschriften, Quelleneditionen, Memoiren und Tagebücher sowie die einschlägige russisch- und englischsprachige Forschungsliteratur auswertet. Vor allem besteht Roberts Leistung darin, viele der in den letzten Jahren in russischer Sprache erschienenen Quelleneditionen dem englischsprachigen Publikum zugänglich gemacht zu haben.

Das Buch besitzt einen chronologischen Aufbau und untergliedert sich in dreizehn Kapitel, einschließlich Einleitung und Fazit. Dabei liegt der inhaltliche Schwerpunkt auf den Kriegsjahren, während die Nachkriegszeit und der beginnende Kalte Krieg deutlich knapper und weniger detailliert dargestellt werden. Das Buch ist leserfreundlich angelegt und verfügt neben einer Chronik der wichtigsten Ereignisse über zahlreiche militärgeschichtliche Karten zu Frontverläufen und Kampfhandlungen, einen Bildteil mit 23 Fotos, einen umfangreichen Anmerkungsapparat, eine Auswahlbibliografie und einen Index.

Minutiös rekonstruiert Roberts auf der Grundlage von Archivdokumenten, Stalins Dienstkalender sowie den Memoiren und Tagebüchern seiner Vertrauten die letzten Wochen vor und die ersten Wochen nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion. Warum befahl Stalin angesichts der wachsenden Wahrscheinlichkeit eines deutschen Angriffs keine vollständige Mobilisierung aller sowjetischen Militärkräfte? Wurde Stalin von Hitlers Angriff tatsächlich überrascht? Laut Roberts versuchte Stalin mit allen Mitteln den Frieden zu bewahren und den Krieg hinauszuzögern. Stalin fürchtete einen deutschen Angriff nicht und er wurde durch dessen Eintreten auch nicht überrascht und in tiefe Depression versetzt, wie Chruschtschow in seiner Geheimrede auf dem XX. Parteitag 1956 behauptet hatte. Wie sein Dienstkalender belegt, führte Stalin sofort nach dem Angriff wichtige Gespräche und traf Entscheidungen zur Verteidigung des Landes. Für die verfehlte Offensivtaktik, die in den ersten Monaten nach dem deutschen Angriff zu katastrophalen Niederlagen auf Seiten der Roten Armee führte, war nicht nur Stalin, sondern gleichermaßen das gesamte militärische Oberkommando mitverantwortlich (S.80). Roberts portraitiert Stalin als klugen Strategen, der aus seinen Fehlern lernte und auf den professionellen Rat seiner Generäle hörte, die bei Roberts als „Mitarchitekten des Sieges“ eine verstärkte Aufmerksamkeit erfahren. Den eigentlichen Schlüsselfaktor für den sowjetischen Sieg sieht Roberts jedoch in der Person Stalins selbst: „Without him the efforts of the party, the people, the armed forces and their generals would have been considerably less effective. He was a great war leader not because he had won but because he had done so much to achieve victory” (S. 373).

Bei seinen Interpretationen zum Denken und Handeln Stalins stützt sich Roberts häufig auf dessen eigene veröffentlichte und nicht veröffentlichte Äußerungen – er nimmt den Diktator quasi beim Wort, was an vielen Stellen kritisch zu hinterfragen wäre. Daneben beruft sich Roberts auf die Erinnerungen von Stalins Vertrauten. Vor allem die Tagebücher des Komintern-Führers Georgi Dimitrow stellen für Roberts eine zentrale Quelle für Stalins Denken und Handeln in den Kriegsjahren dar. Daneben zieht er seine Schlussfolgerungen aber auch häufig aus den noch zu Sowjetzeiten veröffentlichten Erinnerungen der Generäle Wasilewski und Schukow. Roberts stellt zwar in der Einleitung selbst fest, dass diese Memoiren angesichts der persönlichen Nähe der Verfasser zu Stalin ein außerordentlich positives Bild von Stalins Fähigkeiten als Feldherr zeichnen. Dennoch werden die Aussagen der Generäle in der Untersuchung an vielen Stellen als Belege angeführt. Sogar Hitlers wertschätzendes Urteil über Stalin führt Roberts an einer Stelle als Beleg für dessen geniale Fähigkeiten an (S. 373).

An vielen Stellen im Buch finden der Terror und die Säuberungen, die Deportationen ganzer Völker, die gewaltsame Besatzungspolitik in Polen und im Baltikum und auch die Expansion des stalinistischen Terrors nach Ostmitteleuropa Erwähnung. Sie werden jedoch als Randerscheinungen behandelt, die mit dem eigentlichen Thema der Abhandlung – Stalins Leistungen als Kriegsherr und Diplomat – nichts zu tun haben. Die Ermordung von 20.000 polnischen Offizieren im Frühjahr 1940 in Katyń (sowie an weiteren Orten in Russland, Belarus und der Ukraine) soll Stalin, laut Roberts, angesichts der nachfolgenden außenpolitischen Komplikationen sogar „bitterlich bedauert“ haben (S. 171). Die unmittelbare Beteiligung Stalins an dem Todesbefehl, die inzwischen durch mehrere Quelleneditionen belegt ist, stellt Roberts noch in Frage. Über den Tod des jüdischen Schauspielers und Vorsitzenden des Jüdischen Antifaschistischen Komitess Solomon Michoels, der nachweislich 1948 auf Stalins Befehl ermordet wurde, schreibt Roberts, dass er „möglicherweise durch die Hand der sowjetischen Sicherheitskräfte“ umkam (S. 338). Zudem scheint Roberts dem generellen Irrglauben aufzusitzen, dass der Terror in den Kriegsjahren aufhörte und erst in den Nachkriegsjahren erneut zurückkehrte, obwohl Forschungsarbeiten dies seit langem widerlegen.1

