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Titel
Nero. Der römische Kaiser und seine Zeit. Mit einem Geleitwort von Alexander Demandt


Autor(en)
Krüger, Julian
Erschienen
Köln 2012: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
654 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthäus Heil, Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften

Mit 578 Textseiten ist Julian Krügers Werk das umfangreichste aller Nero-Bücher. Doch präsentiert es seinen Gegenstand in einer Weise, die eigentlich in ein anderes Zeitalter gehört. Denn zum überwiegenden Teil ist Krügers Darstellung nichts weiter als eine weitschweifige Paraphrase der Nero-Bücher von Tacitus’ Annalen (11,64–16,35). Die Abhängigkeit reicht noch tiefer, als es die Fußnoten zu erkennen geben. Man kann den Tacitus-Text danebenlegen und mitlesen – Abschnitt für Abschnitt, Satz für Satz, Wort für Wort. Selbst die Vorzeichen, die Tacitus erwähnt, werden getreulich wiedergegeben (S. 156); Krüger spricht sogar davon, dass „die Götter“ Unwetter und Seuchen geschickt hätten (S. 305), wo Tacitus dies tut. Entsprechend ist Krügers Werk – wie seine Vorlage – annalistisch aufgebaut, also einfach nach Jahren gegliedert. Krüger übernimmt auch das Menschenbild des Tacitus: Die handelnden Personen hätten ein feststehendes wahres Wesen, das sich nach und nach enthülle – was heißt, dass es für ihn keine charakterliche Entwicklung, keine innere Biographie gibt.

Für die beiden letzten Regierungsjahre Neros sind Tacitus’ Annalen allerdings nicht erhalten. Hier folgt Krüger in analoger Weise Sueton und Cassius Dio. Eingelegt ist ferner eine Schilderung des Jüdischen Kriegs (an dem Nero selbst nicht teilgenommen hat) im Umfang von insgesamt nicht weniger als 95 Seiten. Krüger paraphrasiert hier die Werke des Flavius Josephus – obwohl er selbst wiederholt betont, dass Josephus’ Glaubwürdigkeit in Zweifel steht. Ferner gibt es einen Exkurs zum frühen Christentum (S. 240–272), der vor allem auf einem Werk des Universalhistorikers Eduard Meyer (letzte Auflage 1924) beruht, sowie einen zur stoischen Philosophie, der fast zur Gänze aus Zitaten aus dem Handbuch von Eduard Zeller (zuletzt 1923) zusammengestellt ist.1 In einem letzten Teil (S. 499–578) werden in der Manier Suetons die Person und Lebenswelt Neros nochmals in thematischer Ordnung besprochen, wobei sich vieles wiederholt. Angefügt ist ein Abriss der antiken Quellen und des neuzeitlichen Nero-Bildes; bei Letzterem konzentriert sich der Verfasser auf ältere deutschsprachige Werke. Ein Anhang zu den Konsuln der neronischen Zeit (S. 581–587) krankt daran, dass der Verfasser viele Zeugnisse und Untersuchungen, die in den letzten Jahrzehnten publiziert wurden, nicht kennt.2

Die nicht-literarischen Quellen, also die Münzen und Inschriften sowie die archäologischen Zeugnisse, werden nur gelegentlich berücksichtigt. Auch die moderne Forschung zu Nero nimmt der Verfasser nur sehr selektiv zur Kenntnis, und etliche Standardwerke scheinen ihm nicht bekannt zu sein.3 Fast gänzlich unbeachtet bleiben die philologischen Untersuchungen zu Tacitus und den anderen antiken Autoren. Krüger scheint mehr die älteren Darstellungen zu lieben, so etwa neben Meyer und Zeller das oft zitierte Nero-Buch von Hermann Schiller von 1872.4

