R. Frohne: Das Welt- und Menschenbild des Joachim von Watt/Vadianus

Cover
Titel
Das Welt- und Menschenbild des St. Galler Humanisten Joachim von Watt / Vadianus (1484–1551). Dargestellt anhand ausgewählter Exkurse in den Scholien zu Pomponius Mela: De chorographia, Basel ²1522. Ein Lesebuch (Lateinisch/Deutsch) mit Kommentaren und Interpretationen


Autor(en)
Frohne, Renate
Reihe
Die Antike und ihr Weiterleben 8
Erschienen
Remscheid 2010: Gardez! Verlag
Anzahl Seiten
270 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Albert Schirrmeister, SFB 644 „Transformationen der Antike“, Humboldt-Universität zu Berlin

Joachim Vadian (1484–1551) zählt zu den vielseitigsten und produktivsten Humanisten im deutschen Sprachraum. Zudem profitiert die Forschung davon, dass seine Bibliothek in seiner Heimatstadt St. Gallen, in der er seit 1526 auch Bürgermeister war, erhalten ist. Von dort aus sind in einer ständigen Folge seit dem 19. Jahrhundert Forschungen zu ihm betrieben und befördert worden – Vadians Briefwechsel war einer der ersten, die im 20. Jahrhundert ediert wurden. Immer wieder wurden dabei auch Werke des Mediziners, Historikers, Reformators, Dichters und Poetikers Vadian herausgegeben, mit am wichtigsten dabei vor nunmehr fast vierzig Jahren die lateinisch-deutsche, kommentierte Ausgabe der Poetik durch Peter Schäffer und im vergangenen Jahr die sogenannte größere Chronik der Äbte durch Bernhard Stettler.1

Was bisher fehlte, war ein gewichtiger Bestandteil der gelehrten Arbeit Vadians: seine auf eine Wiener Vorlesung aufbauende, kommentierte Edition der Chorographie des spätantiken Pomponius Mela, die er zunächst 1518 in Wien und in stark vermehrter Form 1522 in Basel drucken ließ. Das Fehlen ist allerdings wenig verwunderlich, vergegenwärtigt man sich die Probleme, die eine neue Ausgabe eines solchen Werkes bereiten würde: Wie geht man mit dem antiken Text um? Wird dieser auch ediert, kommentiert, in seiner Fassung kritisch beurteilt? Wie gibt man – schon typografisch ist dies schwierig – die Stellung des humanistischen Kommentars zum antiken Text wieder?

Nun hat Renate Frohne, die bereits im Selbstverlag eine erste Auseinandersetzung mit den Kommentaren Vadians zu Mela publiziert hatte2, den Versuch gewagt, die 220 Folio-Seiten des Druckes von 1522 in neuer Form zu präsentieren. Dabei ist Melas Text nur noch in Stellenangaben präsent, und allein Vadians Scholien sind in lateinischer und in synoptisch dargebotener deutscher Übersetzung zu lesen. Dies ist aus mehreren Gründen gut gerechtfertigt: Das im Titel des Buches genannte Ziel ist es, Vadians Welt- und Menschenbild zu präsentieren; es handelt sich ausdrücklich nicht um eine wissenschaftliche Ausgabe, sondern um ein „Lesebuch“. Zudem entfernt sich Vadian in seinen Kommentaren immer wieder weit von Mela, dessen Ausführungen oftmals nur den Anlass für eigene Überlegungen sind, so dass der Anteil der Scholien im Druck auch deutlich überwiegt.

Die Kapitel, in denen Frohne die übersetzten Textausschnitte gesammelt hat, bilden, sorgfältig mit Anmerkungen zu antiken Vorlagen und zum Kontext versehen, das Herzstück des Bandes und werden gerahmt von einführenden Seiten zu Vadian und zu den Scholien auf der einen Seite sowie von einem Teil mit Erläuterungen zu einzelnen Begriffen und „Grundansichten“ Vadians.

Renate Frohne verdeutlicht, dass die Scholien mit einem modernen Sachkommentar kaum etwas gemein haben: Vadian nimmt einzelne Stellen im Text Melas immer wieder zum Anlass für längere Ausführungen. Frohne legt in ihrer Auswahl deshalb besonderen Wert auf diese vermehrten, von ihr als Exkurse bezeichneten Passagen, die die zweite Fassung noch deutlicher prägen als die Erstausgabe. Sie bezeichnet die Scholien deshalb in der Einleitung als eine humanistische Enzyklopädie, denn durch den Index werden die einzelnen Themen durchaus erschlossen, auch wenn sie sich von Melas Text in essayistischer Weise entfernen – somit erscheinen die Scholien allerdings denkbar „unenzyklopädisch“, da sie ohne jede systematische Grundlage verfahren und mitunter in ihren Interessen überraschen.

Die von ihr übersetzten Texte ordnet Renate Frohne in folgende vier Kapitel, jeweils mit Unterkapiteln: der Wandel der Natur, die Begegnung des Menschen mit der Natur, Glaube und Aberglauben, Grundwerte für ein gutes Zusammenleben. Die Zuordnung erscheint mitunter willkürlich – im Großen und Ganzen sind Textstellen zur Naturwahrnehmung und zum Verhältnis der Menschen zur Natur (Kapitel 1 und 2) sowie zu moralischen und gesellschaftlichen Fragen (Kapitel 3 und 4) gesammelt. Diesen folgen die vollständig abgedruckten Worte Vadians an den Leser – eine sehr gute Entscheidung, da in ihnen editorische Tätigkeit und Umstände der Entstehung anschaulich reflektiert werden.

