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Titel
Bürger unter sich. Phylen in den Städten des kaiserzeitlichen Ostens


Autor(en)
Kunnert, Ursula
Reihe
Schweizerische Beiträge zur Altertumswissenschaft 39
Erschienen
Basel 2012: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
VIII, 380 S.
Preis
€ 82,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Eckhard Meyer-Zwiffelhoffer, Historisches Institut, FernUniversität in Hagen

Die Bürgerschaft war in den selbstverwalteten Stadtgemeinden der griechischen Welt, den Poleis, in Phylen gegliedert. Deren Organisation, die am besten für das klassische Athen dokumentiert ist, regelte die Partizipation der Bürger am politischen Leben: Die Phylen – oder ihre Untergliederungen, etwa die Demen – führten die Bürgerlisten; auf ihrer Grundlage wurde das Heeresaufgebot bestellt und die Wahl oder Auslosung von Ratsmitgliedern, Amtsträgern und Richtern vorgenommen. Darüber hinaus besaß jede Phyle als Verband von Phylengenossen (phylétai) eigene Ämter, Institutionen und Kulte. Eine analoge Funktion erfüllten die tribus in den Städten römischer Rechtsform.

Das Werk von Ursula Kunnert, eine beeindruckende Züricher Dissertation, befasst sich nicht mit der bereits gut erforschten Phylenorganisation in den Poleis der klassischen (und zum Teil auch der hellenistischen) Zeit, ihr Fokus ist auf die bisher vernachlässigten kaiserzeitlichen Städte gerichtet. Trotz verschiedener Spezialstudien zur Phylenorganisation in einzelnen Poleis fehlte bislang eine umfassende Gesamtdarstellung dieser Institution für die Kaiserzeit, die diese eigenständig – und nicht nur als Ausblick bzw. als eine sich im Niedergang befindende Einrichtung – darstellt. Kunnert betrachtet ihre Untersuchung daher zu Recht als notwendige Ergänzung und Vertiefung der Arbeit von Nicolas F. Jones zu den griechischen Phylen.1 Sie konzentriert sich auf die östlichen Provinzen des Römischen Reiches, wobei Achaea und Creta et Cyrenae nicht behandelt werden. Die Begründung, diese Regionen seien von Jones ausreichend untersucht worden, überzeugt nicht ganz.

Die Phylenorganisation in den kaiserzeitlichen Städten der östlichen Provinzen des römischen Reiches zu untersuchen, stellt die Verfasserin vor ein Quellenproblem: Anders als für das klassische Athen, für das Aristoteles’ Schrift Athenaíōn Politeía unschätzbare Informationen zu den Phylen bietet, fehlt für die kaiserzeitlichen Städte jegliche literarische Überlieferung zum Thema. Die Untersuchung basiert daher auf etwa 600 Inschriften und 500 Papyri, in denen sich Hinweise auf die Phylenorganisation in 85 (von ungefähr 500) Poleis finden. Doch auch die Inschriften sind weniger aussagekräftig als in hellenistischer Zeit: Viele Vorgänge – etwa die Aufnahme in eine Phyle oder deren Beschlüsse – wurden in der Kaiserzeit nicht mehr auf Stein publiziert, so dass die Verfasserin zu Analogieschlüssen gezwungen ist. Allein die ägyptischen Papyri geben noch Einblicke in das innere Leben der Phylenverbände, doch stellt sich hier die Frage, inwieweit die ägyptischen Verhältnisse für die anderen Provinzen verallgemeinert werden können.

Nach der Einleitung (Kapitel I: S. 1–14), in der die genannten Probleme diskutiert werden, und einem forschungsgeschichtlichen Überblick (Kapitel II: S. 15–18) geht Kunnert zunächst auf die Terminologie ein (Kapitel III: S. 19–36). In Absetzung von anderen Bedeutungen des Begriffs, etwa als gängige Bezeichnung für ‚Stamm‘, definiert sie ‚Phyle‘ als „größte Untereinheit der öffentlichen Organisation einer griechischen Polis“ (S. 19). Da der Begriff in den Quellen jedoch auch für private Verbände gebraucht wird, übernimmt sie die Kriterien, die Jones zur Unterscheidung von politischen und privaten Verbänden innerhalb einer Polis entwickelt hatte: Phylen im politischen Sinne sind demnach öffentliche Verbände, deren Aufgaben auf die Selbstverwaltung der Polis bezogen waren; sie zeichneten sich durch eine in der Regel lebenslange Zwangsmitgliedschaft aus. Damit unterscheiden sie sich kategorial von Vereinen und Genossenschaften, die auf freiwilliger Basis den privaten Interessen ihrer Mitglieder dienten.

