W. Fielitz: Das Stereotyp des Wolhyniendeutschen Umsiedlers

Titel
Das Stereotyp des Wolhyniendeutschen Umsiedlers. Popularisierungen zwischen Sprachinselforschung und nationalsozialistischer Propaganda


Autor(en)
Fielitz, Wilhelm
Reihe
Schriftenreihe der Kommission für deutsche und osteuropäische Volkskunde in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde e.V. 82
Erschienen
Anzahl Seiten
409 S.
Preis
€ 25,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Fahlbusch

In Zeiten politischer Anspannung haben stereotype Vorstellungen Hochkonjunktur: vor Kurzem drängte sich die Notwendigkeit auf, die Welt in „Gut“ und „Böse“ zu unterteilen und damit kulturelle Differenzen durch religiöse Verbrämungen zu vertiefen, wo man politische und soziale oder einfach kriminelle Verhaltensmuster an und für sich meinte.

Dessen ungeachtet befördern nach Adorno („Was ist deutsch“) stereotype Begriffe den „kollektiven Narzismus“. „Auslandsdeutsche“ und „Heimatvertriebene“ sind eine geeignete Plattform, langfristig politische Interessen durchzusetzen. Umso mehr mag man unweigerlich aufhorchen, wenn der Bundeskanzler dieses Thema aus tagespolitischem Gutdünken einmal mehr zur Chefsache erklärt. Die neuerliche Hingabe deutscher Politiker an die Deutschtumslegende tangiert diesmal tschechische und slowakische Interessen direkt. Es geht darum, wie osteuropäisches Unrecht, die Benes-Dekrete, die die Aussiedlung der Deutschen/Österreicher aus der Tschechoslowakei 1945/46 festlegten, aufgehoben werden können. Einer mit deutschen Rechtsansprüchen auf verlorengegangene „Heimat“ verbundenen Zurücknahme dieser Dekrete, darüber sind sich die Beteiligten im klaren, würde unweigerlich zu einer neuerlichen Erosion staatlicher Grenzen zugunsten ethnischer oder präziser wirtschaftlicher Ansprüche führen: sie kämen einer Destabilisierung dieser „jungen“ EU-Beitrittsländer gleich.

Zweifelsohne war bisher das Schicksal der aus den einstigen Siedlungsgebieten jenseits der Reichsgrenzen von 1937 eher ein gesellschaftliches Randthema, obwohl es angesichts der Flut der vom Vertriebenen- und Innenministerium unterstützten Publikationen in der Vergangenheit gefördert wurde. Im Anbetracht des vorangegangenen nazistischen Unrechts und der Greueltaten an Juden und „minderwertigen“ Osteuropäern galt es bisher zumindest in sozialdemokratischen und liberalen Kreisen als taktvoll gegenüber den osteuropäischen Staaten, das Thema der Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa nicht plakativ zu diskutieren. Die Verdrängung und Tabuisierung eines ganzen Abschnittes deutscher Geschichte hat jedoch ein Vakuum erzeugt, das nunmehr eine intelligente Spielart des Rechtsextremismus weidlich ausnutzt, auch zur Rekrutierung von Nachwuchs. Unabhängig von der jeweiligen politischen Notwendigkeit dient der per Grundgesetz abgesicherte Status des Heimatvertriebenen als Mittel zur politischen Instrumentalisierung, billigstenfalls zur Rekrutierung von Wählerstimmen im nahenden Wahlkampf.
Wie solcherart Stereotypen in Deutschland entwickelt wurden, zeigt die Dissertation des Volkskundlers Wilhelm Fielitz. Sie behandelt die Entstehung des Stereotyps des Wolhyniendeutschens in den 1920er bis 40er Jahren. Ziel dieser Arbeit ist es, die Entstehung des Begriffs und die zunehmende propagandistische Ausnutzung einer Menschengruppe nachzuvollziehen. Das Kompositum „wolhyniendeutsch“ gelangte erst in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre in das Arsenal von ns-Kampfbegriffen wie etwa der „Volksdeutsche“ 1936 und ist wie auch „sudetendeutsch“ etc. noch bis heute durchaus gebräuchlich (95f.).

