T. Cheung: Agentenmodelle organischer Ordnung 1600-1800

Cover
Titel
Res vivens. Agentenmodelle organischer Ordnung 1600-1800


Autor(en)
Cheung, Tobias
Reihe
Berliner Kulturwissenschaft, Bd. 8
Erschienen
Freiburg im Breisgau 2008: Rombach
Anzahl Seiten
317 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Astrid Schwarz, Institut für Philosophie, Technische Universität Darmstadt

Dieses Buch ist eine Fundgrube sorgfältig entwickelter Fallstudien und detaillierter punktueller Begriffsstudien. Behandelt wird darin die frühneuzeitliche Diskussion biologischer Probleme, die Beschäftigung mit dem Lebendigen in Wissenschaft, Technik und Kunst, welche längst keine so intensive Aufarbeitung erfahren hat wie die des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Konzeptualisierung des Lebens im 17. und 18. Jahrhundert findet gleichzeitig in verschiedenen naturhistorischen Kulturen statt. Cheung schlägt vor, dieser komplexen Situation durch die Ausarbeitung eines weiteren ontologischen Grundbegriffs gerecht zu werden: Zu den kartesischen dualistischen Prinzipien der res cogitans (geistiges Ding/Geist) und der res extensa (physisches Ding/Natur) tritt als Drittes die res vivens hinzu, das Prinzip des Lebens. Cheung setzt mit seiner Untersuchung „sowohl auf Transformationen längerer Zeiträume als auch auf die Frage nach der Verwissenschaftlichung der Kategorie des Lebens“ (S. 13). Beides wird vorgeführt, ohne jemals bloß schematisch zu wirken, im Gegenteil sieht sich der/die Leser/in von Kapitel eins bis acht in ein Konvolut an gründlich bearbeitetem (häufig auch übersetztem) und originell ausgewähltem Quellenmaterial verstrickt. Den Materialreichtum dieser Studie verdeutlicht nicht allein das löblich ausführliche Glossar und Personenregister, er zeigt sich formal auch in einem mächtigen Literaturverzeichnis, aufgeteilt in Quellentexte und Forschungsliteratur, das etwa 45 (von 317) Seiten umfasst. Die Stofffülle und ein umfassendes Korpus an Verweisen und Quellenzitaten zeigen sich weiterhin darin, dass die Fußnoten nicht selten den Haupttext auf einer Seite bis auf wenige Zeilen zurückdrängen (etwa S. 26-27, 145-150, 189-194).

Tobias Cheung stellt sich selbst in die Tradition der französischen Epistemologie, „setzt Canguilhems und Foucaults Arbeiten fort, verfolgt jedoch einen anderen Weg der historischen Rekonstruktion“ (S. 13). Der Autor tritt mit dem Anspruch an „Stationen des Weges nachzuzeichnen, die im Rahmen einer historischen Entwicklung zu Ordnungsformen körperlichen Lebens führen, das als res vivens neben res cogitans und res extensa eine eigenständige (in sich fundierte) Existenzform ermöglicht“ (S. 11f.). Die leitende These des Buches ist, dass „zwischen Metaphysik und Wissenschaft Agentenmodelle und regulatorische Theorien zentrale Themen der Geschichte der res vivens sind“ (S. 12). Diese res vivens sei jedoch keineswegs einfach in einem Diskurs über die Ordnung des Lebendigen zu finden, sondern lediglich in Positionen, die sich „auf die Möglichkeit einer res vivens“ bezögen. Nur in diesem Bezugsfeld, in dem sich religiöse, philosophische, naturgeschichtliche, experimentelle und anthropologische Positionen überschneiden und vernetzen, könne die res vivens wirklich werden.

In neun sogenannten Themen und acht Kapiteln – das neunte Kapitel sind die Schlussbetrachtungen – wird auf 240 Seiten dieser schwebenden Existenzform der res vivens nachgespürt. Die neun Themen sind „(1) Tiermaschine und Menschenseele, (2) plastische Natur, (3) Instinkt, (4) Seelenautomat, (5) lebendige Faser, (6) Seelenorganismus, (7) Sensibilität, (8) lebendige Webmaschine und (9) Funktionssystem“ (S. 13). Die acht Kapitel bilden diese Themen ab, benennen sie zum Teil unmittelbar. Kapitel I bleibt im 17. Jahrhundert, es geht um „Tiermaschine und Menschenseele in Digbys ‚Two Treatises’“, Kapitel II beschäftigt sich unter der Überschrift „Kosmologien plastischer Natur“ mit der Gegenposition zu Kenelm Digby, vertreten durch die sogenannten Cambridger Platoniker und ihr Umfeld bzw. ihre Nachfolger (Henry More, Ralph Cudworth, John Ray, Nehemiah Grew). Unter Kapitel III „Instinkt“ erwartet den/die Leser/in eine Diskussion von tierischen Psychologien, Schemata und Systemen von Instinkt und Trieb, von analogen Lebensarten und ihren Existenbedingungen vom 17. bis weit in das 18. Jahrhundert hinein (Juan Huarte, Jourdain Guibelet, Martin de la Chambre Cureau, Herrmann Samuel Reimarus). Die Themen „Seelenautomat“ und „lebendige Faser“ stehen im Mittelpunkt des vierten Kapitels, im Wesentlichen angesiedelt im französischen Sprachraum des 18. Jahrhunderts (David-Renaud Roullier, Francis Glisson), während das fünfte Kapitel mit Ernst Stahls Seelenorganismus die etwa zeitgleiche deutschsprachige Diskussion um Seele und Leib, Leben und Körper detailliert. „Sensibilität“ ist Thema des sechsten Kapitels, es geht um regulative Zentren und ein vitales Prinzip, die in den Dienst genommen werden, um das Lebendige experimentell und begrifflich zu fassen (Théophile Bordeu, Paul-Joseph Barthez). Schließlich werden im siebten und achten Kapitel die Themen „lebendige Webmaschine“ (Charles Bonnet) und „Funktionssystem“ im 18. Jahrhundert behandelt, mit denen der lebendige Körper in ein neuartiges und dynamisches „Plan-Funktions-Struktur-Verhältnis“ (S. 15) gestellt wird: Für Xavier Bichat sind Gewebetypen und Funktionen die Bedingungen der Möglichkeit vitaler Eigenschaften und damit des Lebendigen; für Cuvier bildet der wechselseitige Bezug von Organisationstyp und Existenzweise das Prinzip der Individualität, das ihm wiederum zur Grundlage einer „Wissenschaft organischer Körper“ wird (S. 245). Damit kommt Cheung zum Ende seiner zeitlich und konzeptuell durch die forcierte Verwissenschaftlichung des Lebendigen um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert abgegrenzten Untersuchung.

