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Titel
Semantik der Leere. Grenzfragen der Geschichtswissenschaft


Autor(en)
Hölscher, Lucian
Erschienen
Göttingen 2009: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
259 S., 37 Abb.
Preis
€ 25,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Achim Landwehr, Forschungsschwerpunkt Historische Kulturwissenschaften, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Lucian Hölscher hat für seine Sammlung von Aufsätzen einen Aufmerksamkeit heischenden Titel gewählt – und diese Aufmerksamkeit wird durch die Inhalte belohnt. Wirft der Obertitel „Semantik der Leere“ noch die Frage auf, was damit gemeint sein könnte, da doch die Leere ansonsten nicht zu den bevorzugten Gegenständen der Geschichtswissenschaft gehört, so ist der Untertitel dazu angetan, Erstaunen hervorzurufen: „Grenzfragen der Geschichtswissenschaft“ weckt unweigerlich parawissenschaftliche Assoziationen – und dies wohl nicht unbeabsichtigt. Was Hölscher natürlich nicht interessiert, sind „ungelöste Rätsel der Vergangenheit“, die allabendlich prominent durch Fernsehsendungen historischen Inhalts geistern. Ihm geht es vielmehr um die inneren Grenzen historischer Erkenntnismöglichkeiten, und in diesem Zusammenhang wird auch die im Haupttitel genannte „Leere“ verständlicher. Die Sammlung von Beiträgen, die bis auf eine Ausnahme alle bereits an anderer Stelle erschienen sind (1989–2008), kreist um eben solche Leerstellen, um die räumliche und zeitliche Erschließung der geschichtlichen Welt, das Vergessen, die Zukunft sowie Geschichtsbrüche im 20. Jahrhundert.

Hölschers Grundgedanke zur Konzipierung des Bandes ist durchaus überzeugend, denn durch die Aufmerksamkeit für entsprechende Leerstellen – auf dem Buchumschlag repräsentiert durch eine überdimensionierte Null – können der Geschichtswissenschaft tatsächlich neue Themen eröffnet werden. Da sich Hölscher selbst bereits seit vielen Jahren solcher Gegenstände angenommen hat, kann es kaum ausbleiben, dass nicht alle hier vorgestellten Aspekte in gleicher Weise von neuartiger Brisanz sind. In einigen Fällen handelt es sich um schon etablierte Forschungsfelder, so dass sich im Verlauf der Lektüre der Eindruck einstellt, immer vertrautere Gefilde zu betreten und von Leerstellen in Kenntnis gesetzt zu werden, die möglicherweise gar nicht mehr so leer sind. Aber dies gereicht dem Band nicht zum Nachteil, sondern verdeutlicht eher seinen – auch – dokumentarischen Charakter.

Nähert man sich den einzelnen Themen des Bandes in umgekehrter Reihenfolge, kann man eine Steigerung des Innovationspotenzials nachverfolgen. Hölscher beendet den Band mit einem Abschnitt zu „Geschichtsbrüchen im 20. Jahrhundert“. Darin finden sich einerseits zwei thematisch und zeitlich weit gefasste Essays, die die Zerstörungskraft thematisieren, die Zukunftsentwürfe in diesem Zeitraum entwickelt haben, beziehungsweise sich in ähnlich weit greifender Weise mit dem „Generationenkonflikt in der deutschen Geschichtskultur“ beschäftigen. Andererseits ist hier ein Beitrag nachgedruckt, der mit der „Hermeneutik des Nichtverstehens“ eine wichtige Perspektive für geschichtswissenschaftliches Arbeiten eröffnet. In den Mittelpunkt gerückt werden dadurch nicht nur historische oder kulturelle Differenzen und deren Funktionen, sondern beispielsweise auch moralische Distanznahmen und deren Thematisierung.

Im Zentrum des vorletzten Abschnitts steht ein Thema, zu dessen Etablierung als Forschungsbereich Hölscher selbst – in der Nachfolge Reinhart Kosellecks – wesentlich beigetragen hat, nämlich die historische Zukunftsforschung. Die Leerstelle, die sich hierbei auftut, steckt bereits in der Bezeichnung der Forschungsrichtung selbst, also im Umstand, dass „vergangene Zukunft“ (Koselleck) untersucht werden soll. Hölscher leuchtet diesen Themenbereich in unterschiedlichen Richtungen aus. Neben einem instruktiven Überblick zu den Grundlagen der historischen Zukunftsforschung finden sich empirische Studien zum Zukunftsbegriff bei Hegel (und den Hegelianern unterschiedlicher politischer Couleur), zu den vergangenen Zukunftsvorstellungen in der Sozialdemokratie vor 1933 sowie zu Rudolf Bultmanns Buch „Geschichte und Eschatologie“ aus dem Jahr 1957.

