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Titel
Theodor Schieder. Ein bürgerlicher Historiker im 20. Jahrhundert


Autor(en)
Nonn, Christoph
Reihe
Schriften des Bundesarchivs 73
Erschienen
Düsseldorf 2013: Droste Verlag
Anzahl Seiten
454 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Schöttler, Institut d'histoire du temps présent, Centre national de la recherche scientifique, Paris

[Anm. der Red./J.-H.K.: Der Umfang dieser Rezension geht über das bei H-Soz-u-Kult übliche Maß hinaus. Die nähere Beschäftigung mit der Biographie Theodor Schieders erscheint für die Geschichte der deutschen Geschichtswissenschaft aber besonders interessant und wichtig. Peter Schöttlers Beitrag knüpft indirekt an unsere früheren Foren zu Kontinuitäten und Brüchen der Historiographiegeschichte an: „Versäumte Fragen. Deutsche Historiker im Schatten des Nationalsozialismus“ (2000, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=319&count=5&recno=3&type=revsymptype=revsymp>), „Hans Rothfels und die Zeitgeschichte“ (2003/04, <http://edoc.hu-berlin.de/e_histfor/1/>), „‚Westforschung‘. Eine Diskussion zur völkisch-nationalistischen Historiografie in Deutschland“ (2003/05, <http://edoc.hu-berlin.de/e_histfor/6/>) sowie „Der Holocaust und die westdeutschen Historiker“ (2004, <http://edoc.hu-berlin.de/e_histfor/2/>).]

Seit 1980 gibt es in München das „Historische Kolleg“. Sein erster Präsident war der Kölner Neuzeit-Historiker Theodor Schieder (1908–1984), jahrelang der wohl mächtigste Mann seiner Zunft, Herausgeber der „Historischen Zeitschrift“ (HZ), Präsident der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und vieler anderer Institutionen, Träger zahlloser Orden und Preise. Nach seinem Tod wurde der „Meister“, wie ihn seine später oft selbst auf Lehrstühle berufenen Schüler nannten, in vielen Nachrufen und Gedenkveranstaltungen gewürdigt, und das Historische Kolleg richtete 1985 eine „Theodor-Schieder-Gedächtnisvorlesung“ ein. Erster Redner war der Präsident der „Monumenta Germaniae Historica“, Horst Fuhrmann, während Schieders Schüler und Nachfolger an der Spitze vieler Ämter, Lothar Gall, eine Eloge auf den Verstorbenen hielt, in der dessen nationalsozialistische Vergangenheit heruntergespielt wurde, weil Schieder dem „Zeitgeist“ so gut wie keine „bewussten Konzessionen“ gemacht habe.1 Doch schon wenige Jahre später änderte sich dieses Bild, und 2002 nahm das Historische Kolleg seine Ehrung stillschweigend zurück, indem es den feierlichen Jahresvorträgen den Namen des Gründers entzog.

Was war geschehen? Das Gerücht, dass Theodor Schieder braune Flecken auf seiner akademischen Weste habe, war schon alt. Doch im Unterschied zu anderen Historikern, die sogar die Uniform der SS getragen hatten, erschienen seine verstreuten völkischen oder rassistischen Formulierungen wie sprachliche Zugeständnisse, die im Land der ehemaligen Täter nur ein Schulterzucken auslösten. Auch entsprechende Vorwürfe von DDR-Historikern oder linken Studenten konnten das gute Gewissen einer konservativen Historikerzunft nicht erschüttern. Außerdem kam Schieder in dem 1966 erschienenen Standardwerk von Helmut Heiber, „Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands“, so gut wie nicht vor, und Karl Ferdinand Werner konzentrierte sich in seinem (mutigen) Büchlein von 1967, „Das NS-Geschichtsbild und die deutsche Geschichtswissenschaft“, vornehmlich auf Mediävisten. Auf gelegentliche Nachfragen, was er während des „Dritten Reiches“ gemacht habe, antwortete Schieder selbst, indem er einfach das Thema wechselte. Offenbar handelte es sich um ein Tabu, das von seinen Assistenten und Studenten, ja sogar von seinen Söhnen, als eine Privatangelegenheit betrachtet und respektiert wurde.