Was haben wir am Ende dieser „dichten Beschreibung“ gelernt über die „lebenden Dinge“ – res vivens – als dritte Kraft im Spiel mit res cogitans und res extensa? Ganz sicher ist, dass hier ein interessanter Ansatz lanciert und ein Anfang gemacht wurde für ein Forschungsprogramm, dessen Heuristik sich noch lange nicht erschöpfen wird. Auch haben wir gelernt, dass das Motiv „Leben und Tod“, das in Wissenschaft und Philosophie bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts vor allem als eine prekäre Konstellation verhandelt wurde, besser zu verstehen ist, wenn die epistemischen und ontologischen Dispositionen der Aufklärung und frühen Moderne mitgedacht werden. Und dies ist fast unabhängig davon, ob man sich für eine historische Konstruktion von semantischen Kontinuitäten oder von Epochen, Brüchen, Paradigmen oder Forschungsprogrammen entscheidet.

Angesichts der in der Einleitung angekündigten These, dass „Agentenmodelle und regulatorische Theorien zentrale Themen der Geschichte der res vivens“ seien, schleicht sich dann allerspätestens bei den Schlussbetrachtungen der Anflug einer Enttäuschung ein, wenn diese doch gewichtig angekündigten Konzepte so gar nicht analytisch genutzt, ja kaum noch erwähnt werden. Lediglich bei der Beschreibung der „Instinktdebatten“ im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts werden zwei Agentenmodelle in Anschlag gebracht „gegenüber denen die cartesische res cogitans und die res extensa neu verortet werden müssen“ (S. 260). Wie dies genau geschehen könnte, muss sich der/die Leser/in selbst erschließen, wird gleichzeitig aber darauf hingewiesen, dass genau diese Verortung sich durchgängig durch die Moderne ziehe in Form von „triangulären Abgrenzungsbewegungen zwischen denkendem Mensch, sensitivem Tier und Maschine“ (ebd.). In dieser Passage werden dann zwar kursorisch noch einmal die „Themen“ der Kapitel als Evidenz aufgerufen dafür, dass es dieses Dreieck der Bewegungen ist, das die Moderne auszeichnet und in dessen Mitte seit dem 17. Jahrhundert „das Leben selbst oder nach Glisson, die das nackte Leben repräsentierende Pflanze“ (ebd.) stehe. In welchen Agentenmodellen und auf welche Weise die Agentenmodelle das bewegte Dreieck, in dessen Mitte „das Leben“ zu verorten ist, repräsentieren oder gar simulieren, bleibt eher unbestimmt – und so haftet auch der Schlusspassage über „sich selbst regulierende Agenten“ und „lebendige Agenten“ etwas Rätselhaftes an. Begründet liegt dies womöglich auch in der Art und Weise, wie das Konzept eingeführt, erschlossen und dann gebraucht (oder eben genau nicht gebraucht) wird. Ausgehend vom historischen Wortgebrauch des Agentenmodells im Cambridger Neuplatonismus des 17. Jahrhunderts, wird das Agentenmodell auch als analytisches Konzept in Cheungs Untersuchung beansprucht (S. 12). Außer in Kapitel II, in dem es um das „Thema“ der plastischen Naturen und explizit den Cambridger Neuplatonismus geht, wird das Konzept im Durchgang durch die anderen acht Themen und Zeiten – immerhin zwei Jahrhunderte – aber kaum in Gebrauch genommen und bleibt als Sprachspiel entsprechend blass. Um die episodenhaften Kapitel, die sprachlich sehr nahe am Quellenmaterial bleiben, gedanklich besser miteinander verbinden zu können und so die Lektüre noch attraktiver zu machen, wäre ein solcher konzeptueller roter Faden außerordentlich hilfreich. Auch die manchen Lesenden womöglich beliebig erscheinende Auswahl der Quellen, verstärkt noch durch die sehr zurückhaltende historische Kontextualisierung der Befunde, könnte durch eine deutlichere analytische Präsenz des Autors besser überzeugen.

Was dieses Buch ganz ohne Zweifel zu einer interessanten Lektüre von geradezu enzyklopädischem Wert macht, ist die Reichhaltigkeit des Quellenmaterials und die Sorgfalt bei der Bearbeitung der Befunde; vor allem aber auch die Anerkennung der verzweigten Details und die Behutsamkeit in der Interpretation dieser noch kaum erschlossenen Quellen der verborgenen res vivens im 17. und 18. Jahrhundert.

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