J. Brademann: Mit den Toten und für die Toten

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Titel
Mit den Toten und für die Toten. Zur Konfessionalisierung der Sepulkralkultur im Münsterland (16. bis 18. Jahrhundert)


Autor(en)
Brademann, Jan
Reihe
Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 43
Erschienen
Münster 2013: Rhema Verlag
Anzahl Seiten
559 S.
Preis
€ 62,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dominik Gerd Sieber, Seminar für Neuere Geschichte, Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Sterben und Tod sind seit etwa drei Jahrzehnten auch in Deutschland Gegenstand der historischen Frühneuzeitforschung. Angeregt durch die französische „Histoire de la mort“, als deren Begründer und wohl prominentester Exponent Philippe Ariès gelten kann, sind auch hierzulande zahlreiche kulturgeschichtliche Arbeiten entstanden, die sich in vielfältiger Form mit dem Thema beschäftigen. Dabei stehen vor allem Beispiele aus dem städtischen und adeligen Umfeld im Fokus des Interesses. Insbesondere werden die durch die Reformation evozierten Wandlungsprozesse untersucht, wohingegen das altgläubige respektive katholische Milieu als wenig verändert erschien. Damit verbunden ist die Meistererzählung von der säkularisierenden und modernisierenden Wirkung des Protestantismus auch im sepulkralen Sektor, die allerdings in den Fragestellungen um das Konfessionalisierungsparadigma weitgehend ausgespart wurde.

Jan Brademann hat nun mit seiner profunden Dissertation nicht nur eine detaillierte Studie zur bislang vernachlässigten katholischen und ländlichen Sepulkralkultur vorgelegt, sondern damit auch einen wichtigen Beitrag zur Konfessionalisierungsforschung geleistet, womit er wichtige Forschungsdesiderata ausräumt. Die auf das Fürstbistum Münster bezogene Arbeit ist in vier Großkapitel eingeteilt und beschäftigt sich mit der Zeit des 16. bis 18. Jahrhunderts. Dieser zeitliche Rahmen ermöglicht es, Veränderungen und Kontinuitäten durch die Reformation, die katholische Reform und später die Aufklärung sichtbar zu machen.

Nach Darlegung des aktuellen Forschungsstandes und des der Untersuchung zugrunde liegenden Theorieansatzes werden Kirchhof und Sepulkralkultur als Teil des konfessionellen Wertesystems thematisiert. Das folgende Kapitel behandelt die alltägliche praktische Nutzung und materielle Ausstattung der Kirchhöfe zwischen Profanität und Heiligkeit. Demgegenüber werden anschließend die liturgischen Handlungen in ihrem Kontext untersucht. Somit gliedert sich die Studie in eine Analyse sepulkraler Werte und Normen einerseits und deren symbolischer Ausformungen andererseits. Eine prägnante Zusammenfassung und ein Ausblick runden die tiefgehende Untersuchung ab.

Als Grundlage dient dem Autor eine breit angelegte Auswahl verschiedener Quellen des Bistumsarchivs Münster und des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen, die einen multiperspektivischen Blick auf die Materie erlauben. Neben normativen Quellen wie Synodalstatuten, Erlassen, Edikten und Visitationsakten finden auch Pläne und Bildquellen zu den ländlichen Kirchhöfen Berücksichtigung. Aufgrund der disparaten Quellenlage beschränkt sich Brademann nicht auf wenige exemplarische Pfarreien, sondern betrachtet stattdessen die Gesamtheit einschlägiger Quellen zu sepulkralen Belangen in 26 Kirchspielen.

Bis ins späte 16. Jahrhundert blieb die ideelle, normative und auch symbolische Ausprägung der altgläubigen bzw. katholischen Sepulkralkultur des Münsterlandes trotz der reformatorischen Umbrüche wenig augenfällig. Erste Ansätze im Sinne der katholischen Reform – wie etwa die Visitation der Jahre 1571/73 oder die Agende von 1592 – tangierten sepulkrale Belange nur am Rande. An der Schwelle zum 17. Jahrhundert setzte hier jedoch ein Wandel ein. Das ehrliche Begräbnis wurde nun „in Verbindung mit dem sakramentalen Bekenntnis zum Katholizismus als politisches Instrument zur Verdrängung des Protestantismus erkannt“ (S. 135). Dabei spielte vor allem der Armseelenkult eine wichtige Rolle, der durch die Bestätigung der Fegefeuerlehre durch das Konzil von Trient erneut legitimiert und nun ausgebaut wurde.

Eine Vereinheitlichung und Fixierung der Begräbnis- und Prozessionsliturgien brachte allerdings erst die Agende des Jahres 1712, die jedoch hinsichtlich der Riten der Toten- und Memorialliturgie weiterhin Indifferenzen aufwies. Dennoch wurde der Kirchhof als Ruhestätte der Toten sukzessive dem Anspruch nach primär in einen heiligen Ort transformiert, an dem durch die transzendente Kommunikation zwischen den Lebenden und Verstorbenen das erneuerte katholische Leben nun immanent werden sollte. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts wirkten die Ideen der Aufklärung, neben der religiösen Dimension, auch mit ihren ethischen, ökonomischen und medizinischen Implikationen auf die ländlichen Begräbnisplätze ein. Unmittelbare Folgen zog dies aber kaum nach sich. Damit widerspricht der Befund dem in der Forschung postulierten Modernisierungs-, Ästhetisierungs- und Säkularisierungsschub durch die Aufklärung. Brademann unterstreicht vielmehr die ausgeprägten Beharrungstendenzen in der ruralen Sepulkralkultur.