Heute wissen wir, dass die wirklich brisanten Dinge ohnehin nicht in Publikationen schlummerten – Schieder war und blieb stets ein außerordentlich vorsichtiger Autor, der sich nie weit vom „Mainstream“ entfernte –, sondern in den Archiven, zum Beispiel im „Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes“ in Bonn (bis zum Jahr 2000, seither in Berlin). Das war zwar leicht zugänglich, aber diese Akten, etwa zu den „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“, interessierten offenbar niemanden, zumal sich deren Nachfolgerorganisationen in der Ost- und Westforschung schnell wieder konstituiert hatten und wie früher aus der Regierungsschatulle finanziert wurden. Wer also diese Vergangenheit und fatale Kontinuität aufgedeckt hätte, wäre nicht nur mit Schieder aneinandergeraten, sondern mit der gesamten Zunft und vielleicht sogar dem „Verfassungsschutz“. Deshalb überrascht es nicht, dass die „Nordostdeutsche Forschungsgemeinschaft“, in der sich Schieder einst seine NS-Sporen verdient hatte, erstmals in einer ungedruckten und unbeachteten DDR-Dissertation von 1964 zum Thema gemacht wurde.2

Erst 1988, also vier Jahre nach Schieders Tod, änderte sich die Situation, als der englische Historiker Michael Burleigh in seinem Buch „Germany Turns Eastwards“ den jungen Schieder als Mitarbeiter der „Publikationsstelle Dahlem“ des Preußischen Staatsarchivs identifizierte und im Kontext aggressiver, antipolnischer Bevölkerungsplanungen erwähnte.3 Zwar wurde dieses Buch in der „Frankfurter Allgemeinen“ böse kritisiert und zudem nicht ins Deutsche übersetzt – aus heutiger Sicht ein erstaunliches Versäumnis! –, aber Schieders braune Vergangenheit war jetzt nicht mehr bloß ein Gerücht. Bald darauf publizierten Angelika Ebbinghaus und Karl Heinz Roth – letzterer sogar ein „Schieder-Enkel“, der aber die Vorlesungen des „Meisters“ langweilig und das autoritäre Gehabe am Kölner Lehrstuhl lächerlich fand4 – das entscheidende Belastungsdokument: Schieders so genannte „Polendenkschrift“ vom 7. Oktober 1939, in der dieser die systematische Vertreibung von Polen und „Juden“ – gemäß der rassistischen Definition der Nürnberger Gesetze – gefordert hatte.5

Im Nachhinein ist es auch wichtig, auf die fast zeitgleich geführte Debatte um die NS-Vernichtungspolitik hinzuweisen, die vor allem durch das Buch von Susanne Heim und Götz Aly über die „Vordenker der Vernichtung“ ausgelöst wurde.6 Hatte man bis dahin, wenn man überhaupt die Geschichte der eigenen Zunft problematisierte, eine „ideologiekritische“ Perspektive verfolgt und, wie der Harvard-Historiker Charles Maier auf einer Tagung in Washington bemerkte, jeden „Vatermord“ vermieden, weshalb er auch zweifelte „whether historians should be doing their own history“7, ging jetzt eine Reihe jüngerer Historiker in die Archive, um nach konkreten Verbindungen der Geschichtswissenschaft mit der NS-Politik und vielleicht sogar einer Mittäterschaft beim Holocaust zu fahnden.8 Die Ergebnisse mögen gelegentlich wie eine übertriebene „Enthüllungshistorie“ erschienen sein, und vor allem die Medien haben diese Tendenz natürlich verstärkt, aber angesichts jahrzehntelanger Leisetreterei in Bezug auf die eigene Zunft-Geschichte war etwas Zuspitzung wohl unerlässlich. Das zeigt auch die unterschiedliche Wahrnehmung dieser Debatten im Ausland, wo man sich eher über den verbissenen Widerstand einiger Vertreter der ehemals so kritischen „sozialliberalen Generation“ wunderte. Noch auf dem Frankfurter Historikertag von 1998, der mit seiner Sektion „Historiker im Nationalsozialismus“ als Höhepunkt der Debatte angesehen werden kann9, vermied es der Vorsitzende des Historikerverbandes, Johannes Fried, in seiner Eröffnungsrede die Namen seiner inkriminierten Vorgänger ausdrücklich zu nennen10 – aber jeder im Saal kannte sie.

