Cover
Titel
Child, Nation, Race and Empire. Child Rescue Discourse, England, Canada and Australia, 1850-1915


Autor(en)
Swain, Shurlee; Hillel, Margot
Reihe
Studies in Imperialism
Erschienen
Anzahl Seiten
224 S.
Preis
€ 75,17
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Matthias Frölich, LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte, Münster Email:

Im Februar 2010 bat der britische Premierminister Gordon Brown ehemalige Heimkinder für erlittenes Unrecht öffentlich um Entschuldigung, insbesondere für ihre Verschickung aus Großbritannien nach Übersee – eine Praxis, die zum Teil bis in die 1960er-Jahre Bestand hatte. Ähnliche Bitten um Vergebung waren zuvor von den Premierministern Australiens und Kanadas geäußert worden, wo Wahrheitskommissionen zutage gefördert hatten, dass bis weit ins 20. Jahrhundert hinein Kinder aus kanadischen Indianer- und australischen Aboriginalfamilien systematisch ihren Eltern entrissen und in Heimen erzogen wurden.1

Indem sie den Diskurs über die Rettung von verarmten und ‚verwahrlosten‘ Kindern in England, Kanada und Australien zwischen 1850 und 1915 untersuchen, gehen Hillel und Swain gewissermaßen zum Ausgangspunkt dieser Problematik zurück. Sie ziehen dafür die von den großen privaten Rettungsorganisationen herausgegebenen Publikationen heran und zeigen, wie diese über einen langen Zeitraum den öffentlichen Diskurs bestimmten und das gesellschaftliche Bild des gefährdeten Kindes und den Umgang mit ihm prägten.

Nach der „Entdeckung der Kindheit“2 entwickelte sich der heranwachsende Mensch im Verlauf des 19. Jahrhunderts langsam vom elterlichen Eigentum zum Bürger und Träger von eigenen Rechten. Der Schon- und Entwicklungsraum ‚Kindheit‘ schien den Zeitgenossen durch die Auswirkungen von Urbanisierung und Industrialisierung gefährdet zu sein. Angesichts dieser Bedrohung entwickelte sich in englischen evangelikalen Kreisen die Kinderrettungsbewegung, die nach dem Vorbild Wicherns und des von ihm in Hamburg geschaffenen Rauhen Hauses nun auch in England Heime für ‚verwahrloste‘ und arme Kinder einrichtete. Triebkraft hierfür war eine Kombination von Mitleid und Angst: Die in Armut und Sünde lebenden Unterschichtenmassen wurden als „deadly virus“ gesehen, das bald die ganze Nation zu infizieren drohte (S. 12).

Mittels zahlreicher Magazine, Zeitschriften und auch Kinderbücher versuchten die Rettungsorganisationen, die Öffentlichkeit über ihre Arbeit zu informieren und somit Unterstützer und Spender zu gewinnen. Die Veröffentlichungen bestanden aus einem Mix aus Illustrationen, literarischen und dokumentarischen Artikeln. Berichte über Kinderschicksale bildeten den größten Teil des Inhalts. Die ‚Verwahrlosung‘ der Kinder wurde durch die Beschreibung von Kleidung (kaputt, löcherig, schmutzig) und Körper (dreckig, geschunden, verlaust) plastisch dargestellt. Die meist fiktiven Geschichten folgten einem bestimmten Strickmuster: Böse Eltern, das Kind als unschuldiges, machtloses Opfer, die Rettungsbewegung als Nothelfer. Die in den dargestellten Schicksalen transportierten Erfolgsgeschichten sollten verdeutlichen, dass die Herausnahme der Kinder aus den Familien das einzig wählbare Mittel sei. Die Veröffentlichungen arbeiteten mit Vorher-Nachher-Bildern, um die Transformationsfähigkeit der Kinder darzustellen. Sie besäßen noch die Möglichkeit der Besserung und müssten nicht zwangsläufig in die Kriminalität abgleiten. Aus hässlichen, dreckigen, ‚verwahrlosten‘ könnten schöne, attraktive, ‚normale‘ Kinder werden, wenn sie in Heime ‚verpflanzt‘ würden. Der düsteren Beschreibung von Arbeitervierteln setzte die Rettungsbewegung den nostalgischen Blick auf das alte ländliche England entgegen – die Stadt als Raum der Bedrohung, das Land als Raum der Erholung.

Die Autorinnen zeigen, wie der Diskurs in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zunehmend von rassistisch-sozialdarwinistischem Gedankengut durchdrungen wurde. Vernachlässigte Kinder wurden als „raw material of empire“ (S. 120) gesehen: Das britische Empire sei zu Recht Herrscher der Welt, aber es werde in der Zukunft nur so gut wie seine jetzt noch jungen Bürger. Die Mitte des 19. Jahrhunderts entstandene Rettungsbewegung wurde nun als essentiell für den Fortbestand des Empire und das Überleben der Nation angesehen. Der Körper des Kindes galt als Teil des Körpers der Nation und musste folglich gestärkt und geschützt werden. Die Angst vor vermeintlicher Degeneration war hier ebenso präsent wie die Angst vor dem Kommunismus: Jedes gerettete arme Kind bedeutete einen potentiell gefährlichen Proletarier weniger.

Grundlegendes Ziel der Erziehung in den Heimen war das Hervorbringen einer unterwürfigen Arbeiterschaft. Dies versuchte man durch strikte Disziplin zu erreichen: harte Strafen waren üblich, die Grenzen zur Misshandlung fließend. Dies war keine bloße Anomalie, sondern Bestandteil des Systems (S. 129). Trotz Propagierung des Familienmodells in Anlehnung an Wichern waren die Heime große Anstalten mit einigen hundert Kindern, unterteilt in Gruppen zu etwa zwanzig. Jungen über vierzehn Jahren wurden in Werkstätten oder in der Landwirtschaft beschäftigt, Mädchen in Küchen, Wäschereien und Nähereien – ihnen sollte die Arbeitsauffassung vermittelt werden, die ihren Eltern vermeintlich abging. Das Heimleben wurde in den Veröffentlichungen romantisiert, alle Zweifel an den Vorzügen der Kindesherausnahme sollten zerstreut werden.

Eine neue Dimension erreichte die Rettungsbewegung durch die ab den 1870er-Jahren intensivierte Verschickung von Kindern nach Kanada, Australien und Südafrika.3 Den Stadt-Land-Gegensatz übertrugen die Organisationen auf die Ebene des Empire: Die Heimat als Ort der Gefährdung, die Gebiete in Übersee als Ort der Erlösung. Kinder sollten auf diese Weise endgültig aus ihren verderblichen familiären Bindungen im Mutterland herausgelöst werden: „In Britain they perish; – abroad they are safe!“ (S. 12). Dies entlastete den heimischen Arbeitsmarkt und deckte zugleich den Arbeitskräftebedarf in den Kolonien, die in der Literatur als leere Räume dargestellt wurden und nur darauf warteten, mit Menschen gefüllt zu werden. Nur britische Immigranten könnten die Fahne der angelsächsischen ‚Rasse‘ und Kultur in den Kolonien hochhalten. Die Rettungsbewegung schwappte nun auch nach Kanada, Australien und Südafrika über, gründete dort Einrichtungen und übernahm die Diskurse aus England. Die Verschickung blieb aber nicht ohne Kritik. In Kanada wurden Klagen laut, Jugendliche rotteten sich wieder in den Städten zusammen und würden kriminell, da sie das Erbe von „three or four generations of vicious ancestry“ (S. 122) in sich trügen.

Die Veröffentlichungen der Rettungsbewegung ließen keinen Raum für Zweifel, sie zeigten ausschließlich positive Beispiele. Dass die Realität anders aussah, machen Hillel und Swain am Ende des Buches deutlich, indem sie Zeitzeugen zu Wort kommen lassen: „Kinderettung“ bedeutete auch Trennung von Familien, Disziplinierung, harte Arbeit, Schläge, sexuelle Gewalt, Entwurzelung. Die dominierende Auffassung, es sei das Beste, Kinder von ihren Eltern zu trennen, wich um die Jahrhundertwende langsam. Eltern in Problemfamilien wurden vom Feind zu Verbündeten des Staates in Sachen Erziehung. In gleichem Maße, wie die Kindesherausnahme in England zurückging, wurde sie nun bei der indigenen Bevölkerung in Australien und Kanada verstärkt angewandt.

Die Kinder wurden nicht gefragt, ob sie gerettet werden wollten. Die Entscheidung über die Trennung vom Elternhaus wurde von Menschen getroffen, die glaubten, im rechten Sinne zu handeln. Doch im vermeintlichen Schutzraum – den Heimen und Pflegefamilien – waren Kinder nicht vor körperlichen und seelischen Verletzungen sicher. Hillel und Swain zeigen, dass die Rettungsbewegung zwar viel zur Schaffung von Kinderrechten beigetragen hat, dass dies aber nicht unbedingt zu mehr Freiheiten führte: Beim Verstoß gegen die neuen Maßstäbe wurden Familien zerrissen, die bei vernünftiger Hilfestellung und Unterstützung eine im Vergleich zu den Heimen mindestens ‚gleichwertige‘ Erziehung hätten gewährleisten können. Die Autorinnen stellen dar, wie die rigorose, vorauseilende Kindesherausnahme durch den von den Rettungsorganisationen sorgfältig gestalteten Diskurs gefördert und legitimiert wurde. Das Buch leistet neben einer kulturgeschichtlichen Untersuchung des Verwahrlosungsdiskurses somit auch einen Beitrag zu aktuellen Kontroversen über Rechte und Schutz von Kindern.

Anmerkungen:
1 Vgl. Marjorie Kohli, The Golden Bridge. Young Immigrants to Canada 1833-1939, Toronto 2003; Roger Kershaw / Janet Sacks, New Lives for Old. The Story of Britain’s Child Migrants, Kew 2008; Roy Alfred Parker, Uprooted. The Shipment of Poor Children to Canada 1867-1917, Bristol 2008.
2 Philippe Ariès, Geschichte der Kindheit, München 1975.
3 Zwischen 1618 und 1967 wurden schätzungsweise 150.000 Kinder in die Kolonien verbracht. Vgl. Philip Bean / Joy Melville, Lost Children of the Empire, London u.a. 1989.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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