Kapitel IV (S. 37–216) bildet das Herzstück der Arbeit, in dem Kunnert auf neuestem Forschungsstand sämtliche Quellen zu den Phylen in den kaiserzeitlichen Poleis präsentiert. Da viele der hier behandelten Inschriften und Papyri mehr Fragen als Antworten aufwerfen und daher in ihrer Deutung umstritten sind, erörtert die Verfasserin höchst kundig die damit verbundenen Probleme, wobei sie auch Quellen aus hellenistischer und klassischer Zeit heranzieht, wenn dies zum Verständnis der kaiserzeitlichen Zeugnisse nötig erscheint. Die wichtigsten kaiserzeitlichen Inschriften, die Phylen bezeugen, sind Sitzplatz- bzw. Toposinschriften für Phylenmitglieder im Stadion oder im Theater (wo die Volksversammlung tagte), Phylenangaben auf Grabinschriften, Weihungen von Phylen oder Phylenmitgliedern an Gottheiten und Kaiser, Ehrenmonumente von Phylen für Wohltäter und schließlich Stiftungen, Speisungen und Geldverteilungen, bei denen die Phylenmitglieder bedacht wurden. Gegliedert ist die Aufbereitung der Überlieferung nach Provinzen und innerhalb dieser nach Regionen und deren Poleis. Beginnend mit Macedonia und Thracia im Norden werden die Provinzen bis Aegyptus im Süden behandelt, wobei Cappadocia kommentarlos fehlt und für Cilicia bisher keine Zeugnisse vorliegen.

In den folgenden drei Kapiteln wertet Kunnert ihren Befund systematisch aus: Kapitel V (S. 217–259) gilt der Organisation der Polisbürger in den Phylen. Dabei lässt sich festhalten, dass die Phylen zumeist Personenverbände waren, die in nur wenigen Städten auch eine territoriale Verankerung besaßen. In den meisten Poleis scheint die Phylenorganisation (bezeugt sind zwischen 4 und 18 Phylen) die einzige politische Gliederung gewesen zu sein; nur in einigen größeren Städten finden sich auch Untergliederungen der Phylen in Demen, Chiliastyen oder andere Einheiten. Nicht immer ist dabei das Verhältnis der Phylenorganisation zu den Dorfgemeinden auf dem Territorium der Polis klar. Die Mitgliedschaft in den Phylen durch Geburt oder Einbürgerung kann nur in Analogie zur hellenistischen Zeit erfasst werden, da einschlägige kaiserzeitliche Zeugnisse fehlen. Benannt waren die Phylen nach Göttern und Heroen, nach hellenistischen Monarchen und Mitgliedern der Kaiserfamilie, nach städtischen Aristokraten und Wohltätern, aber auch mittels Toponymen; häufig sind mehrere dieser Benennungsweisen in einer Stadt kombiniert. Deutlich wird auch, dass die Anzahl der Phylen bzw. deren Benennung sich je nach den politischen Verhältnissen ändern konnte; die Verfasserin zeigt, dass hierbei regional sehr unterschiedlich verfahren wurde.