Einer von ihnen war Theodor Schieder. Nun hat Christoph Nonn, an der Universität Düsseldorf Professor für Neueste Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Geschichte des Landes NRW, ihm eine Biographie gewidmet, die in der repräsentativen Schriftenreihe des Bundesarchivs erschienen ist und offenbar die Kontroverse abschließen soll. Ein Großteil des Buches ist Schieders wissenschaftlicher Biographie vor 1945 sowie der Verarbeitung dieser Lebensphase in den Nachkriegsjahrzehnten gewidmet. Dabei versucht der Autor den Eindruck zu erwecken, dass er, der an der Kontroverse nicht teilgenommen hat, eine quasi-neutrale Position einnehme: Schieder sei für ihn weder „Held“ noch „Hassobjekt“ (S. 9). Außerdem informiert Nonn seine Leser, dass der „eigentliche Antrieb“, dieses Buch zu schreiben, nicht die umstrittene Figur oder das Œuvre des Historikers, sondern seine „eigenen Erfahrungen“ gewesen seien, die er „seit [seiner] Berufung auf einen historischen Lehrstuhl an deutschen Universitäten gemacht“ habe. Er habe das Thema also aus rein pragmatischen Gründen gewählt und lediglich nach einer „zentralen Figur der deutschen Geschichtswissenschaft“ gesucht (S. 9). Daraus ergibt sich eine erstaunliche Selbstsicherheit, die es Nonn gestattet, den Schieder-Streit und das gesamte Forschungsfeld „von oben“ zu betrachten und alle anderen Kollegen belehren zu wollen. Betroffen sind davon vor allem jene Historiker, die schon vor dem Autor über Schieder geforscht haben, wie etwa Ingo Haar, dessen Arbeiten der Verfasser ständig kritisiert, obwohl er sich ganz offensichtlich auf dessen Recherchen stützt – ohne dies immer genau kenntlich zu machen.11

Nonns Buch ist keine Biographie im üblichen Sinne. Wir begleiten Schieder nicht von der Wiege bis zur Bahre, obwohl der Autor sich bemüht, das bürgerlich-protestantische Milieu, in dem der kleine Theo aufwuchs, und später auch den bildungsbürgerlich-patriarchalischen Habitus des Professors anschaulich zu schildern. So erfahren wir auf die Minute genau, wann das Kind geboren wurde, doch wann und wie Schieder starb – hatte er am Schluss vielleicht Albträume wie Hermann Heimpel? –, wird uns vorenthalten. Überhaupt bleibt das psychologische Profil des Protagonisten, der selbst von sich behauptete, eine „ausgeglichene und ausgleichende Persönlichkeit“ zu sein (zit. auf S. 4), relativ blass. Es heißt zwar, Schieder sei „schüchtern“ gewesen, aber wie erklären sich dann sein ungewöhnlicher Lebensweg, sein zähes Taktieren und Finassieren, seine erfolgreiche „Vernebelung“ – wie er selber einem Freund gegenüber sagte (zit. auf S. 131) – der eigenen NS-Vergangenheit sowie sein ständiges Streben nach Macht und Ämtern in der Wissenschaft, an der Universität, in der Hochschulpolitik usw.?

Der erste Teil des Buches zeichnet Schieders Bildungsweg nach – er war führendes Mitglied der rechtsradikalen, antisemitischen „Gildenschaft“ und promovierte 1933 bei dem Münchner nationalsozialistischen Historiker Karl Alexander von Müller – sowie seinen Aufstieg zum Königsberger Professor – mitten im Krieg, per Hausberufung, dank exzellenter politischer Vernetzung. Schieders Nähe zur NS-Ideologie und zu anderen NS-Historikern wird dabei heruntergespielt. Im zweiten Teil steht dann der Neuanfang nach 1945 im Mittelpunkt. Unter dem für den lässigen Stil des Buches charakteristischen Titel „Bürgerlicher Reload“ geht es um den ominösen „Lernprozess“, den Schieder-Schüler wie Hans-Ulrich Wehler ihrem Lehrer stets unterstellt haben, den sie aber nicht konkret nachweisen konnten, weil ja der erste Schritt, den Irrtum beim Namen zu nennen, nie getan wurde. Schieder hat das immer abgelehnt. Im Gegenteil: Einen echten Neuanfang gab es nicht, außer dass Schieder nach dem Krieg einen neuen Lehrstuhl suchte. Die Freunde waren im Wesentlichen die alten, sofern sie nicht, wie Kleo Pleyer, gefallen waren. Und unter Freunden hat man dann auch Schieder geholfen, so wie er wiederum seinen Freunden und deren Freunden half.