Die Motivation für Stalins Handeln sieht Roberts in der Ideologie. Aus Stalins eigenen Äußerungen zieht er den Schluss, dass Stalin im Hinblick auf seine Terrormaßnahmen selbst davon überzeugt war, einen notwendigen Kampf gegen die kapitalistische Unterwanderung des Sowjetsystems auszutragen (S.17-18). Stalin erlag der Versuchung, seiner eigenen Propaganda zu glauben (S. 321). Fast könnte man den Eindruck gewinnen, als sei der stalinistische Terror zum Zwecke des Siegs über NS-Deutschland sogar unvermeidlich gewesen, beispielsweise wenn Roberts schreibt: “His [Stalin’s] path to victory was terrible but perhaps unavoidable. He had created a repressive and terroristic system that massacred millions, but maybe it was the only system that could have won the titanic struggle against Hitler” (S. 29).

Methodisch anregend ist Roberts Ansatz, den Zweiten Weltkrieg und den beginnenden „Kalten Krieg“ – zwei Felder, die von der Forschung häufig getrennt bearbeitet werden - als Kontinuum zu betrachten. Im Hinblick auf die Nachkriegsverhandlungen vertritt er die Ansicht, dass Stalin die Allianz mit Großbritannien und den USA fortsetzen wollte (auch um mögliche künftige Bedrohungen durch Deutschland und Japan abzuwenden), zugleich aber nicht bereit war, einen Rückgang des sowjetischen Einflusses in Osteuropa zu akzeptieren. Im Kalten Krieg ging Stalin offensiv vor, weil er nicht nur die sowjetischen Interessen vertreten wollte, sondern dem Westen auch eine politische und ideologische Niederlage zufügen wollte (S. 320). Gleichzeitig suchte Stalin, so Roberts, aber weiterhin nach einem modus vivendi mit dem Westen, der einen dauerhaften Frieden begründen sollte (S. 346). In den Kapiteln zur Nachkriegsgeschichte zeichnet Roberts in vielen Punkten die Widersprüchlichkeit von Stalins Außenpolitik nach.

Im Hinblick auf die Innenpolitik schließt sich Roberts der von Gorlizki und Khlevniuk vorgebrachten These an, dass das „Tauwetter“ und die „Ent-Stalinisierung“ bereits in den letzten Lebensjahren Stalins einsetzten.2 Ob sich aus Stalins überlieferten Aussagen jedoch, wie es Roberts tut, schlussfolgern lässt, dass Stalin bereit war, die universelle Gültigkeit des sowjetischen Modells grundlegend zu überdenken (S. 249), darf wohl angezweifelt werden.

Auch Frauen tauchen in Roberts Darstellung an einer Stelle auf, was in diplomatiegeschichtlichen Darstellungen zum Zweiten Weltkrieg eher die Ausnahme ist – als Opfer der Vergewaltigungen durch die Rote Armee. Hunderttausende von Frauen, vor allem in Berlin, aber auch in Wien, in Ungarn, Rumänien und Bulgarien, im befreiten Polen, Jugoslawien und in der Tschechoslowakei waren Vergewaltigungen durch sowjetische Soldaten zum Opfer gefallen – eine Tatsache, mit der sich die Forschung erst in jüngster Zeit eingehender befasst, die die Bewunderung der Zeitgenossen für die Angehörigen der Roten Armee laut Roberts allerdings kaum schmälerte: „While appalling, the contemporary public and political impact of the Red Army rapes should not be exaggerated“ (S. 265).

Insgesamt ist die Untersuchung von Geoffrey Roberts sicher geeignet, Liebhabern der klassischen Diplomatie- und Militärgeschichte eine gut geschriebene und anregende Lektüre zu bescheren, die nicht zuletzt zeigt, wie unterschiedlich sich in der Geschichtsforschung die gleichen Ereignisse und historischen Zeugnisse interpretieren lassen. Zudem verdeutlicht Roberts Buch dem Leser erneut die Verschiedenheit der wissenschaftlichen Diskussionskulturen im deutschen und im anglo-amerikanischem Raum. So zeigt die bisherige Rezeption von Roberts Buch auch, dass eine mutige These, die die wissenschaftliche community in Aufruhr versetzt und zu Diskussionen anregt, in der englischsprachigen Wissenschaft möglicherweise eher als Leistung per se gewürdigt wird. Selbst dann, wenn die Belege unzureichend und angreifbar sind und sich handwerkliche Fehler häufen.

Anmerkungen:
1 Vgl. z. B. Edwin Bacon, The Gulag at War: Stalin’s Forced Labour System in the Light of the Archives, New York 1994.
2 Vgl. Yoram Gorlizki/ Oleg Khlevniuk, Cold Peace: Stalin and the Soviet Ruling Circle, 1945-1953, Oxford 2004.

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