Die von „Volksforschern“ durchgeführten Studien über die „Volksdeutschen“ werden vor dem Hintergrund der Migrationsforschung kontextualisiert. Einleitend entwickelt Fielitz eine soziologische Bewertung des ethnischen Konflikts, der aus der Konkurrenz um Ressourcen als primärer Auslöser entsteht (19-23). Im Gegensatz zu den Baltendeutschen verfügten die Wolhyniendeutschen nicht über eine besondere soziale Stellung, so dass die NS-Umsiedlungsaktion der „Wolhynier“ einem besonderen Siedlungs-Experiment gleichkam (Cultural Engineering).

Fielitz bezieht den Begriff des Stereotyps in die Kulturpropaganda Deutschlands ein. Der Ansatz beruht auf der vom amerikanischen Publizisten Walter Lippmann durchgeführten Analyse der Erfahrungen des I. Weltkriegs und den anschließenden Friedensverhandlungen. Dieser beschrieb mentale Bilder, die nur teilweise auf Wahrnehmung zurückgehen. Stereotypen können demnach unabhängig davon elementaren Handlungsentscheidungen zur Verteidigung auch irrationaler gesellschaftlicher Positionen zum Durchbruch verhelfen (27ff.). Die Einführung des Begriffs in die neuere kulturwissenschaftliche Diskussion erfolgte im Zusammenhang mit der Diskursanalyse. Fielitz arbeitet in seiner Diskursanalyse sowohl mit Publikationen und Publikationsorganen, als auch mit einer Netzwerkanalyse, um dem Verhältnis der Autoren untereinander nahe zukommen.
Bei den Autoren handelt es sich um keine Geringeren als den in der Südostdeutschen Forschungsgemeinschaft tätigen Alfred Karasek, den in der Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft führenden Wolhynienexperten Walter Kuhn und den Maler Otto Engelhardt-Kyffhäuser. Gemeinsam ist diesem illustren Kreis von „Experten“, dass sie sich in mehr oder weniger starkem Umfang mit der Definition ihres Forschungsobjektes als auch intensiv um dessen Schicksal vor während und nach dem Dritten Reich politisch befasst haben.

In der lange Zeit verschwiegenen Zusammenarbeit der Ostforscher mit den zuständigen Umsiedlungsstellen der SS sieht Fielitz einen Grund, warum dieses Thema bisher keine besondere Beachtung in der Öffentlichkeit fand. Auch die Umstände ihrer An- und Umsiedlung, die mit der Arisierung und der Enteignung der vertriebenen „fremdvölkischen“ Einwohner einherging, blieb sehr lange im unklaren. Damit werde bis in die Gegenwart die Verkehrung von Opfer- und Täterrollen durchgehalten (16). Als Problem filtert er heraus, dass die an den Arisierungen in den von Deutschen besetzten Gebieten Beteiligten vermieden, darüber in der Nachkriegsgeschichte zu berichten, um ihrer Opferrolle gerecht zu werden (17). Hier erscheint mir jedoch überlegenswert, inwieweit ein Grund auch in dem Lastenausgleich liegt, den das Vertriebenenministerium in der Nachkriegszeit durchsetzte. Zentral in der Argumentation wiegt, daß breite deutsche Bevölkerungsteile eine Beteiligung an der Kriegsbeute zumindest in Polen in Aussicht gestellt worden war (18).
Kapitel 1 geht auf die Wolhyniendeutschen Diskurse vor der Umsiedlung bis 1939 ein. Erste Ansiedlungen von Wolhyniern fanden bereits 1906 nach der russischen Revolution im Baltikum unter ökonomischen Gesichtspunkten statt. Die billigeren Russlanddeutschen boten für die Ansiedlungskommission die kostengünstigere Lösung (42). Sowohl im Baltikum als auch in Posen und Westpreußen zielten die Maßnahmen darauf, den deutschen Anteil an der Bevölkerung zu stärken. Allerdings scheiterte dieser Versuch damals, weil viele enttäuschte Umsiedler zurückkehrten oder nach Nordamerika auswanderten. In diesem Zusammenhang spielt das Stereotyp der kulturellen Überlegenheit der Deutschen eine zweifelhafte aber nicht zu unterschätzende Rolle (64).