In Kapitel VI (S. 260–289) werden die innere Ordnung der Phylen und deren Aktivitäten behandelt. Versammlungen der Phylengenossen sind außer für Ägypten nicht direkt bezeugt, aber aufgrund ihrer Tätigkeit vorauszusetzen. Ob diese in einem eigenen Verbandsgebäude tagten, ist ungewiss, doch ist Grundbesitz von Phylen bezeugt. Was die Amtsfunktionen angeht, dürfte die Hierarchie – anders als etwa in den collegia – nicht sehr ausgeprägt gewesen sein. In den allermeisten Städten ist nur ein Phylenvorsteher (phýlarchos oder prostátēs) belegt (die etwa 350 namentlich bezeugten Phylenvorsteher werden in einer Appendix dokumentiert), der alle internen wie polisbezogenen Aufgaben wahrnahm. Dazu gehörten die Führung der Bürgerlisten, die Verwaltung von Stiftungen und Grundbesitz, der Kultvollzug mit Opfern, Festen und Weihstiftungen sowie die Ehrungen von eigenen Mitgliedern, Angehörigen der städtischen Elite, römischen Amtsträgern oder Mitgliedern des Kaiserhauses, gegebenenfalls auch die Nominierung von Phylenmitgliedern für den städtischen Rat oder Priesterkollegien. Kunnert zeigt auf, dass die Ehrungen einerseits auf Initiative einer Phyle, andererseits aber auch – darauf weisen gleichlautende Ehrungen sämtlicher Phylen einer Stadt hin (sogenannte Serienehrungen) – auf Beschluss der städtischen Rats- und Volksversammlung hin erfolgten. Der Phylarch gehörte nur in seltenen Fällen zur städtischen Aristokratie; zumeist war er bloß ein respektables Mitglied der Bürgerschaft.

Den Aufgaben und Funktionen der Phylen für die Polis geht Kunnert im folgenden Kapitel nach (VII: S. 290–302). Die wichtigste Aufgabe der Phylen in den kaiserzeitlichen Städten scheint die Führung der Bürgerlisten gewesen zu sein. Eine militärische Funktion ist – anders als in hellenistischer und klassischer Zeit – nicht belegt und im Rahmen der pax Romana auch nicht zu erwarten. Doch auch für die politischen Institutionen und Ämter hatten die kaiserzeitlichen Phylen in fast allen Poleis ihre Funktion verloren: Die Ratsversammlungen waren zumeist Gremien geworden, in denen die lokalen Aristokraten aufgrund ihrer Herkunft lebenslang Platz nahmen. Für Ägypten ist freilich bezeugt, dass im 3. Jahrhundert das Liturgiensystem in den Metropoleis auf der Phylenorganisation beruhte. Die Gliederung der Bürgerschaft in Phylen bei der Volksversammlung im Theater oder bei religiösen Prozessionen machte aber – wie auch die Geldverteilungen und öffentlichen Speisungen katà phylás – deutlich, dass die Bürgerschaft in ihrer politischen Gliederung weiterhin neben den Handwerker- und Kultvereinen eine Rolle zumindest im sozialen Leben der Polis spielte. Doch vermittelten die Phylen ihren Mitgliedern offenbar keine ausgeprägte kollektive Identität: Anders als die römische tribus spielte die Phyle in der Nomenklatur der Polisbürger kaum eine Rolle.

Eine knappe Zusammenfassung (Kapitel VIII: S. 303–305) sowie mehrere Appendices zu den kaiserzeitlichen Phylen in Alexandreia, Antinoupolis und Oxyrhynchos sowie zu den Phylarchoi und den Serienehrungen der Phylen beschließen die Darstellung (Kapitel IX: S. 306–333). Die Quellenbefunde werden von Kunnert nicht nur hier, sondern auch häufig im Text übersichtlich in Listenform zusammengestellt. Das Literaturverzeichnis und ein ausführliches, gut gegliedertes Quellen- und Sachwortverzeichnis folgen (Kapitel X–XI: S. 334–380). Insgesamt betrachtet bietet diese sorgfältige Arbeit eine erschöpfende Untersuchung der Phylenorganisation in den kaiserzeitlichen Poleis, was sie zum Standardwerk macht.

Anmerkung:
1 Nicholas F. Jones, Public Organization in Ancient Greece: A Documentary Study, Philadelphia 1987, legte den Schwerpunkt seiner Studie auf die Regionen des griechischen Mutterlandes in der klassischen und hellenistischen Zeit. Er bietet zwar am Schluss einen Überblick auch für die östlichen Provinzen der Kaiserzeit, doch geht dieser nicht über eine listenmäßige Zusammenstellung einzelner Zeugnisse hinaus.

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