Das permanente Spannungsverhältnis zwischen profanen Handlungen und den als locus sacer reklamierten Kirchhöfen, die inmitten des alltäglich erfahrbaren Lebens lagen, löste sich dabei nie wirklich auf. Bedingt durch die auf den Nekropolen situierten Wohn- und kommunalen Nutzgebäude, die im betrachteten Zeitraum sogar noch eine zunehmende Verdichtung, aber auch Differenzierung erfuhren, kam es permanent zu Überschneidungen der beiden Sphären. Insbesondere die Verortung von Schulen auf den Kirchhofgeländen und das damit verbundene Bildungsanliegen stellten dabei wohl ein Spezifikum des geistlichen Staates dar.

Hinsichtlich der baulichen Gestalt und Binnendifferenzierung schlägt Brademann eine Typisierung der Kirchhöfe vor. Während Typ I durch eine nach außen abgrenzende Bebauung mit Wohn- und Speichergebäuden charakterisiert ist, zeichnet sich Typ II durch einen „nach außen separierten Begräbnisplatz innerhalb eines größeren, von Häusern mehr oder weniger stark umringten Kirchplatzes“ (S. 147) aus. Des Weiteren kategorisiert er Mischformen (Typ III), die durch Gebäude begrenzt oder partiell durch eine innere Umfriedung von den Häusern der Siedlung abgesondert sind. Schließlich existieren auch Anlagen, die sich durch nicht vorhandene Baulichkeiten oder ihre aparte Lage in keines dieser Schemata einfügen lassen und somit einen vierten Typus bezeichnen.

In Anlehnung an die Symbolkonzeption des Soziologen Karl-Siegbert Rehberg lässt sich die materielle Ausstattung der ländlichen Kirchhöfe des Münsterlandes in ihrer konfessionell katholischen Ausrichtung durch Raum-, Ding- und Leibsymbole beschreiben. So bildeten beispielsweise Beinhäuser einen wichtigen Bezugspunkt für die Totenfürbitte. Die dort aufbewahrten Überreste der Toten sendeten permanente Impulse hierzu aus. Außerdem war die individuelle Kennzeichnung der einzelnen Grabstellen vor diesem Hintergrund notwendig, um einen konkreten Ort für die sozial und liturgisch motivierten Memorialdienste zu markieren. Dabei kamen gewöhnlich einfache Holzkreuze zum Einsatz.

Damit einhergehend resultierte die Verdrängung Heterodoxer von den Kirchhöfen. Die im sepulkralen Kontext zelebrierten katholischen Riten bildeten die Voraussetzung für gesellschaftliche Anerkennung in der Dorfgemeinschaft und wurden damit zu einem Instrument einer erfolgreichen Rekatholisierung. Die nun implementierten Normen wirkten sich nach der Überwindung des Protestantismus auch auf das Begräbnis von Selbstmördern oder ungetauft verstorbenen Kindern aus, denen der geweihte Begräbnisplatz prinzipiell verwehrt blieb.

Waren die Begräbnis- und Gedächtnisliturgien zunächst noch durch eine hohe Heterogenität geprägt, setzte seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ein Zug der Vereinheitlichung und Generalisierung ein. Die Beerdigungszeremonie wurde nun an die vormittägliche Messe gekoppelt und erfolgte unter dem Einsatz von Weihwasser, Licht und Begräbniskreuz unter Gesang und Gebet. Als zentrale Memorialriten prägte sich der Gräberbesuch wie auch die Prozession der gesamten Gemeinde über das Gräberfeld mit dem Beinhaus als wichtiger Station aus. Zugleich erlebte die Etablierung von Bruderschaften einen Höhepunkt. In Gestalt dieser Fraternitäten fand die kollektivierte Jenseitshilfe ihren spezifischen Ausdruck.

Resümierend konstatiert der Autor in Bezug auf die ländliche Münsteraner Sepulkralkultur in vielen Bereichen ein Scheitern der Konfessionalisierung. Dagegen ist sie „als Prozess der Herausbildung einer konfessionsspezifischen Kultur […] dennoch als Erfolgsgeschichte anzusehen“ (S. 472). Dieser Vorgang konzentrierte sich vor allem auf das späte 17. und frühe 18. Jahrhundert und erreichte damit zu einer Zeit seine Hochphase, „als das konfessionelle Zeitalter im politisch-systemischen Sinn längst vergangen war“ (S. 472). Für Brademann definiert sich Konfessionalisierung damit nicht als offene Verhaltensdisziplinierung, sondern „als ein Prozess der akzeptanz-, gemeinschafts- und überzeugungsstiftenden Institutionalisierung von transzendenten Ordnungsbehauptungen und Geltungsansprüchen“ (S. 472f.). Vor diesem Hintergrund kommt den sepulkralen Ritualen eine Schlüsselrolle zu.

Brademann führt mit seiner regional verankerten Fallstudie eine überaus gelungene kulturgeschichtliche Erweiterung der Konfessionalisierungstheorie vor, die der Forschung neue Wege aufzeigt und zukünftig eine breite Rezeption erfahren sollte. An weitergehenden Forschungen wären analoge Regionaluntersuchungen zu wünschen, die die Ergebnisse aus dem Münsterland vergleichbar machen, um somit ein übergreifendes Bild frühneuzeitlicher katholischer Sepulkralkultur auf dem Lande im Alten Reich zeichnen zu können. Kontrastierend bietet sich darüber hinaus folgerichtig der Blick auf die protestantischen Konfessionen an, was die Frage nach konfessionellen Sepulkralkulturen erhellen könnte.

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