Nach dem I. Weltkrieg nahmen die Kirchen sozialpolitische Aktivitäten auf. 1926 kam die erste Wolhynienfahrt der Volkstumsforscher zur Unterstützung der Volksdeutschen zustande. Sie wurde organisiert vom Bielitzer Wandervogel Walter Kuhn, der als erster Doktorand aus der volkskundlichen Schule Arthur Haberlands in Wien hervorgehen sollte. Die Zusammenstellung der Aktiven um Kuhn: Alfred Karasek, Josef Lanz, Helmut Zipser, Kurt Lück, Viktor Kauder und Hermann Rauschning bildet eine Bereicherung der bisherigen Ausführungen von Peter Nasarski, Ulrich Linse und Ingo Haar über die „Geburtsstunde“ der völkischen Wissenschaftler.
Soziale Analysen der deutschstämmigen Bauern schienen die Wolhynienforscher weniger zu interessieren. Vielmehr wurde der in Südost- und Osteuropa vorherrschende Antisemitismus von den Volksforschern bereits 1926 ökonomisch begründet. Sie hielten den Juden vor, sie seien für die schlechte ökonomische Situation der Deutschstämmigen verantwortlich (54, 58, 62). Neben dem bereits vor 1933 ausgeprägten Antisemitismus leitete der Ethnozentrismus insbesondere bei Walter Kuhn die pejorative Bewertung der Osteuropäer, während Kurt Lück auf die kulturelle „Aufwertung“ der Volksdeutschen setzte.

Diese stereotypen Vorstellungen über die kulturelle Situation der Volksdeutschen waren in dem Netzwerk vertreten, wie die Analyse der zentralen Einrichtungen bestätigt. Fielitz pflichtet damit den Ergebnissen der neueren Forschungen über die personen- und institutionengeschichtlichen Analysen bei. Zentral erscheint mir seine Einstufung der Volkstumsforschung in die Kulturindustrie (73 und 300).

Zu den jüngeren Volksforschern zählte Kurt Lück. Er wurde als Mitarbeiter der NOFG Berater bei der Ansiedlung der Wolhynien-Umsiedlung und leitete bis März 1940 die Geschäftsstelle der Volksdeutschen in Posen, welche Bescheinigungen über die Volkszugehörigkeit ausstellte. Danach gehörte er einem SS-Einsatzkommando an. Er kam 1942 bei der „Partisanenbekämpfung“ ums Leben. Eine Kurt-Lück-Stiftung erinnert noch heute an sein fragwürdiges Vermächtnis. Walter Kuhn beriet die Einwandererzentrale in Lodz bei der Um- und Ansiedlung der Wolhyniendeutschen und verfasste Gutachten nach dem Überfall auf Russland über den sowjetischen Teil Wolhyniens. Nach dem Krieg gehörte er dem Herder-Institut in Marburg an und erhielt auf Betreiben Hermann Aubins einen Lehrstuhl (70). SS-Obersturmführer Alfred Karasek war als Gebietsbevollmächtigter in der Organisation der Umsiedlung von Wolhyniendeutschen verantwortlich tätig. Später beteiligte er sich als Experte der SODFG auch an der Umsiedlung der Bessarbiendeutschen. Er war am Kulturgutraub im Sonderkommando Künsberg und in der Budapester Aktion der Wiener Südostforscher des RSHA VI G gegen den jüdischen Buch- und Antiquariatshandel 1944 tätig.

Das zweite Kapitel befasst sich mit dem Stereotyp des Umsiedlers, wobei hier die zwei Phasen der Umsiedlung zu beachten ist. Die Quellenauswertung wird durch ein offizielles Dokument bereichert: Die Umsiedlungsdokumentation im Völkischen Beobachter, Norddeutsche Ausgabe 1939-1940, sowie zahlreiche Darstellungen von deutschen Umsiedlungsexperten aus dem Umfeld des VDA, DAI und der VFG. Bedeutend sind die Organisationen deshalb, weil das DAI die Erlaubnis durch Himmler erhielt, die Umsiedlungen zu dokumentieren (35ff.). Der 1. Phase der Umsiedlung der Balten unter Leitung SS-Standartenführers Horst Hoffmeiers in den Warthegau 1939 folgte unmittelbar in der 2. Phase die Ansiedlung der Menschen aus Wolhynien, Galizien und dem Narewgebiet (100ff). Deutlich legt Fielitz in seiner Diskursanalyse dar, wie die Propagandamedien darum bemüht waren, die Umsiedlung nicht als Chaos erscheinen zu lassen, sondern als wohl organisiert. Dem nunmehr „Rückkehrern“ bezeichneten Volksdeutschen wurden Adjektive wie einfach, hart und zäh beigestellt, die mit dem Begriff „Herrenmensch“ eine besondere, aussagefähige Charakterisierung von Deutschen zu sein schien. Diese Eigenschaften wurden laut Fielitz’ Analyse der entsprechenden Wochenschauen durch harmonische Bilder, in diesem Fall der Wolhynienbauern, der offenbar teilweise vom SS-Ahnenerbe zusammengestellten Filmsequenzen, ergänzt. Folgerichtig lautet sein Resümee über das Identitätsmanagement der Propaganda, dass sie sowohl zur Manipulation der geschichtlichen Identität als auch der Manipulation der Umsiedlung selbst und der Wünsche der Siedler beigetragen habe. Man möchte ergänzen, auch zur Verharmlosung der Vertreibung und Arisierung der zwangsausgesiedelten polnischen Einwohner.

