K.-G. Zelle: Hitlers zweifelnde Elite

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Titel
Hitlers zweifelnde Elite. Goebbels - Göring - Himmler - Speer


Autor(en)
Zelle, Karl-Günter
Erschienen
Paderborn 2010: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
503 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Oliver Werner, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Karl-Günter Zelle konzentriert sich in seiner Dissertation auf vier Protagonisten des Nationalsozialismus, von denen man nicht behaupten kann, sie seien von der historischen Forschung bisher vernachlässigt worden. Zelle strebt indes einen Zugang an, den er nicht befriedigend geklärt sieht: Er fragt nach dem Verhältnis der vier Männer zu Adolf Hitler und ihren Zweifeln an der nationalsozialistischen Politik.

Geprägt ist die Arbeit von der nachdrücklich betonten Absicht, einen „neuen Ansatz“ in deutlicher Abgrenzung zur bisherigen NS-Forschung zu formulieren. Worin das Neue in Zelles Vorgehen besteht, bleibt allerdings vage. Er wolle „neue Fragen an die bekannten Quellen“ stellen und „die Methodik des hermeneutisch arbeitenden Historikers durch einige Instrumente der Psychologie“ (S. 16f.) erweitern. Dabei irritiert es, dass Zelle die von ihm herangezogenen psychologischen Überlegungen erst am Ende seiner Arbeit darlegt und dabei betont, die Erklärungsansätze – darunter die Gehorsamkeitsexperimente von Stanley Milgram und das Gefängnis-Experiment von Philip Zimbardo – hätten „die Darstellung und Deutungsversuche in den vorangegangenen biographischen Kapiteln“ (S. 381) bestimmt. Auf diese Weise bleibt die Einleitung methodisch dünn: Zelle bezieht sich hier allgemein auf Max Webers Konzept der charismatischen Herrschaft und behauptet, dieses werde „neuerdings“ (S. 15) auch in der Geschichtswissenschaft genutzt.

Nur wenig an Zelles Studie ist allerdings wirklich neu. Historisch-psychologische Deutungen des Nationalsozialismus gibt es seit den 1950er-Jahren; Stanley Milgram selbst hat seine Gehorsamkeitsexperimente ausdrücklich als Erklärungsmodell für nationalsozialistische Verbrechen angesehen.1 Und die einschlägigen Quellen wurden – wie Zelle selbst ausführt – „von der Forschung bereits fast ausnahmslos ausgewertet“ (S. 16). Als mögliches Novum bleibt also nur Zelles explizite Frage nach den Zweifeln bei Hitlers Mitstreitern. Diese Frage stellt er allerdings derart isoliert, dass man als Leser streckenweise den Eindruck gewinnt, der „Führer“ sei vor allem von Zauderern und Menschen mit schweren moralischen Skrupeln umgeben gewesen.

Um die „Neuartigkeit“ seiner Herangehensweise zu unterstreichen, lässt sich Zelle dazu hinreißen, die bisherige Forschungsliteratur zur nationalsozialistischen Elite überwiegend als defizitär einzuschätzen. Das trifft manchmal den Punkt, so wenn er die Schwächen von Richard Overys Göring-Biografie hervorhebt, wirkt aber viel öfter deplatziert oder bleibt einfach unverständlich – etwa, wenn Zelle behauptet, Peter Longerich beschränke sich in seiner Himmler-Biografie „im Wesentlichen auf den Gefolgsmann Hitlers“, während er die „andere Seite Himmlers“ (S. 448) vernachlässige.

Die vier biografisch angelegten Studien zu Joseph Goebbels, Hermann Göring, Heinrich Himmler und Albert Speer sind alle nach einem ähnlichen Schema aufgebaut. Zuerst wird festgestellt, dass in der historischen Forschung die Zweifel der Protagonisten nicht ausreichend berücksichtigt worden seien. Dann werden einzelne Episoden, Konflikte sowie das Verhältnis zu Hitler geschildert – meist in einer Brechung der chronologischen Folge, was das Lesen zusätzlich erschwert – und schließlich arbeitet Zelle die vermeintlichen „Zweifel“ der einzelnen Personen an Hitlers Politik heraus.

Dabei spielen der Ankündigung zum Trotz psychologische Theorien kaum eine Rolle. Vielmehr sucht Zelle in den bekannten Quellen – allen voran die Tagebücher von Joseph Goebbels – nach Anzeichen und Indizien für Zweifel, wobei seine Schlussfolgerungen spekulativ bleiben und sprachlich nicht immer glücklich formuliert sind. So erkennt er in Görings „Faulheit“ dessen „persönliche Antwort auf Hitlers verderbenbringende Politik“ (S. 132). Und Himmler sei nach Zelle „vermutlich“ überzeugt gewesen, dass „seine immer wiederkehrenden Magenkrämpfe psychosomatischer Natur und in seiner Verantwortung für die Judenvernichtung begründet waren“ (S. 246).

