Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert

Titel
Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert.


Autor(en)
Schwarz-Friesel, Monika; Reinharz, Jehuda
Reihe
Europäisch-Jüdische Studien 7
Erschienen
Berlin 2012: de Gruyter
Anzahl Seiten
444 S.
Preis
€ 79,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dana Ionescu, Institut für Politikwissenschaft, Georg-August-Universität Göttingen

Die Linguistin Monika Schwarz-Friesel und der Historiker Jehuda Reinharz haben mit „Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert“ eine umfassende empirisch fundierte Monografie zu aktuellen Erscheinungsformen des Antisemitismus in Deutschland vorgelegt. Das Ziel der Arbeit ist es, die vielfältigen „Verbalmanifestationen der aktuellen Judenfeindschaft in Deutschland“ (S. 7) und „die ihnen zugrundeliegenden geistigen Vorstellungen zu Juden/Judentum sowohl aus (diskurs)historischer als auch aus sprach- und kognitionswissenschaftlicher Perspektive“ (S. 2) zu erforschen. Im Zentrum der Untersuchung stehen damit Denkstrukturen und Gefühle von Antisemitinnen und Antisemiten, die anhand von schriftlichen Verlautbarungen rekonstruiert werden. Dabei fokussiert die Analyse nicht allein auf antisemitische Vorstellungen über Jüdinnen/Juden und Judentum, sondern auch auf Vorstellungen von Israel und dem Nahostkonflikt.

Vorwiegender Forschungsgegenstand der Arbeit sind die massenhaften Zuschriften an den Zentralrat der Juden in Deutschland (ZJD) zwischen 2002 und 2009 sowie die Zuschriften an die Israelische Botschaft in Deutschland (IBD) zwischen 2003 und 2012. Dieser Textkorpus umfasst allein 14.003 Zuschriften, darunter E-Mails, Briefe, Postkarten und Faxe. Ergänzt wird dieser umfängliche Quellenbestand um weiteres Material – unter anderem Zuschriften an israelische Botschaften weiterer europäischer Länder. Spannend an dem ausgewerteten Material ist, dass es nicht zum Zweck der Datenauswertung generiert wurde, sondern in sozialen Prozessen entstanden ist. Teile der Bevölkerung schreiben und schicken ihre Verlautbarungen unaufgefordert an die genannten Institutionen und offenbaren damit ihre antisemitischen Wahnvorstellungen und Projektionen.

Auch wenn es bei Schwarz-Friesel/Reinharz zentral um die Auswertung von individuellen antisemitischen Äußerungen geht, gerät die gesellschaftlich-kulturelle beziehungsweise strukturelle Ebene des Antisemitismus nicht aus dem Blick. Schon in den Bezügen zur Sprache und zum Sprachgebrauch wird der gesellschaftliche Kontext in die Analyse einbezogen. Die Transformation sowohl von mittelalterlichen, als auch von nationalsozialistischen antisemitischen Sprachgebrauchsmustern in moderne und gegenwärtige antisemitische Manifestationen zeigt ebenfalls die gesellschaftliche Ebene an. War historisch beispielsweise die Vorstellung vom „hässlichen JUDEN“ (in einem physiognomischen Sinne) verbreitet, so ist es heute vielmehr die abstrakte Vorstellung der moralisch-geistigen Verkommenheit des „HÄSSLICH-UNMENSCHLICHE[N] ISRAELI“ (S. 172) 1. Auch der Umfang des Textkorpus verdeutlicht, wenngleich dieser nicht repräsentativ im Hinblick auf die bundesrepublikanische Bevölkerung ist, dass es sich rein zahlenmäßig um kein individuelles Phänomen handeln kann.

Methodisch wird in der Analyse überwiegend qualitativ mit der aus den Sprach-, Kommunikations- und Kognitionswissenschaften stammenden Textkorpusanalyse gearbeitet. Mit dieser Methodenwahl ist der Versuch ihrer Etablierung als Methodenerweiterung in der Antisemitismusforschung verbunden. Teilweise ergänzend werden quantitativ Anlässe und Häufigkeiten der Entladung antisemitischer Ressentiments im Zeitverlauf aufbereitet, aber auch Art und Anzahl der Zuschriften sowie die politische Verortung der Schreibenden im Links-Mitte-Rechts-Schema.

