T. Bruttmann: "Aryanisation" économique et spoliations

Titel
"Aryanisation" économique et spoliations en Isère 1940-1944.


Autor(en)
Bruttmann, Tal
Anzahl Seiten
255
Preis
20 €
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bjoern Weigel, Deutsche Geschichte im 20. Jh. mit Schwerpunkt NS, Humboldt-Universität zu Berlin

Die Auseinandersetzung mit während der deutschen Besatzungszeit geraubtem Eigentum von Juden in Frankreich begann, wie in fast allen europäischen Staaten, erst relativ spät. 1997 beschloss die französische Regierung die Einsetzung einer Historikerkommission, die als Mission d’étude sur la spoliation des Juifs de France (kurz: Mission Mattéoli, nach ihrem Leiter Jean Mattéoli [1922-2008]) die Expropriation von Juden in Frankreich erforschen sollte. Die Kommission legte im April 2000 ihren Abschlussbericht vor.1 Doch auch einzelne Städte beschlossen die Einsetzung lokaler Untersuchungskommissionen, so unter anderem die Stadt Grenoble. Leiter der Grenobler Kommission wurde im Jahr 2000 Tal Bruttmann, der mit dem vorliegenden Werk den Abschlussbericht der Kommission vorlegt.

Das Buch beschäftigt sich jedoch nicht nur mit der Stadt Grenoble, die als größte Stadt ihres Départements freilich im Mittelpunkt steht, sondern mit der Enteignung von Juden im ganzen Département Isère. Dabei geht Bruttmann jedoch noch weit über diesen Raum (und den Buchtitel) hinaus. Aufgrund der im Prozess der „aryanisation économique“ – also der als systematisches Unternehmen geplanten Inbesitznahme des „jüdischen Eigentums“ sowie dessen Verkauf zugunsten des Vichy-Regimes – begründeten Kompetenzverteilung waren sowohl lokale als auch regionale sowie gesamtstaatliche Institutionen am Raub jüdischen Eigentums beteiligt. Daher liegt mit Bruttmanns Werk eine umfassende und sehr gründlich recherchierte Studie vor, die Anspruch erheben darf, die Enteignungsprozesse und die Vernichtung jüdischer Gewerbetätigkeit für die gesamte zunächst unbesetzte Zone Frankreichs erhellt zu haben. Die „aryanisation économique“ steht dabei in hohem Maße für „spoliation“: Beraubung.

Erster wesentlicher Punkt: Der Autor ist sich dessen bewusst, dass „Arisierung“ ein Terminus der NS-Sprache ist und – wie es das entsprechende Gesetz vom 22. Juli 1941 formulierte – auf die „élimination de l’influence juive dans l’économie nationale“ (Ausschaltung des jüdischen Einflusses auf die nationale Wirtschaft, S. 5) zielte. Daneben betont er ausdrücklich, dass Unternehmen, Geschäfte, Haustiere und was auch immer natürlich nicht „jüdisch“ sein können: „Il n’y a pas d’ « immeubles juifs » ou de « magasins juifs » mais des biens possédés par des personnes que la législation de Vichy (et en zone occupée, la législation nazie) a désigné comme étant de « race juive ». (S. 8; Es gibt keine „jüdischen Häuser“ oder „jüdischen Geschäfte“ sondern Eigentum von Menschen, die durch die Gesetze von Vichy [und in der besetzten Zone durch die NS-Gesetze] zur „jüdischen Rasse“ zugehörig erklärt wurden.)

Die drei zentralen Fragestellungen der Grenobler Historikerkommission drehen sich erstens darum, wer die Opfer der „aryanisation économique“ und der Enteignungen waren, zweitens, welche Güter enteignet wurden, und drittens, wie der Restitutionsvorgang verlief. Um sie zu beantworten, gliedert sich das Buch in fünf Kapitel, mit denen die ganze Bandbreite des Enteignungsprozesses abgedeckt werden soll. Im ersten Kapitel wird gezeigt, wie die „aryanisation économique“ von einem diffusen, auf einzelnen Ausschlüssen und mehr oder weniger willkürlichen Zugriffen beruhenden Prozess – der begann, noch bevor es überhaupt ein Gesetz darüber gab – mit der Gründung des „commissariat général aux Questions juives“ (CGQJ) zu einem vom Vichy-Regime angestrebten politischen Ziel wurde. Dieses Unterfangen war behördlicherseits zentral gesteuert, auch wenn es innerhalb der regionalen CGQJ-Stellen und unter den Mitarbeitern dieser Behörde keine einheitliche Linie zur Verfolgung und Enteignung von Juden gab (S. 11-38).

Das zweite Kapitel dreht sich um die Inbesitznahme von Unternehmen, wobei zunächst die von verschiedenen Behörden des Vichy-Regimes durchgesetzten Berufsverbote für Juden analysiert werden. Hier greift Bruttmanns Studie weit über Grenoble und das Département Isère hinaus, da zu den Unternehmen auch Zweigniederlassungen und Filialen gehörten und die Enteignungspraxis demzufolge je nach dem Stammsitz und dem Filialnetz in unterschiedliche Kompetenzbereiche von der lokalen Gewerbeaufsicht über die zuständige(n) Zweigstelle(n) des CGQJ und die Regierung in Vichy bis hin zum Besatzungsregime in Paris reichte (S. 82-91).

Im dritten Kapitel geht es schließlich um ein besonders heterogenes Feld, wenn die Enteignung von Immobilien behandelt wird. Bruttmann macht klar, dass allein die Reichweite der darunter gefassten Güter vom (unter Umständen noch im Bau befindlichen) Mietshaus bis zum darin befindlichen Küchentisch und von der Autowerkstatt bis zum Schraubenschlüssel gravierende Probleme bereitete. Dazu machte der relativ späte Beginn der Enteignungen auf diesem Gebiet den Verkauf enteigneter Immobilien im Kontext der sich immer rascher zuungunsten Deutschlands entwickelnden Kriegslage zunehmend unmöglich (S. 143-152). Immer wieder betont Bruttmann die Rolle der euphemistisch „administrateurs provisoires“ [kommissarische Verwalter] genannten Zwangsverwalter des Eigentums von Juden, von deren persönlichem „Engagement“ es sehr oft abhing, wie weit die Beraubung der unter Zwangsverwaltung gestellten Juden ging (S. 116-129). Wie die Gegen- und Verteidigungsstrategien der betroffenen Menschen gegenüber dem CGQJ (das die „administrateurs provisoires“ einsetzte) aussahen (S. 129-134), bekommt im Kontext besonders weit gehender Beraubungsversuche großes Gewicht: Die Enteignung von Wohnungen und Häusern, die Juden als persönliche Unterkunft nutzten, war zwar nominell nicht vorgesehen, doch konnte ein entsprechendes Interesse des „administrateur provisoire“ durchaus dafür sorgen, dass Menschen plötzlich ohne Aussicht auf eine Bleibe vor die Tür gesetzt wurden.

Kapitel vier behandelt den Zusammenhang von Enteignung und „Endlösung“, was nicht nur in Deutschland teilweise Hand in Hand ging, sondern eben auch im besetzten Frankreich. Die deutschen Besatzer und die französischen Arisierungs-Stellen waren sich zwar prinzipiell einig darüber, dass „verlassenes“ Eigentum – Eigentum von deportierten und ermordeten Juden – als „arisiert“ gelten könne. Wer jedoch davon profitieren sollte, war strittig. Die Deportationen auf Veranlassung der Besatzer griffen in den administrativen Prozess der „aryanisation économique“ ein, die Opfer dieser Politik waren noch über ihre Ermordung hinaus Gegenstand konkurrierender „Arisierungs“-Interessen. Dem Autor gelingt es eindrücklich nachzuweisen, welchen wichtigen Schritt die Enteignung der Juden auf dem Weg zu ihrer physischen Vernichtung darstellte, bis sie ab 1942 immer häufiger Teil desselben Prozesses wurde.

In Kapitel fünf zieht Bruttmann schließlich Bilanz – und konzentriert sich hierbei wieder ausschließlich auf das Département Isère: Von den 72 Fällen, in denen Unternehmen bis zur Befreiung Frankreichs zur „aryanisation économique“ bestimmt waren, wurden 69,4% auch tatsächlich „arisiert“. Von den 14 Fällen, in denen der Privatbesitz von Juden „arisiert“ werden sollte, endeten acht im Sinne der Verfolger. Doch bei Immobilieneigentum konnten bei 56 Fällen nur 13 zum Abschluss gebracht werden (S. 169). Diese Zahlen wirken zunächst, als wenn der Politik der „aryanisation économique“ kein großer Erfolg im Sinne des Vichy-Regimes beschieden gewesen sei. Das Verdienst von Bruttmanns Werk ist es jedoch, diese Politik als singulären Prozess in der französischen Geschichte im Detail analysiert zu haben und dabei nie aus dem Blick zu verlieren, dass das Ziel der „aryanisation économique“ zuerst jüdische Menschen waren – und erst in zweiter Linie ihr Eigentum. Dies macht auch die Tatsache deutlich, dass jüdische Eigentümer bereits mit der Ernennung eines „administrateur provisoire“ keinerlei Zugriff oder Verfügungsgewalt über ihr Eigentum mehr hatten. Ob das geraubte Gut dann tatsächlich an einen Nicht-Juden übertragen wurde, machte für die Beraubten also gar keinen Unterschied. Erst dadurch wird die Tragweite des Verbrechens deutlich, dem sich – auch in Grenoble und dem Département Isère – die Juden Frankreichs ausgeliefert sahen. Die immer wieder betonte Erkenntnis, dass die deutschen Besatzer in diesem Gebiet gar nicht vor Ort waren und die „aryanisation économique“ in der unbesetzten Zone ein – wenn auch von den Deutschen gedeckter und im Kontext der deutschen Besatzung Frankreichs stattfindender – von französischen Behörden initiierter und durchgesetzter Prozess war, verdeutlicht, in welchem Maße sich die französische Historiografie um die Analyse der eigenen Geschichte bemüht. Unterstrichen werden diese Bemühungen – und auch ihre große Unterstützung von politischer Seite – dadurch, dass die Stadt Grenoble im Juni 2010 Veranstalter der ersten internationalen Historikertagung zur Enteignung und Beraubung der Juden im nationalsozialistisch beherrschten Europa war 2 und an prominenter Stelle eine große Ausstellung zu diesem Thema zeigte.3

