K. Boers u.a. (Hrsg.): Wirtschaftskriminalität und die Privatisierung

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Titel
Wirtschaftskriminalität und die Privatisierung der DDR-Betriebe.


Herausgeber
Boers, Klaus; Nelles, Ursula; Theile, Hans
Erschienen
Baden-Baden 2010: Nomos Verlag
Anzahl Seiten
684 S.
Preis
€ 98,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörg Roesler, Leibniz-Sozietät Berlin

Die Existenz der Treuhandanstalt (1990-1994) war in den Medien begleitet von dem Vorwurf, Hort der Wirtschaftskriminalität zu sein. In den von Sozialwissenschaftlern im Auftrage der Treuhandanstalt (THA) bzw. ihrer Nachfolgerorganisation der „Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben“ (BvS) verfassten Veröffentlichungen spielte dieser Aspekt allerdings kaum eine Rolle.1 Selbst Memoirenbände ehemaliger Treuhandmitarbeiter hielten sich diesbezüglich zurück.2 In zeitlich parallel dazu in ostdeutschen Verlagen erschienenen vereinigungskritischen Publikationen wurde dagegen ein beträchtliches Maß an „Vereinigungskriminalität“ behauptet und beispielhaft beschrieben.3 Der 2003 in Buchform erschienene Abschlussbericht der BvS enthielt dann zwar einen vergleichsweise kurzen Beitrag zur Stabsstelle „Besondere Aufgaben“, deren Pflicht es war, „selbständig und im besten Wortsinne eigenverantwortlich allen Hinweisen auf strafrechtlich relevantes und vermögensschädigendes Verhalten zum Nachteil des Hauses und der einzelnen Unternehmen nachzugehen“4, jedoch begnügte sich der Beitrag im Wesentlichen mit der Darstellung der Aufgabenstellung der Stabsstelle und ihrer Personalstruktur. Diese Zurückhaltung offizieller Stellen veranlasste den früheren DDR-Ministerpräsidenten Hans Modrow, unter dessen Regierung die THA gegründet wurde, zu der Feststellung, dass derjenige, der darauf warte, „dass die mit der Treuhandanstalt verbundene Wirtschaftskriminalität aufgedeckt und verfolgt wird, gewiss lange wird warten müssen“.5

Umso gespannter durfte man auf den vorliegenden Band sein, an dem federführend Rechtswissenschaftler der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster mitwirkten. Wer allerdings angesichts des Umfangs der Publikation, der Einsichtnahme in Akten und der Auswertung von „76 qualitativen Interviews“ eine umfassende Abrechnung mit den wirtschaftskriminellen Aktivitäten der Treuhand erwartet, wird enttäuscht sein. „Verlässliche quantitative Erhebungen über die Verbreitung der Privatisierungskriminalität waren nicht möglich“, schreiben die Autoren – neben den Herausgebern noch Kari-Maria Karliczek, Ingo Techmeier, Barbara Bischoff und Thomas Wiepen. Letzteres sei eigentlich auch „kein Ziel dieser Untersuchung“ gewesen, fügen sie hinzu (S. 647). Worum ging es Boers, Nelles und den anderen dann? Ihr Ausgangspunkt war das – außerhalb der Fachschaft offensichtlich wenig verbreitete – Wissen darum, dass „der Kenntnisstand über die Wirtschaftskriminalität in Deutschland und anderswo nach wie vor lückenhaft ist“. Das hat viel mit der Spröde des Untersuchungsgegenstands zu tun, aber auch mit „unzureichender begrifflicher Klarheit“ (S. 646). Beiden ist in diesem Buch der Kampf angesagt.

Es war das Wissen um die zahlreichen Fälle von Vereinigungskriminalität innerhalb der Treuhand und um die Existenz einer treuhandinternen Institution zur Verfolgung dieser Kriminalität, die Boers und seine Mitstreiter an das Thema des Buches heranführte, nicht unbedingt das Bestreben, die „Aufarbeitung der DDR-Geschichte“ bis in die 1990er-Jahre fortzusetzen. Wenn man so will, war die Wahl des Untersuchungsgegenstandes eine ganz pragmatische Entscheidung zugunsten eines Bereichs der Wirtschaftskriminalität, der eine besonders günstige Materiallage versprach. Die untersuchenden Rechtswissenschaftler kamen dabei rasch zur Erkenntnis, dass „die allermeisten der kriminologisch relevanten Privatisierungsabläufe […] im Kern nicht umbruchs- oder gar DDR-typisch“ waren (S. 646). Diese Erkenntnis steht in eklatanten Gegensatz zu frühen Veröffentlichungen über die Treuhandanstalt, in denen die innerhalb der Treuhand weiterhin existierenden „SED-Seilschaften“ bzw. „neue Seilschaften zwischen Westunternehmen und den alten Ost-Geschäftsführern zu hunderten existierten“ und Schäden in dreistelliger Millionenhöhe verursacht haben sollen.6

Detaillierter werden im Buch sechs Fälle von Wirtschaftskriminalität in Verbindung mit der Arbeit der Treuhandanstalt untersucht, die fast alle seinerzeit für Schlagzeilen in den Medien sorgte. Es handelt sich um die regionale Treuhandniederlassung Halle, den Wärmeanlagenbau Berlin, die Ostseewerften, das ehemalige Metallurgiehandelsunternehmen der DDR in Berlin, das Waschmittelwerk Genthin und das Getriebewerk Brandenburg. Anhand dieser Beispiele werden zwei Varianten von Wirtschaftskriminalität vorgeführt, auf deren Unterscheidung Wert gelegt wird: Unternehmenskriminalität und berufliche Kriminalität. Erstere Bezeichnung findet im Buch auf solche Straftaten Anwendung, die „Unternehmensbeschäftigte in Verfolgung des Unternehmensinteresses“ begehen. Zur beruflichen Kriminalität werden dagegen Straftaten gerechnet, durch die sich Angestellte in Ausübung ihres Berufs zum Nachteil ihres Unternehmens persönlich bereichern. In insgesamt neun umfangreichen Beiträgen wird von dieser Unterscheidung ausgehend zur Wirtschaftskriminalität in der Treuhandanstalt Stellung genommen. Es wird darauf hingewiesen, dass Fälle von Unternehmenskriminalität weitaus schwieriger nachzuweisen sind als die in der Öffentlichkeit vielfach mit Wirtschaftskriminalität schlechthin identifizierten Fälle, in denen wirtschaftliche Akteure aus persönlichem ökonomischen Interesse Straftaten begangen haben. Boers, Nelles und Theile stellen fest: Bei der Bekämpfung der Unternehmenskriminalität konnte es den Rechtsbehörden eigentlich nur darum gehen, selektiv zu ermitteln und womöglich zu bestrafen, um einen dämpfenden Einfluss auf die Versuchung, sich wirtschaftskriminell zu betätigen, auszuüben. Aber auch die Aufdeckung und Eindämmung von Straftaten, die aus persönlichem wirtschaftlichem Interesse begangen wurden, erwies sich als schwierig.

Die Probleme, die bei der Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität im Zuge der Privatisierung auftraten, werden dem Leser deutlich, wenn er die Ausführungen zur „Stabsstelle Besondere Aufgaben“ der Treuhandanstalt im Buch liest. Diese Stabstelle gab es keineswegs von Anfang an. Sie wurde im Februar 1991, acht Monate nach Beginn der Privatisierungen, unter dem Druck der Öffentlichkeit, die durch die Medien über eklatante Fälle von „Vereinigungskriminalität“ informiert war, mit nur einem Volljuristen besetzt, obwohl in diesem Zeitraum der größte Arbeitsanfall zu verzeichnen war. Die beschränkte personelle Ausstattung führte zu einem beständigen Konflikt zwischen der Stabsstellenleitung und der Leitung der Treuhandanstalt. Zahlreiche „Vorgänge“ blieben daher unbearbeitet liegen. Eine strategische Planung ihrer Tätigkeit konnte die Stabsstelle unter diesen Bedingungen, wie die in Interviews befragten Personen aus der Treuhandanstalt betonen, kaum entwickeln. Sie musste sich darauf beschränken, Fällen von besonderer Schadenshöhe und jenen von persönlicher Bereicherung, das heißt beruflicher Kriminalität, nachzugehen. Vom Gesamtumfang wirtschaftskrimineller Aktivitäten her gesehen blieb so das „tatsächliche Risiko einer Strafverfolgung deutlich begrenzt“ (S. 661).

In den Augen der Führung der Treuhandanstalt hatte die Stabsstelle auch keinesfalls ausschließlich der Aufdeckung und Aufklärung bereits begangener Delikte zu dienen, sondern mehr noch der Abschreckung potentieller Täter. Neben der Aufdeckungs- und Abschreckungsfunktion hatte die Stabsstelle nach Auffassung der Führung der THA noch eine dritte Aufgabe zu erfüllen: Sie sollte die Treuhandanstalt gegenüber Angriffen aus der Öffentlichkeit schützen. Dafür genügte bereits die bloße Existenz der Stabsstelle. Man konnte gegenüber den Medien stets argumentieren, dass man ja „den Staatsanwalt im Hause“ habe. Für die öffentliche Akzeptanz der Treuhandverkäufe war diese dritte Funktion der Stabsstelle, so wird eingeschätzt, von erheblicher Bedeutung.

Boers, Nelles und Theile haben nicht nur Zeitzeugen aus der Treuhandanstalt befragt, sondern auch Personen von der Staatsanwaltschaft und von der Polizei. Deren Urteil über die Stabsstelle fiel deutlich kritischer aus als das des befragten Treuhandpersonals. Während die ehemaligen Treuhandangestellten die Auffassung vertraten, dass die Stabsstelle kein „Feigenblatt“ für die Privatisierungsbehörde war, betonten die externen Zeitzeugen deren Alibifunktion, und sie waren häufig der Auffassung, dass die Aktivitäten der Stabsstelle eher der Verschleierung von Tatbeständen gedient hätten.

So wenig befriedigend die Ergebnisse der empirischen Untersuchungen über die Rolle der Wirtschaftskriminalität bei der Treuhandprivatisierung dem nach letzten Wahrheiten suchenden Leser auch vorkommen mögen, so muss doch anerkannt werden, dass der vorliegende Band durch gewonnene theoretische Klarheit und durch Erschließung weiterer empirischer Materialien, insbesondere durch Zeitzeugenbefragungen, wertvolle Voraussetzungen für zukünftige historische Forschungen im Sinne einer wirklichkeitsnahen Darstellung der Treuhandprivatisierung geschaffen hat.

Anmerkungen:
1 Vgl. z.B. Wolfgang Seibel, Verwalteten Illusionen. Die Privatisierung der DDR-Wirtschaft durch die Treuhandanstalt und ihre Nachfolger 1990-2000, Frankfurt am Main u.a. 2005.
2 Vgl. z.B. Günter Heribert Münzberg, Zu treuen Händen. Ein Insider-Bericht, Leipzig 2001.
3 Vgl. z.B. Ralph Hartmann, Die Liquidatoren. Der Reichskommissar und das wiedergewonnene Vaterland (3. ergänzte und aktualisierte Ausgabe), Berlin 2008, bes. S. 99-114.
4 Joachim Erbe, Die Sonderstabsstelle Recht, in: „Schnell privatisieren, entschlossen sanieren, behutsam stilllegen“. Ein Rückblick auf 13 Jahre Arbeit der Treuhandanstalt und der Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben, Berlin 2003, S. 367-378, hier S. 367.
5 Hans Modrow, Vorwort zur Erstausgabe, in: Hartmann, Die Liquidatoren, S. 18.
6 Heinz Suhr, Der Treuhand Skandal. Wie Ostdeutschland geschlachtet wurde, Frankfurt am Main 1991, bes. S. 127-135.

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