Die wichtigsten Kriterien einer Leseausgabe erfüllt die Ausgabe auf jeden Fall: Die lateinischen Texte sind verlässlich abgedruckt, die synoptische Gestaltung funktioniert gut, und vor allem sind die Übersetzungen in der Regel nicht nur zuverlässig, sondern auch sehr gut lesbar. Die zahlreichen Fotos von Originalseiten der verwendeten Drucke geben auch Lesern, die mit Drucken des 16. Jahrhunderts nicht vertraut sind, einen anschaulichen Einblick. Inhaltlich überzeugt die Auswahl an vielen Stellen. So wird in der langen, fast ungekürzt wiedergegebenen Schilderung des Besuchs Vadians in den Salzbergwerken bei Krakau mehreres sichtbar: Vadians eigene Anschauung, die Autopsie, als bevorzugte Grundlage für seine Naturbeschreibung, die sich auch in der Beschreibung eigener emotionaler Regung niederschlägt; die Begleitung durch humanistische Freunde als wichtige Elemente dieses „Expeditionsberichtes“; die Diskussion verschiedener Erklärungsmodelle aus Antike und Mittelalter, bei der in diesem Fall Albertus Magnus gegenüber Plinius der Vorrang eingeräumt wird.

Etwas unglücklich ist man allerdings mit den einführenden Sätzen, in denen Melas Text charakterisiert wird, und mit der Herstellung gedanklicher Verbindungen in Vadians Text durch die Herausgeberin: Frohne suggeriert die Zusammengehörigkeit von weit auseinanderliegenden Passagen – dabei bezieht sie sich auf Scholien, die einerseits zum dritten Buch, andererseits zum ersten Buch gehören (S. 63/67). Ähnliches geschieht durch die Zusammenführung von weit voneinander entfernt stehenden Scholien unter einer Überschrift und ohne erkennbare oder rekonstruierbare Abgrenzung (zum Beispiel S. 82). So stellt Frohne eine „Einheit“ des Textes her, die Vadians essayistisches Verfahren, das sie selber hervorhebt, konterkariert.

Unübersichtlich sind manche der angehängten Kapitel im zweiten Teil: Die Überschrift „Ein Lob der Stadt St. Gallen“ (S. 185) ist angesichts des dann folgenden geradezu irreführend: Denn nach einigen Sätzen über St. Gallen führt Frohne vor, wie Vadian die Textstelle zu den Schotten kommentiert. Die bisweilen merkwürdig emphatischen einleitenden Bemerkungen zu den Textstellen im Hauptteil finden hier ihre Fortsetzung – allzu offensichtlich wird, wie Renate Frohne sich von ihrer unglaublich extensiven Beschäftigung mit Vadian mitreißen lässt. Umgekehrt ist hier gerade immer wieder auch beeindruckend, mit welcher Akribie sie einzelne Marginalien und Anstreichungen in Vadians Büchern verfolgt und für Interpretationen nutzt.

Während die Anbindung an die Forschungsliteratur zur Antike in den Anmerkungen durch Verweise auf einschlägige Nachschlagewerke gut gelöst ist, zeigt sich immer wieder ein eingeschränktes Verständnis humanistischer Kultur: Gerade in der unübersichtlichen Einleitung finden sich viele Anachronismen (Vadian, der als Lehrer Tafelskizzen macht: S. 26f.) und Stereotypen über das Mittelalter, dagegen leider nichts Substantielles zum Genre des Kommentars im Humanismus (ein Satz, S. 10), keine Erwähnung anderer, gleichzeitiger Ausgaben des Pomponius Mela. So bleibt völlig unklar, wie sehr sich Vadians Kommentar zum Beispiel von der Ausgabe des Cochlaeus (Nürnberg 1512) oder gar der konkurrierenden Wiener Ausgabe des Johannes Camers (Wien 1512) unterscheidet.

Als Fazit bleibt trotz einiger Monita, dass mit diesem Lesebuch mehr als „ein Blick“ auf das Welt- und Menschenbild eines Humanisten möglich ist: Die Verbindung von übersetzten Scholien und ergänzenden, meist gut ausgewerteten Lektürezeugnissen Vadians zeigt die facettenreichen Interessen, die Denkformen und Arbeitsweisen des sowohl gelehrten als auch kommunalen Akteurs.

Anmerkungen:
1 Die Vadianische Briefsammlung der Stadtbibliothek St. Gallen, Bd. I–VI, hg. v. Emil Arbenz u. Hermann Wartmann, St. Gallen 1890–1908; Joachim Vadian, De Poetica et Carminis ratione, kritische Ausgabe mit deutscher Übersetzung und Kommentar von Peter Schäffer, München 1973–1977; Joachim von Watt, Grössere Chronik der Äbte. Abtei und Stadt St. Gallen im Hoch- und Spätmittelalter (1199–1491) aus reformatorischer Sicht, hg. und kommentiert von Bernhard Stettler, Zürich 2010.
2 Renate Frohne, Denkstrukturen und Arbeitstechniken des St. Galler Humanisten Johannes von Watt. Etymon vocabuli sequimur: Etymologien und Namenserklärungen in Vadians Scholien zu Pomponius Mela „De chronographia“, Basel 1522 (2), Eigendruck, ohne Ort 2004. Vgl. auch dieselbe, Etymologien und Namenserklärungen in Vadians Scholien zu Pomponius Mela ‚De chorographia‘: Über die bewohnte Welt (2. Auflage), Basel 1522, in: Rudolf Gamper (Hrsg.), Vadian als Geschichtsschreiber, St. Gallen 2006, S. 119–128.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension