J. Bäcker: Die christliche Gemeinschaftsschule in Baden

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Titel
Die christliche Gemeinschaftsschule in Baden. Historie und Rechtsprobleme


Autor(en)
Bäcker, Johanna
Reihe
Europäische Hochschulschriften: Reihe 2, Rechtswissenschaft 5338
Erschienen
Frankfurt am Main 2012: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
XV, 318 S.
Preis
€ 59,95
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Mirjam Hösli, Zürich

Darf sich eine öffentliche, obligatorische Schule „christlich“ nennen? Wie viel Religion verträgt die staatliche Schule oder braucht sie Religion etwa gar? In ihrer Dissertation zeigt Johanna Bäcker am Beispiel der christlichen Gemeinschaftsschule in Baden bzw. Baden-Württemberg, dass solche und ähnliche Fragen seit 150 Jahren immer wieder gestellt werden. Damit reiht sie sich in eine Diskussion über das Verhältnis von Religion und Schule ein, welche in den letzten Jahren einen neuerlichen Aufschwung erlebt hat. Wird einerseits nicht erst seit dem Grundlagenpapier der OSZE1 in Europa über Religion als wichtiger Bildungsfaktor diskutiert, stellen sich andererseits in den konkreten Umsetzungen vor Ort verschiedene Praxis- und Rechtsprobleme. So erschienen kürzlich neben Kommentaren zu den jüngeren Gerichtsentscheiden zu Kruzifixen in Schulzimmern oder der religiösen Bekleidung von Lernenden und Lehrpersonen, wie sie in ähnlicher Weise in ganz Europa diskutiert werden, weitere juristische Abhandlungen zum Verhältnis von Religion und Schule.2 Dreh- und Angelpunkt auch in Bäckers Dissertation ist die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit religiöser Bezüge in der öffentlichen Schule. Sie befasst sich dabei mit der Volksschule im heutigen Bundesland Baden-Württemberg, die gemäß Verfassung „christlich“ genannt wird. Ausgehend von der Erkenntnis, dass gesellschaftlicher Wandel die Frage nach der bestmöglichen Schulform und deren Verfassungsmäßigkeit immer wieder aufkommen lässt, gliedert Johanna Bäcker ihre Arbeit in drei Teile.

Ausgangspunkt ihrer Abhandlung im ersten Teil, der sich hauptsächlich auf das Großherzogtum Baden bezieht, sind die unter dem Eindruck zunehmender Heterogenität der Bevölkerung seit Anfang des 19. Jahrhunderts zu verzeichnenden staatlichen Regulierungsversuche. Diese würden zeigen, dass damals bereits „ein erheblicher Bedarf an einer Gemeinschaftsschule“ (S. 6) bestanden habe. Mit dieser Diagnose blendet Bäcker allerdings andere Ideen und Vorschläge zur Anpassung des Schulwesens an die gewandelte Situation aus. Entsprechend liest sich ihre Geschichte schon fast als eschatologische Vorbereitung auf die Ideallösung der Gemeinschaftsschule. 1868 wurde im Großherzogtum Baden ein Volksschulgesetz verabschiedet, das die „fakultative Simultanschule“ (S. 45) erstmals vorsah. Zwar blieb die konfessionell getrennte Bekenntnisschule weiterhin Regelschulform, doch gab es nun die Möglichkeit für Schulgemeinden, eine Schule einzurichten, in der Kinder beider christlicher Konfessionen gemeinsam beschult wurden. Bereits acht Jahre später wurde diese Schulform zur obligatorischen erklärt, was sich nach Bäcker in erster Linie aus der wirtschaftlichen Entlastung der Schulgemeinden begründen ließ. Als Ziel wurde bereits zu diesem Zeitpunkt formuliert, dass nur die Simultanschule in der Lage sei, „in Zeiten der konfessionellen Mischbevölkerung […] den Schülern ein vorbildhaftes Zusammenleben beizubringen“ (S. 50). Diese Zielformulierung, welche die besondere „badische Prägung“ der Schulform ausmache, wurde denn auch in den Verfassungsklagen in der Mitte des 20. Jahrhunderts zur Grundlage genommen. Die Simultanschule wurde darin als eine Institution dargestellt, die Toleranz fördert, ohne die Religionsfreiheit zu gefährden. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Schulform „christliche Gemeinschaftsschule“ genannt, um sie von der NS-Gemeinschaftsschule abzugrenzen und stattdessen christliche Werte als Teil der eigenen Kultur- und Bildungsgeschichte zu betonen. Trotz unterschiedlicher Lösungen in den verschiedenen Besatzungszonen, in die das Gebiet des heutigen Bundeslandes Baden-Württemberg aufgeteilt war, wurde nach dessen Gründung 1952 die christliche Gemeinschaftsschule badischer Prägung zur landesweiten Regelschulform erklärt.

