D. Rigoll: Staatsschutz in Westdeutschland

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Titel
Staatsschutz in Westdeutschland. Von der Entnazifizierung zur Extremistenabwehr


Autor(en)
Rigoll, Dominik
Reihe
Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts 13
Erschienen
Göttingen 2013: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
524 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Patrick Wagner, Institut für Geschichte, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Die Integration der nationalsozialistischen Funktionseliten in das Institutionengefüge der frühen Bundesrepublik ist vielfach beschrieben worden. Bei aller Kritik an der moralischen Ungeheuerlichkeit dieses Prozesses haben die Historiker ihn doch im Wesentlichen in jenes Erfolgsnarrativ der bundesdeutschen Geschichte eingefügt, das den meisten heute als unabweisbar erscheint. Denn strahlt diese Erfolgsgeschichte nicht umso heller, desto klarer man sieht, dass an ihrem Startpunkt ein von Schwerkriminellen durchsetztes administratives Personal stand? Wer glaubt, dieses Erfolgsnarrativ sei alternativlos, kann bei der Lektüre des Buches von Dominik Rigoll die Frühgeschichte der Bundesrepublik noch einmal neu sehen lernen. Wo andere Pluralisierung und Westernisierung betonen, zeichnet der Jenaer Historiker (nicht stattdessen, aber daneben) einen Prozess der Entliberalisierung nach, der die Bundesrepublik um 1975 markant von anderen westlichen Gesellschaften unterschieden habe.

Rigoll gewinnt seine neue Interpretation, indem er den Prozess der Renazifizierung des Staatsapparats seit 1949 vom Fluchtpunkt der 1970er-Jahre her deutet, als sich dieser Apparat mit Hilfe der „Berufsverbote“ gegen kommunistische Briefträger und Lehrerinnen abschottete. Den roten Faden bildet die Frage, nach welchen politischen Kriterien und mit welchen Folgen zu unterschiedlichen Zeitpunkten zwischen 1949 und 1979 der Zugang zum bundesdeutschen Staatsdienst reguliert wurde (insofern kann der Titel falsche Erwartungen wecken). Zusammengefasst lautet der Befund: Am Anfang der 1950er-Jahre setzte die Regierung Adenauer zum einen durch, dass die NS-Vergangenheit von Staatsdienern nicht als Indikator einer potentiell mangelnden Loyalität gegenüber der neuen Demokratie betrachtet werden dürfe. Zum anderen aber müsse der Staatsdiener in der Bundesrepublik aufgrund der Treuepflicht gegenüber dem Staat auf sein Grundrecht freier politischer Betätigung verzichten, sofern diese Betätigung in Kontexten stattfinde, die seine Vorgesetzten für verfassungsfeindlich hielten. Die Berufsverbote der 1970er-Jahre waren nur die späte Konsequenz dieser Leitlinie, die zwar von ihren Protagonisten als „antitotalitär“ etikettiert wurde, sich in der Praxis aber einseitig gegen die Linke richtete.

Für die 1950er-Jahre beschreibt Rigoll die diskursiven Bedingungen, unter denen sich die Reintegration der etwa 200.000 von den Alliierten mit Berufsverboten belegten Offiziere, Beamte und Richter in den westdeutschen Staatsapparat vollzog: Sie wurde begleitet von einer Tabuisierung der Frage, ob vordem engagierte Diener des nationalsozialistischen Staats eine hinreichende Gewähr für Verfassungstreue bieten mochten. Der Wiederaufstieg der NS-Beamten (Rigoll nennt sie aufgrund des Beginns ihrer zweiten Karriere „49er“) ging sehr konkret zu Lasten der 1945 von den Alliierten in den Staatsdienst eingestellten Demokraten (von Rigoll als „45er“ bezeichnet). Deren Karrieren endeten während der 1950er-Jahre zumeist in Sackgassen, auf Abstellgleisen oder am einflusslosen Rand der Institutionen. Indem Rigoll diese Entwicklung von den Erfahrungen der „45er“ her beschreibt, gewinnt er wiederum eine innovative Perspektive.