Ergänzt wird das Buch durch 739 Fußnoten, die fast alle aus Primärquellen (vor allem: Archives nationales, Paris, und Archives départementales de l’Isère, Grenoble) stammen – auch dies ein Hinweis darauf, wie wenig die lokale und regionale Ebene der Beraubung der Juden in Frankreich bisher erforscht sind. Ein umfangreicher, mehr als 30 Seiten langer Anhang bietet unter anderem Auszüge zu Berufsverboten für Juden aus einschlägigen Gesetzestexten, Abdrucke von Originaldokumenten und Tabellen aus den Archiven.

Einer der großen Vorteile des Buches ist es, alle Meta-Überlegungen zum Prozess der „aryanisation économique“ mit Beispielen und konkreten Tatbeständen aus dem reichhaltigen Aktenmaterial zu füllen. Für den nicht mit der Topographie der Stadt Grenoble vertrauten Leser wird es manchmal etwas zu detailreich – Bruttmann unterfüttert sämtliche Beispiele mit der genauen Adresse der Betroffenen, manchmal auch mit kurzen Lebensläufen. Doch verdeutlicht diese Herangehensweise die Absicht des Autors, die von den Enteignungsmaßnahmen betroffenen Menschen auch als handelnde Individuen darzustellen. Bruttmann beschreibt ihre Gegenstrategien, zitiert aus ihren Versuchen, Hab und Gut zu retten, und so kann derjenige, der Grenoble kennt, ein sehr genaues und plastisches Bild vom konkreten Lebensumfeld der Menschen gewinnen. Hinzu kommen zahlreiche Tabellen und Grafiken, in denen Gesagtes veranschaulicht bzw. in Relation zu bereits vorher beschriebenen Sachverhalten gesetzt wird. Die gegebenen Informationen werden so permanent gewichtet. Trotz der Detailfülle und der Gefahr, den einen oder anderen der zahllosen (anonymisierten Nach-) Namen zu verwechseln, verliert man als Leser nicht den Überblick und der Autor nie seinen roten Faden.

Tal Bruttmann ist zweifellos einer der genauesten Kenner der „aryanisation économique“. Bereits seit 2001 hat er einschlägige Studien zum Thema vorgelegt.4 Auch die hier vorliegende Studie ist eine höchst kompetent geschriebene Abhandlung über ein hierzulande noch viel zu wenig beachtetes Thema. Die sehr ins Detail gehende Arbeit ist aufgrund der an Beispielen und mikrohistorischen Prozessen orientierten Herangehensweise eine wesentliche Ergänzung zum Abschlussbericht der Mission Mattéoli.

Anmerkungen:
1 Mission d'étude sur la spoliation des Juifs de France, Rapport Général, Paris 2000.
2 Vgl. den Tagungsbericht von Bjoern Weigel, Spoliés ! Aryanisation économique et spoliation des juifs dans l’Europe nazie (1933-1945), in: H-Soz-u-Kult 09.07.2010.<http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=3184>(31.8.2011)
3 Ein Begleitbuch zur Ausstellung mit internationalen Forschungsaufsätzen ist ebenfalls erschienen: Tal Bruttmann (Hg.), Spoliés ! L’ „Aryanisation“ économique 1940-1944, Grenoble 2010.
4 Tal Bruttmann, Spoliations liées à l’internement et à la déportation des Juifs par Vichy, Grenoble 2001; Ders., La logique des bourreaux, Paris 2003; Ders. (Hg.), Persécutions et spoliations des Juifs pendant la Seconde Guerre mondiale, Grenoble 2004.

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