Das Buch gliedert sich neben Vorwort und Einleitung in zehn Kapitel, die zusammengenommen einen Überblick über den gegenwärtigen Stand der sozialwissenschaftlichen Antisemitismusforschung liefern. Die ersten Kapitel behandeln den gewählten Forschungsgegenstand und die Methode (S. 7ff.), das Verhältnis von sprachlicher Judenfeindschaft und Gewalt (S. 33ff.) sowie im Schnelldurchlauf Entstehung, Geschichte und Manifestationen der Judenfeindschaft – beginnend in der Antike über die Abspaltung des Christentums vom Judentum über die nachfolgenden Jahrhunderte bis zur Aufklärung (S. 58ff.). Die folgenden Kapitel fokussieren auf aktuelle antisemitische Stereotyp-Verbalisierungen (S. 106ff.), worunter zentral der Anti-Israelismus als moderne Formvariante des verbalen Antisemitismus gefasst wird (S. 194ff.), auf emotionale und gewalttätig-vernichtende Momente der sprachlichen Äußerungen (S. 264ff. und 299ff.) sowie auf wiederkehrende Argumentationsmuster und Strategien (S. 346ff.). Zwischendurch findet sich in vergleichender Perspektive ein Exkurs zu aktuellen Erscheinungsformen des Antisemitismus in anderen europäischen Ländern wie etwa der Schweiz, Österreich, Spanien und England (S. 251ff.).

Die Arbeit behandelt gleich mehrere spannende Gesichtspunkte, die an wichtige Erkenntnisse der gegenwärtigen sozialwissenschaftlichen Antisemitismusforschung anknüpfen und diese zum Teil nachdrücklich erweitern. Exemplarisch seien zwei Aspekte herausgegriffen: Erstens wird die durch die quantitativ-empirische Forschung gestützte Annahme, Bildung schütze vor Antisemitismus 2, mit empirischem Material kritisch befragt und damit begonnen, das Forschungsdesiderat zum Verhältnis von hoher Bildung und Antisemitismus zu bearbeiten. Die Analyse der Zuschriften untermauert zunächst, dass sich auch hoch Gebildete und gesellschaftliche Eliten mit antisemitischen Schreiben an den ZJD und die IBD wenden. Im Verlauf der Arbeit zieht sich dieser Aspekt wie ein roter Faden durch die Auswertung des Materials. Gebildete neigen Schwarz-Friesel/Reinharz zufolge weniger zu expliziten und primitiven Beschimpfungen und Beleidigungen, sondern betten ihre Beleidigungen vielmehr in elaborierte Argumentationen. Ihre Judenfeindschaft äußert sich in einer äußerlich entradikalisierten Form in Moralappellen und Ratschlägen, durch die sich Gebildete eine hierarchisch übergeordnete Position verschaffen. Sie verteidigen und begründen ihre antisemitischen Einstellungen ausführlicher und betonen zugleich stärker ihren Anti-Antisemitismus. „In den textuellen Elaboraten aber werden […] oft dieselben tradierten Stereotype kodiert, wie sie bei Extremisten zu finden sind.“ (S. 346) Auf der semantischen Ebene sind die antisemitischen Sprachgebrauchsmuster also bemerkenswert homogen.