Erinnerung und Vergessen bilden die inhaltliche Klammer des zweiten Teils des Buchs. Diesen Bereich als Leerstelle zu bezeichnen wäre kaum treffend, denn bekanntlich ist die Erinnerung von einer einstigen „Grenzfrage“ der Geschichtswissenschaft längst in deren Zentrum gerückt. Es ist daher auch kein Zufall, dass sich in diesem Teil die ältesten der versammelten Beiträge finden. Den Aufsätzen ist eine deutliche Distanzierung gegenüber der überbordenden Thematisierung von Erinnerung anzumerken. Sei es in Auseinandersetzung mit „Geschichte als ‚Erinnerungskultur’“ oder mit dem Historikerstreit – Hölscher zeigte sich diesem Trend gegenüber frühzeitig reserviert. Einerseits weckt diese Haltung angesichts des „memory booms“ durchaus Sympathie. Andererseits merkt man gerade diesen Beiträgen an, wie schnell so manche aufgeregte geschichtswissenschaftliche Debatte an Brisanz verlieren kann. Hölscher stellte beispielsweise in einem Aufsatz, der im Original 1995 erschien, die besorgte Frage: „Tritt an die Stelle der traditionellen Geschichtswissenschaft eine neue Erinnerungskultur?“ (S. 91) Für Hölscher war damit die Gefahr verbunden, dass durch die Prominenz von „Erinnerung“ die Einheit von Geschichte verloren gehen könnte. Die Themen Erinnerung und Gedächtnis spielen fraglos auch weiterhin eine bedeutende Rolle in der Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit des frühen 21. Jahrhunderts; eine Ersetzung der Geschichtswissenschaft ist jedoch nicht in Sicht.

Das größte Anregungspotenzial für die Thematisierung von Leerstellen hält meines Erachtens der erste Teil des Buches bereit („Die räumliche und zeitliche Erschließung der geschichtlichen Welt“). In dem Beitrag, der auch dem gesamten Band den Titel gab, geht es Hölscher etwa um die semantische Kodierung von leeren Zeiten und Räumen im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Gemeint sind damit diejenigen Raum- und Zeitabschnitte, die zwischen den bedeutungsgeladenen Dingen und Ereignissen vergangener Weltbeschreibungen liegen, die als nicht ausgefüllte Zeit und als wüster Raum von der Geschichtswissenschaft gewissermaßen links liegen gelassen wurden, die aber durch Hölschers Perspektive neue Relevanz gewinnen. Er behandelt einerseits deren Konstituierung, wagt andererseits einen Blick auf Bildräume und soziale Räume in der Kunst und liefert schließlich noch einen theoretischen Beitrag zum Thema der „Einheit der historischen Wirklichkeit“ – ein Aspekt, der ohnehin den gesamten Band hindurch immer wieder aufgegriffen wird.

Gerade anhand dieses zuletzt genannten Beitrags ist es überraschend, dass sich Hölscher trotz aller Versuche, die etablierten Grenzen historischen Arbeitens und Denkens auszudehnen, an eine Grenzüberschreitung nicht herantraut beziehungsweise explizit vor ihr warnt. Er konstatiert zwar immer wieder, dass die historischen Erfahrungen in Vergangenheit und Gegenwart so vielfältig seien, dass man schon längst nicht mehr in naiver Weise von einer Einheit der Geschichte ausgehen könne, wie dies der Historismus getan habe. Trotzdem sieht er eine Gefahr darin, diese Einheit gänzlich aufzugeben – vermutlich vor allem aus politisch-moralischen Gründen, um die Geschichte nicht der Willkür tagespolitischer Interessen auszuliefern. Er betrachtet es als eine Hauptaufgabe gegenwärtiger Geschichtswissenschaft, diesen Spagat zwischen der Pluralität historischer Erfahrungen und der Bewahrung der Einheit historischer Wirklichkeit zu vollführen. Hölschers eigener Lösungsversuch ist bekanntermaßen ein neo-annalistischer: Die Geschichtswissenschaft soll sich an Ereignissen ausrichten, in denen sich divergierende Geschichtsbilder verdichten und einen für alle gemeinsamen historischen Kosmos formen können.1

Dieser Ansatz, die Pluralisierung der einen historischen Wirklichkeit in viele Wirklichkeiten zu verhindern, wirkt aus unterschiedlichen Gründen nicht sehr überzeugend. Erstens erleben wir gegenwärtig, wie in der Auseinandersetzung mit Raum- und inzwischen auch Zeitmodellen Ansätze ausgearbeitet werden, die tatsächlich in Richtung einer Pluralisierung zielen. Aus dem homogenen Raum und der einheitlichen Zeit werden viele Räume und Zeiten herauspräpariert. Zweitens ist es nicht einzusehen, dass und warum sich die Geschichtswissenschaft angesichts der konstruktivistischen und kulturhistorischen Herausforderung nur darauf konzentrieren können soll, entweder zu einer pragmatischen Wissenschaft mit einigen methodischen Minimalstandards zu werden, die vor allem die Gestaltung der Zukunft im Sinn hat, oder sich als passive, die historischen Verläufe begleitende Wissenschaft zu verstehen (S. 76). Denn es gibt mindestens noch eine weitere Reaktionsmöglichkeit: Wenn sich Geschichtswissenschaft als gegenwartsbezogene Disziplin begreift, die eine Archäologie des Heute anstrebt, dann hat sie auf Fragen zu antworten, die uns im Hier und Jetzt umtreiben, die sich aber zugleich nur mit den aktuell etablierten wissenschaftlichen Standards bearbeiten lassen, um nicht ein pauschales und vereinfachendes, sondern ein differenziertes Bild der Geschichte zu liefern.

Gegenstand einer so verstandenen konstruktivistischen Kulturgeschichte wäre unter anderem eine Geschichte von Zeit und Raum, die Hölscher im vorliegenden Band selbst einfordert und die tatsächlich eine Differenzierung entsprechender Modelle erbringen könnte. Doch dieser Punkt deutet bereits an, dass das Buch sowohl geschichtstheoretisch als auch historisch-empirisch sehr anregend für künftige Diskussionen werden kann. Auf die weitere Thematisierung geschichtswissenschaftlicher Leerstellen darf man gespannt sein.

Anmerkung:
1 Lucian Hölscher, Neue Annalistik. Umrisse einer Theorie der Geschichte, Göttingen 2003.