Allerdings stellte sich bereits wenige Jahre später die Frage nach deren Verfassungsmäßigkeit, welche 1975 durch das Bundesverfassungsgericht behandelt wurde. Der zweite Teil der Dissertation befasst sich mit Rechtsproblemen der Schulform im Bundesland Baden-Württemberg, wobei das Urteil von 1975 den Ausgangspunkt der Ausführungen darstellt. Das Bundesverfassungsgericht hatte zugunsten einer christlichen Gemeinschaftsschule entschieden, die offen gegenüber anderen Weltanschauungen sei und deren christlicher Charakter sich im Gegensatz zu einer bekenntnismäßigen Gemeinschaftsschule auf die Anerkennung des Christentums als „prägende[m] Kultur- und Bildungsfaktor“ (S. 143) beschränke. Zu Recht fragt Bäcker nun, ob und inwiefern sich diese Rechtsprechung durch jüngere Entscheide möglicherweise verändert habe. War der Grundtenor 1975 noch, „dass die christliche Gemeinschaftsschule zur pluralistischen Gesellschaft“ passe (S. 145), und wurde noch nicht allzu stark auf das Problem der staatlichen Neutralität eingegangen, änderte sich dies in den Entscheiden einerseits zum Aufhängen von Kruzifixen in Schulzimmern 1995 und zum Tragen religiöser Kleidung durch Lehrpersonen 2003. Plausibel legt Bäcker dar, wie sich die Rechtsprechung an die veränderten Gesellschaftsverhältnisse anpasste und dadurch die Grenzen der zulässigen christlichen Bezüge in den Schulen konkreter bestimmt wurden. So kristallisierte sich der Begriff einer „offenen, nicht distanzierten Neutralität“ (S. 251) heraus. Daraus sei zu lesen, dass religiöse Bezüge in der staatlichen Pflichtschule weiterhin durchaus möglich seien, allerdings nur solange kein bestimmtes Bekenntnis privilegiert oder ausgeschlossen werde und lediglich ein Minimum an Zwangselementen existiere. Insofern, resümiert Bäcker, könne ein gesellschaftlicher Wandel zwar Anlass sein, zulässiges staatliches Handeln neu zu bemessen, dennoch habe die bisherige Rechtsprechung keine Veränderung des Neutralitätsbegriffs bewirkt. Dementsprechend hätten auch die jüngeren Urteile keine Auswirkung auf die Verfassungsmäßigkeit der christlichen Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg.
Den dritten Teil ihrer Arbeit nutzt Bäcker für die praktische Umsetzung ihrer Erkenntnisse, indem sie eine neue Verwaltungsvorschrift für die christliche Gemeinschaftsschule entwirft, die als Handlungsrichtlinie die Verfassungsmäßigkeit der Schulform weiterhin garantieren und „eine weitere Profanisierung sämtlicher Christlicher Inhalte und Bezüge [sic!]“ (S. 265) verhindern solle. Als Grundlage verwendet sie dazu die ursprüngliche Verwaltungsvorschrift von 1967, welche sie im Hinblick auf die aktuelle Situation und die neuere Rechtsprechung beleuchtet und die einzelnen Ziffern je nach Bedarf verändert.

Die stringente und logische Argumentation der beiden letzten, juristisch sauber bearbeiteten Teile steht in einem krassen Kontrast zum ersten Teil, der durch undifferenzierte Verwendung von Begrifflichkeiten und eine eigenwillige Rechtschreibung geprägt ist. In diesem wird zudem versucht, die historische Entwicklung der Schulform zu beschreiben, ohne jedoch Methode oder verwendete Quellen darzulegen. Johanna Bäcker rekonstruiert die Geschichte in erster Linie aus historischen Studien und Gesetzestexten, wobei sie sich einzig den politischen Umwälzungen und parteipolitischen Positionierungen zuwendet und nur vereinzelt auf die konkrete Geschichte der Schulform der christlichen Gemeinschaftsschule oder der tatsächlichen Umsetzungspraxis eingeht. Einen Hinweis auf die aktuelle Situation, die für die Ausrichtung der Schule entscheidend sein dürfte, nachdem die Regierung 2011 beschloss, im Schulgesetz das „Christliche“ aus dem Namen der Schule zu streichen, wird ebenso vermisst.

Anmerkungen:
1 OSZE / ODIHR, Toledo guiding principles on teaching about religions and beliefs in public schools, Warschau 2007.
2 Vgl. Scarlett Schwarzenberger, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit im Kontext der öffentlichen Schule. Rechtliche Leitplanken zu religiöser und weltanschaulicher Identität, Toleranz und Neutralität, Zürich 2011; Cla Reto Famos, Zur Rechtslage eines obligatorischen Religionsunterrichts, in: Ralph Kunz u.a. (Hrsg.), Religion und Kultur – ein Schulfach für alle? Zürich 2005, S. 47–64.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/