Zweitens sensibilisiert die Arbeit für den Zusammenhang von Sprache und Gewalt beziehungsweise die sprachliche Gewalt der antisemitischen Zuschriften. Ausgangspunkt ist die Einschätzung von Schwarz-Friesel/Reinharz, dass im öffentlichen und alltäglichen Diskurs die verbale Gewalt des Antisemitismus insbesondere gegenüber Israel zunimmt und sich radikalisiert. Beispielsweise spiegeln sich in vielen Schreiben, die vermeintliche Lösungsvorschläge für den Nahostkonflikt unterbreiteten (Umsiedlungspläne und die Auflösung des Staates Israel), Vernichtungsphantasien gegenüber dem Staat Israel. Schwarz-Friesel/Reinharz verstehen Wörter als potenzielle Waffe, die Jüdinnen/Juden kognitiv und emotional Schaden zufügt. Dabei spielen besonders Androhungen und Verwünschungen in den Zuschriften eine Rolle, die Jüdinnen/Juden (kollektiv) dehumanisieren. Der zu begrüßende weite Gewaltbegriff zeigt auf, dass sprachliche Gewalt etwas sehr Verbreitetes und Alltägliches ist und Gewalt nicht einzig von gesellschaftlichen Gruppen wie der organisierten extremen Rechten in Form physischer Angriffe auf Jüdinnen/Juden und auf jüdische Einrichtungen ausgeübt wird.

Teilweise indifferent erscheint die Arbeit hinsichtlich der Zuordnungen der Schreibenden in unterschiedliche politische Spektren sowie hinsichtlich der unterstellten Verknüpfung zwischen Gebildeten und sogenannter gesellschaftlicher Mitte. Auch wenn oftmals Schreibende anhand von in den Zuschriften auftauchenden Sprachmustern einem politischen Spektrum zugeordnet werden, stellt sich dennoch die Frage, welche Kriterien genau zur jeweiligen Zuordnung geführt haben, gerade wenn es um graduelle Unterschiede geht, wie die zwischen „eher links“ und „linksextrem“ beziehungsweise „eher rechts“ und „rechtsextrem“. An anderen Stellen bleibt unklar, inwiefern es sich um Selbstverortungen und -wahrnehmungen der Schreibenden, oder aber um eine auf Analysen des Textmaterials basierende Klassifizierung handelt. Auch die vorgenommene Klassifizierung der Zuschriften in „psychopathologisch“ (S. 29) oder „psychisch auffällig“ (S. 21) erscheint im Kontext der oben genannten politischen Kategorien nicht plausibel. Vielmehr wäre davon auszugehen, dass diese Kennzeichnung, sofern mit ihr so etwas wie ein paranoider Realitätsverlust respektive der Rückgriff auf wahnhafte Welterklärungsmuster gemeint ist, quer zu den politischen Zuordnungen liegt.

Insgesamt konkretisieren und untermauern Schwarz-Friesel/Reinharz im Anschluss an die Publikation „Aktueller Antisemitismus – ein Phänomen der Mitte“ (2010) ihre These von der Zunahme des Antisemitismus in der bürgerlichen Mitte der Gesellschaft 3. Sie zeigen mit den zahlreichen Auszügen aus antisemitischen Hasszuschriften an den ZJD und die IBD die Virulenz des Antisemitismus und liefern damit ein eindrückliches und zugleich erdrückendes Bild über einen weit verbreiteten geistigen und emotionalen Zustand unserer Gesellschaft. Die engagierte Arbeit ist eine Bereicherung für die sozialwissenschaftliche Antisemitismusforschung.

Anmerkungen:
1 In der Publikation schreiben Schwarz-Friesel/Reinharz antisemitische Stereotype in Großbuchstaben, um zu verdeutlichen, dass es sich um ein gesellschaftliches Konstrukt beziehungsweise um ein Phantasieprodukt handelt (S. 108).
2 Vgl. Werner Bergmann, Antisemitismus – eine „neue Unübersichtlichkeit“, in: Michael Kohlstruck (Hrsg.), Ausschluss und Feindschaft, Berlin 2011, S. 239–262, S. 248.
3 Siehe hierzu auch: Andreas Zick, Aktueller Antisemitismus im Spiegel von Umfragen, in: Monika Schwarz-Friesel/Evyatar Friesel/Jehuda Reinharz (Hrsg.), Aktueller Antisemitismus, Berlin/New York 2010, S. 225–246, S. 235f.

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