Die etwa zeitgleich beginnende und am Beginn der 1960er-Jahre kulminierende Verfolgung von Kommunisten als der vermeintlichen „Verfassungsfeinde“ par excellence führte dazu, dass ehemalige SS-Führer aus Himmlers Polizei und Juristen des NS-Unrechtsstaats die demokratische Verfassung gegen Menschen schützten, die sie vor 1945 als Feinde des NS-Staats verfolgt hatten. Auch wenn diese Konstellation bereits vielfach dargestellt worden ist, so bietet Rigoll doch auch hier eine neue Sicht. Denn er entwickelt die These, dass die in der Bundesrepublik (im Vergleich zu anderen westlichen Staaten) besonders rabiate Verfolgung der Kommunisten nicht zuletzt darauf zurückzuführen sei, dass die in Justiz und Sicherheitsbehörden dominierenden „49er“ ein „materielles Interesse“ daran gehabt hätten, „die einzige politische Gruppierung von Relevanz mundtot zu machen, die weiterhin in aller Öffentlichkeit aus der NS-Belastung eines Beamten […] dessen mangelnde Eignung ableitete“ (S. 15).

Die Generationenfolge der Bundesrepublik beschreibt Rigoll anders, als es das Gros der jüngeren Forschung getan hat. Diese hat die Bedeutung der „68er“ für die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus stark relativiert und herausgestellt, dass eine kritische Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit der bundesdeutschen Funktionseliten bereits um 1960 eingesetzt habe und von der Alterskohorte der um 1930 Geborenen in Gang gebracht worden sei, nicht aber von den deutlich jüngeren „68ern“. Für die von ihm untersuchten Debatten kommt der Verfasser zu einer konträren Bewertung: Den „49ern“ in Justiz und Behörden sei es gelungen, ihre „antikommunistische Intransigenz“ an die nachrückende „HJ-Generation“ zu tradieren, der es aufgrund ihrer „fehlende[n] Verfolgungserfahrung“ unproblematisch erschienen sei, die Gefährdung der Demokratie einseitig bei der Linken zu verorten, das antidemokratische Potential ihrer Ausbilder aber zu übersehen (S. 15f.). Die „68er“ dagegen hätten den Skandal der nach 1949 stattgefundenen Renazifizierung in das gesellschaftliche Bewusstsein zurückgeholt.

Die vehemente konservative Kritik an den Demokratisierungsimpulsen der frühen 1970er-Jahre wie die mit dem Radikalenerlass von 1972 beginnenden Berufsverbote interpretiert Rigoll so als Koproduktion der „49er“ und der „HJ-Generation“ in Politik, Justiz und Innenbehörden. Unter Schlagworten wie „streitbare Demokratie“ oder „antitotalitärer Konsens“ hätten sie erneut einseitig die der Verfassungsordnung von links drohende Gefahr dramatisiert und zugleich ihre Gefährdung durch die nur oberflächlich zu Demokraten mutierten „49er“ tabuisiert. In der Folge habe sich die gerade erst „westernisierte“ Bundesrepublik wieder deutlich von den politischen Kulturen ihrer Partner entfernt. Allein zwischen 1973 und 1978 wurden rund 1,3 Millionen Bewerber um Stellen des öffentlichen Dienstes im Zuge der so genannten „Regelanfrage“ vom Verfassungsschutz überprüft. Wegen ihrer Gesinnung zurückgewiesen wurden in dieser Zeit letztlich zwar nur etwa 1.000 Personen, aber der Einschüchterungseffekt reichte weit darüber hinaus. Rigoll charakterisiert das als einen westdeutschen Sonderweg der „Entliberalisierung“. Eindrücklich skizziert der Verfasser diesen Prozess am Beispiel des Bundesverfassungsgerichts: Habe das Gericht in den 1950er- und 1960er-Jahren noch in mehreren Urteilen den Vorrang individueller Grundrechte vor einer Loyalitätspflicht gegenüber dem Staat unterstrichen, so habe es diese Hierarchie ab etwa 1970 umgekehrt. Darin erkennt Rigoll das von ihm generell angenommene Muster: Das Gericht habe solange liberal geurteilt, das heißt zugunsten des individuellen Grundrechtsschutzes, wie es von früheren NS-Gegnern dominiert worden sei; es habe diese Haltung revidiert, als auch in ihm ehemalige NS-Staatsanwälte und Richter an Einfluss gewannen.

Nach der Lektüre legt man das Buch einerseits zufrieden zur Seite: Man hat viel Neues erfahren bzw. Bekanntes aus einer neuen Perspektive kennengelernt. Der virtuelle Notizzettel ist voll mit Anregungen und produktiven (Nach-)Fragen. Insofern ist diese Studie jedem an der Geschichte der Bundesrepublik Interessierten unbedingt zu empfehlen. Andererseits bleiben durch Rigolls Argumentationstechnik einige Irritationen zurück.