Generell bildet das Kapitel über Heinrich Himmler einen der schwächsten Teile des Buches. Den zahlreichen Interpretationen der Posener Reden vom Oktober 1943, in denen Himmler die „Ausrottung des jüdischen Volkes“ als ein „niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte“ bezeichnete, fügt Zelle nebelhaft fragend eine weitere hinzu: Wollte Himmler das Geheimnis der Judenvernichtung „mit ins Grab“ [sic] nehmen, weil „er es trotz aller Rechtfertigungsversuche für ein Verbrechen jenseits aller Maßstäbe ansah? […] Weil er vor der Verdammung der Welt Angst hatte?“ (S. 201f.) Solche Spekulationen sind ohne analytischen Wert und lassen Zelles Arbeit weit hinter Studien wie die von ihm so leichtfertig abgetane Himmler-Biografie von Peter Longerich zurückfallen.2

In allen vier biografischen Studien stehen die Schilderungen der politischen Handlungen von Goebbels, Göring, Himmler und Speer merkwürdig unverbunden neben deren vermeintlichen Zweifeln. Hierin hätte indes eine Chance der Arbeit bestanden, nicht nur „Zweifel“ auszumachen, sondern eventuelle Bedenken und Vorbehalte der einzelnen Akteure mit deren jeweiliger Machtposition und einer aktiven Beteiligung bis zum Ende des Regimes in Verbindung zu setzen. Dies tut Zelle nur im Ansatz, ohne wirklich nach den Mechanismen von Befehlsvollzug und Selbstdistanzierung zu fragen, die eine Einbettung der „Zweifel“ in die nationalsozialistische Herrschaftspraxis ermöglicht haben.

Und selbst wenn Zelle bei Albert Speer überlegt, weshalb dieser trotz seiner Überzeugung, der Krieg sei verloren, bis zum Schluss die exzessive Rüstungsmobilisierung mitverantwortet habe, bleibt er spekulativ. Es könnte der Morgenthau-Plan gewesen sein, denn dass „eine bedingungslose Kapitulation dazu führen könnte, daß Deutschland seine Industrie verlöre, das war vielleicht einer der Gründe, der ihn solange aushalten ließ“ (S. 300). Wenn Zelle feststellt, in der Forschung werde „dieser Hintergrund der Durchhalteparolen Speers anscheinend bisher nicht gesehen“ (S. 456), dann möchte man anmerken: Zu Recht, denn Spekulationen über Motive laufen ins Leere, wenn keine Belege für individuelle Beweggründe zur Verfügung stehen.

Immer wieder kommt zudem eine mangelnde Quellenkritik zum Ausdruck. Wenn Zelle etwa behauptet, dass sich Speer „selbst ein Rätsel“ gewesen sei, „über dessen Lösung er während seiner Spandauer Jahre intensiv und wiederholt nachdachte“ (S. 349), dann reproduziert er damit bloß Speers eigene Rechtfertigung. Ebenso nimmt er die Goebbels-Tagebücher eher als zuverlässiges Stimmungsbarometer für die „Zweifel“ der NS-Führung denn als ein Selbstinszenierungsprojekt des Propagandaministers. Die grundlegende Frage, weshalb eigentlich die privaten Zweifel der NS-Größen aufrichtiger gewesen sein sollen als ihre öffentlich geäußerte Zustimmung, wird gar nicht erst gestellt.

Im abschließenden Kapitel gelingt es Zelle nicht, seine Überlegungen zu einer originellen Gesamtdeutung zusammenzuführen. Er bemüht unter anderem die von Leon Festinger in den 1950er-Jahren entwickelte Theorie der „kognitiven Dissonanz“, um Einstellungsänderungen bei den vier Protagonisten zu erklären, ohne dabei die fundamental verschiedenen Erkenntnisvoraussetzungen und Formen der wissenschaftlichen Modellbildung in der Geschichtswissenschaft und der Sozialpsychologie zu reflektieren. Das führt zwangsläufig zu Unschärfen, die schließlich in der Vermengung verschiedener Täterkategorien gipfeln. Die beschriebenen Mitglieder der NS-Führung werden mit Adolf Eichmann, den Mitgliedern des Polizeibataillons 101 und den Wärtern des Vernichtungslagers Auschwitz in einer diffusen Täterkategorie zusammengefasst, deren Motive – entsprechend der Gehorsamkeitsexperimente von Stanley Milgram – situativ und nicht persönlich bestimmt seien. Das wird von Zelle allgemein abgeleitet und zu der kruden Schlussfolgerung geführt, dass „fast Jeder bereit“ sei, „auf Befehl oder im Gruppendruck grausame und sadistische Taten auszuführen, derer er sich zuvor nicht für fähig gehalten hätte“ (S. 380). Das ist eine fahrlässige Vereinfachung der Forschungen von Stanley Milgram und trägt nichts zum besseren Verständnis von Goebbels, Göring, Himmler und Speer bei. Diese zeichneten sich ja gerade durch eine räumliche und administrative Distanz zu den von ihnen verantworteten Verbrechen aus.

Es ist bedauerlich, dass Karl-Günter Zelle seine zweifelsohne umfassenden Kenntnisse der Geschichte des Nationalsozialismus nicht in einer zurückhaltenderen, weniger spekulativen Darstellung der NS-Elite zusammengeführt hat. So wichtig die Frage nach den Beziehungen innerhalb der NS-Führung auch ist: Die Überlieferungslücken können nicht durch psychologisierende Mutmaßungen überbrückt werden.

Anmerkungen:
1 Stanley Milgram, Das Milgram-Experiment. Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität, Reinbek bei Hamburg 1974, S. 203ff. Vgl. auch Helm Stierlin, Adolf Hitler. Familienperspektiven, Frankfurt am Main 1975.
2 Peter Longerich, Heinrich Himmler. Biographie, München 2008; zu den Posener Reden vom Oktober 1943 vgl. S. 709f.

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