Dass Krügers Werk kaum etwas zur heutigen Forschung beiträgt, braucht nicht eigens gesagt zu werden. Es enthält zudem nicht wenige Sachfehler.5 Bei den institutionen- und sozialgeschichtlichen Rahmenbedingungen bleibt vieles blass und vage. Was „Ritter im Senatorenrang“ (S. 308) sein sollen, erklärt der Verfasser etwa nicht. Es stellt sich dabei die Frage, wie sich ein solch merkwürdiges Buch überhaupt erklären lässt. Vermutlich folgt Krüger einer Auffassung von der Aufgabe des Historikers, wie sie seit den Zeiten Niebuhrs und Rankes eigentlich nicht mehr üblich ist – nämlich dass die Darstellung einfach den besten Autoren zu folgen habe, also den zuverlässigsten antiken Gewährsmännern und ersatzweise den bewährten neuzeitlichen Handbüchern. Dass Tacitus die relativ beste unter den erhaltenen literarischen Quellen ist, steht außer Frage. Doch Krüger folgt ihm unreflektiert und erklärt ihn für stets zuverlässig. Anscheinend nimmt er nicht wahr, dass auch und gerade die ‚guten‘ literarischen Quellen ein durchgestaltetes Bild, eine Deutung der Geschichte liefern und daher der kritischen Aufarbeitung bedürfen. Bereits bei der aufmerksamen Lektüre hätte dies auffallen sollen. Zum Beispiel wählte Tacitus bewusst die alte Form der Annalen (Jahrbücher) aus der Zeit der Republik, um die Geschichte seiner eigenen Epoche gerade nicht als Abfolge von Kaiserbiographien darzustellen. So ist es eigentlich paradox, Tacitus als das Grundgerüst für eine Kaiserbiographie zu benutzen.

Laut Klappentext wendet sich das Buch auch an ein breiteres Publikum. Doch fragt es sich, ob ein Leser, der nicht vom Fach ist, daran viel Vergnügen finden wird. Von taciteischer Prägnanz ist hier nichts zu finden. Zudem hat Krüger eine große Vorliebe für eine altertümliche Ausdrucksweise – man liest von „Ergötzlichkeiten“, „Ausschweifungen“, „Zügellosigkeit“, „Missetaten“, den „buhlerischen Künsten einer Ehebrecherin“ oder auch der „stimmungsabhängigen Wankelmütigkeit des griechischen Volksgeistes“ (S. 401). Dem Verfasser unterlaufen auch sprachliche Missgriffe wie „entsittlichte Terroristen“ (S. 448) oder „erlesene Folteranwendungen“ (S. 284). Selbst der Begriff „völkisch“ (statt ethnisch) hat sich eingeschlichen (S. 262 u. 336). Dass der Text nachlässig lektoriert wurde, zeigen auch die vielen Kommafehler. Warum also sollte man das Buch lesen? Der Rezensent hat keine Antwort gefunden.

Anmerkungen:
1 Eduard Meyer, Ursprung und Anfänge des Christentums, 3 Bde., 3./4. Aufl., Stuttgart 1924; Eduard Zeller, Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung, 6 Bde., 5. Aufl., Leipzig 1923.
2 So die 1959 gefundenen Wachstafeln aus Pompeii, zusammenfassend publiziert von Giuseppe Camodeca, Tabulae Pompeianae Sulpiciorum, Roma 1999. Mittlerweile steht auch fest, dass Seneca 55 (nicht 56) n.Chr. Konsul war.
3 In Krügers Anmerkungen vermisst man z.B. die Münzcorpora „Roman Imperial Coinage“ und „Roman Provincial Coinage“, ferner John Scheid, Commentarii fratrum Arvalium qui supersunt, Rome 1998. Außerdem wird Emil Schürer, Geschichte des Jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi, 2 Bde., 3./4. Aufl., Leipzig 1901–1907 statt der vollständigen Neubearbeitung zitiert (Emil Schürer, The History of the Jewish People in the Age of Jesus. A New English Version rev. and ed. by Geza Vermes – Fergus Millar, Edinburgh 1973–1987).
4 Hermann Schiller, Geschichte des Römischen Kaiserreichs unter der Regierung des Nero, Berlin 1872.
5 Nur einige Beispiele: Agrippina hat Crispus Passienus nicht erst 44 n.Chr. geheiratet (S. 20 u. 56); die XVviri sacris faciundis waren nicht „für die Opfer“ zuständig (S. 61); eine relatio war keine „Willensmeinung“ des Senats (S. 167); ein legatus Augusti pro praetore war weder ein „Propraetor“ (S. 199) noch ein „Proconsular“ (S. 317); IG II/III² 5034 belegt keine Bautätigkeit Neros in Athen (S. 237); Barea Soranus war nicht der Schwiegersohn von Thrasea Paetus (S. 311 u. 319); die Inschrift „Revue Archeol. XIII 1866 S. 154 (non vidi)“ (so S. 319, Anm. 62) ist längst als IG XII 1, 91 publiziert; Salvidienus Orfitus war Proconsul von Africa, nicht von Asia (S. 387); Safran ist mit „wohlriechende goldfarbene Substanz aus Kilikien“ (S. 452) wohl falsch beschrieben; Nero hat keine „Autonomieerklärung“ für Griechenland erlassen (S. 557f.), sondern der Provinz die Freiheit gegeben. Ferner kann man Jesus nicht gut als den „ersten Märtyrer“ des Christentums (S. 258) bezeichnen.

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