Erstens unterlaufen ihm Fehler im Detail, die jeweils geeignet sind, das Geschilderte zu dramatisieren. Zwei Beispiele: Den Generalinspekteur der Bundeswehr Friedrich Foertsch führt er als vormaligen „Generalstabschef der Wehrmacht“ ein (S. 172). Gemeint ist vielleicht, dass Foertsch 1943/44 Stabschef der vor Leningrad eingesetzten 18. Armee war. Den früheren SS-Sturmbannführer Kurt Amend befördert Rigoll posthum zum Leiter des Bundeskriminalamts (S. 181), was Amend im realen Leben nie widerfahren ist (vielmehr war er Chef-Fahnder des BKA, wie zuvor schon im Reichskriminalpolizeiamt). Rigoll reproduziert hier die zeittypischen Unschärfen seiner Quellen im Umgang mit dem Nationalsozialismus, statt sie selbst zum Gegenstand der Untersuchung zu machen.

Zweitens präsentiert der Autor einige Thesen, zu denen ihm schlicht die Belege fehlen und die Attraktivität nur dadurch gewinnen, dass sie so schön in die große Interpretationslinie der Studie passen würden. So glaubt Rigoll beispielsweise in der „Spiegel-Affäre“ von 1962 einen „personalpolitischen Kern“ (S. 176) zu erkennen: Von der Bundesanwaltschaft ausgehend sei es darum gegangen, ein Magazin einzuschüchtern, das in den Monaten zuvor immer wieder die „biographischen Eignungsmängel“ von Offiziellen mit NS-Vergangenheit publik gemacht hatte (S. 468). Belege hat der Verfasser nicht zu bieten, was der These in seinen Augen aber keinen Abbruch tut, da selbst „Spiegel“-Herausgeber Rudolf Augstein darauf „verzichtet“ habe, „diesen Aspekt der Affäre auch offen zu benennen“ (S. 175). Dass die „justizielle Abschreckung“ gegenüber der Veröffentlichung der NS-Vergangenheit bundesdeutscher Funktionsträger „funktioniert“ habe (S. 468), erscheint allerdings als ziemlich gewagte Deutung, wie ein Blick auf die folgenden Jahrgänge (nicht nur) des „Spiegels“ zeigt. Rigoll, dessen Argumentation in den großen Linien dennoch überzeugend bleibt, erweckt an solchen Stellen ohne Not den Eindruck, er passe im Zweifelsfall eher die Quellen seiner These an als umgekehrt.

Drittens ersetzt der Verfasser mitunter nachprüfbare Argumentationen durch freie Assoziationen. Über den CSU-Politiker Franz Josef Strauß schreibt Rigoll, dieser sei vor 1945 Mitglied im NS-Kraftfahrerkorps und in der Wehrmacht als NS-Führungsoffizier aktiv gewesen. Im Anschluss referiert der Verfasser eine an Adenauer adressierte Warnung des US-Hochkommissars McCloy von 1949 vor der „‚Rückkehr von führenden Persönlichkeiten‘ der NS-Zeit ‚in wirklich bedeutende Positionen‘“. Rigoll fährt fort, damit habe McCloy „nicht […] Strauß im Sinn“ gehabt (S. 51), lässt den Leser aber im Unklaren, was er selbst hier eigentlich im Sinn hat – dass Strauß eben doch eine „führende Persönlichkeit“ des NS-Regimes gewesen sein könnte? Über die NS-Vergangenheit von Günther Nollau, ab 1972 Chef des Bundesamts für Verfassungsschutz, teilt Rigoll völlig korrekt mit, dass dieser Mitglied der NSDAP gewesen war, seit 1941 als Rechtsanwalt in Krakau gearbeitet und unter anderem polnische Klienten vertreten hatte. Dann aber spielt der Verfasser mit Andeutungen: Nach 1945 sei Nollau „strafrechtlich gesehen […] nichts vorzuwerfen“ gewesen, aber immerhin seien „während seines Aufenthalts“ in Krakau die Juden der Stadt ermordet worden. „Welche Rolle diese Aspekte seiner Biographie im Herbst 1950 gespielt hatten, als er sich erfolgreich beim Bundesamt für Verfassungsschutz bewarb“, habe Nollau in seinen 1979 publizierten Memoiren nicht geschildert (S. 345f.). Was will der Historiker damit eigentlich sagen?

In der Summe: Dominik Rigoll hat ein anregendes, Quellen gegen den Strich lesendes und sich dem historiographischen Mainstream klug entziehendes Buch geschrieben. Das verdient Anerkennung und vor allem Interesse. Manche methodischen Schwächen seiner argumentativen Verve hätte der Autor jedoch vermeiden können.

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