In Kapitel 3 zeichnet Fielitz die Geschichte der Umsiedlung und der engen Zusammenarbeit mit Horst Hoffmeier und Werner Lorenz von der Vomi, aber auch anderen beteiligten NS-Apparaten anhand der Archivalien des DAI nach und bietet damit eine wertvolle Ergänzung der Studie Ernst Ritters, die 1977 erschienen ist.

Das Kapitel 4 ist dem Maler Otto Engelhardt-Kyffhäuser und Autor des populären Bildbandes „Das Buch vom großen Treck“, welches er zusammen mit Alfred Karasek und Heinrich Kurtz herausgegeben hatte, gewidmet. Das Buch, von „Künstlern und politischen Kämpfern und Wissenschaftlern“ erarbeitet, erreichte innerhalb eines Jahres in der zweiten Auflage 45.000 Exemplare und gilt als ein Bestseller des Verlages Grenze und Ausland, einem Ableger des VDA. Auch hier geht Fielitz unkonventionelle Wege, indem er die Akten des Amtsgerichts Berlin Charlottenburg auswertet, um dem Netzwerk der Volkstums-Kulturindustrie nahe zukommen. Der Kunsterzieher Otto Engelhardt-Kyffhäuser, Jahrgang 1884, ist als Parteigenosse und SS-Mitglied einer der renommiertesten ns-„Künstler“ gewesen, der neben seinen Bilder- und Bücherproduktionen etliche Ausstellungen über die Umsiedlung organisierte. Als Haus- und Hofmaler wichtiger Parteigrößen machte er sich einen Namen. Fielitz legt in der anschließenden Analyse diverser historisch narrativer Sterotypenbildungen in dem Buch vom großen Treck auch die Verbreitung der Ergebnisse dieses Buches überzeugend dar.

Fielitz untersucht mit dieser historische Zäsuren übergreifenden Arbeit einen wichtigen Diskurs, der den „Aufbau eines plausiblen Sinns in einem entstehenden semantischen Feld ‚deutschsprachige Bevölkerung Wolhyniens’“ begünstigt (300). Dabei ist bis heute noch immer nicht hinreichend geklärt, welche Rollen Experten der deutschen Ethnopolitik neben solch zentralen Figuren der Vertriebenenpolitik wie Theodor Oberländer und SS-Hauptsturmführer Hans-Joachim Beyer tatsächlich gespielt haben: SS-Sturmbannführer Kurt Oberdorffer, Werner Essen, SS-Untersturmführer Jürgen von Hehn, Georg Leibbrand, Karl Stumpp, SS-Untersturmführer Fritz Valjavec, SS-Hauptsturmführer Kurt Lück, SS-Hauptsturmführer Wilfried Krallert und Franz Stanglica. Die Liste ist noch nicht abgeschlossen. Daran ändern auch die scharfen Kritiken Heinrich August Winklers oder des Verwaltungsbeamten Erich Mühle nichts, die rein hermeneutisch motivierte Rückzugspositionen darstellen. Zu groß ist noch immer der Widerstand in Deutschland, sich des Themas umfassend anzunehmen, stellt es doch wichtige Legenden deutscher Nachkriegsgeschichte in Frage.

Zu groß sind die Defizite der deutschen Ost- und Südostforschung, ihre braunen Altlasten abzutragen, die immer unerträglicher für einen europäischen Integrationsprozess werden. Die deutsche Seite wird Nachholbedarf haben angesichts des Fortschritts der internationalen Forschung, welche diese Thematik interdisziplinär längst bearbeitet, wie vergangenen September in der ungarischen Akademie der Wissenschaft in Budapest. Die Zeit ist in der deutschen Forschungsverwaltung reif, ihre alten Pfründe aufzugeben, angesichts politischer Deklamationen gegenüber den osteuropäischen Nachbarn, die nicht mehr so einfach hingenommen werden.

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