Seine Berufung nach Köln wurde zu einem der ersten kleinen Berufungsskandale der Nachkriegsrepublik, jedenfalls aus heutiger Sicht. Denn eigentlich wollte die Universität den in New York lehrenden Emigranten Hans Rosenberg (1904–1988) berufen, der wissenschaftlich hochqualifiziert war und bereits ein internationales Ansehen genoss. Doch wie Nonn berichtet, gelang es dem konservativen Mediävisten Peter Rassow, der zwar nicht direkt mit Schieder, aber mit manchen seiner Freunde verbandelt war, durch eine gezielte Fehlinformation Rosenberg so zu verschrecken, dass er den Ruf ablehnte und damit Schieder den Weg freimachte. Nonn sieht diese Intrige allerdings in einem milden Licht: Kein „Machtkartell von nationalsozialistisch Belasteten“ habe Rosenberg verhindert und Schieder durchgedrückt, sondern es habe sich lediglich um einen der üblichen „Machtkämpfe um Stellen und historisch-politische Deutungshoheit“ gehandelt (S. 138). Weder in Köln noch anderswo habe es damals Kämpfe zwischen ehemaligen Nazis und deren Gegnern gegeben, sondern bloß Kämpfe zwischen „verschiedenen politischen Milieus oder Lagern: dem katholischen, dem sozialdemokratischen und dem bürgerlich-protestantischen“ (S. 138). Mit dieser Milieu-These, die er als besondere Erkenntnis herausstreicht, liefert Nonn scheinbar eine passende Erklärung dafür, dass es in den 1950er- und 1960er-Jahren eigentlich nie um NS-Verstrickungen (also Vertuschungen und Wiedereinstellungen) gegangen sei, sondern nur um die Durchsetzung legitimer, soziologisch begründeter Interessen: „Die Versuche zur Verdrängung dieser Vergangenheit waren nicht Resultat einer allgemeinen und im Grunde unterschiedslosen Belastung. Sie sind vielmehr zu verstehen als Auswirkung des Fortbestehens der Milieus und als Resultat ihrer Machtkämpfe untereinander, in denen der Vorwurf der NS-Belastung eine Waffe war.“ (S. 139) Auch so kann man Geschichte neutralisieren.

Kapitel für Kapitel werden dann Schieders Nachkriegsaktivitäten präsentiert: seine jahrzehntelange, autokratische Herausgeberschaft der „HZ“, seine Herausgeberschaft der „Dokumentation der Vertreibung“, seine Fürsorge für Doktoranden und Habilitanden (fast alle erhielten Stellen und waren dem „Meister“ ein Leben lang verpflichtet), schließlich auch sein Engagement für das mehrbändige „Handbuch der europäischen Geschichte“, das Nonn als Schieders „Lebenswerk“ bezeichnet (wie viele ehemalige Nazis setzte Schieder auf Westeuropa als Bollwerk gegen den Bolschewismus; mit Historikern jenseits des „eisernen Vorhangs“ verweigerte er jedes Gespräch). Das alles kulminiert in einem langen Kapitel über die Studentenrevolte von 1967/68, die Hochschulreform und die Auseinandersetzung mit den eigenen Schülern, von denen einige – wie Hans-Ulrich Wehler, Wolfgang J. Mommsen, Helmut Berding usw. – zu den Begründern der „Historischen Sozialwissenschaft“ und ab 1975 der Konkurrenzzeitschrift „Geschichte und Gesellschaft“ gehörten.

Auch hier versucht Nonn zu beschwichtigen und zu allererst, die Maßstäbe neu zu richten: Die Beschäftigung mit „68“ sei bis heute „fast ausschließlich“ eine „Domäne derjenigen gewesen, die damals selbst als studentische Akteure Furore machten“ (S. 307).12 Das will er ändern. Seine Rekonstruktion von Schieders Lebenswelt angesichts studentischer Protestaktionen ist entsprechend einfühlsam. Die Angst des Sechzigjährigen vor langhaarigen Fachschaftsvertretern, die unqualifizierte Reden halten, erscheint ihm nur zu verständlich. Die „Gleichsetzung der Studentenbewegung mit den Nationalsozialisten“ sei „um 68 unter Historikern ausgesprochen gängig“ gewesen (S. 309), und unter Hinweis auf Götz Alys Buch „Unser Kampf“ (2007) stimmt er dem implizit zu. Dass sich hinter dem Gerede vom „latenten Bürgerkrieg“ eine groteske Realitätsverweigerung alter, konservativer Männer verbergen könnte, kommt ihm nicht in den Sinn. Auch war der kulturrevolutionäre Sprachduktus keine Kölner Besonderheit (obwohl er etwas Karnevaleskes hatte), sondern in der ganzen Bundesrepublik, in ganz Westeuropa und nicht zuletzt in den USA verbreitet, also mit entsprechender Gelassenheit zu betrachten. Viele liberale Professoren schlossen sich ihm an.13 Doch auch wenn sich Schieder, wie die Studenten sagten, bis dahin als „Wetterfahne der herrschenden Klasse“ (zit. auf S. 315) bewährt hatte – der abrupte Übergang vom autoritären CDU-Staat zu einer wirklich „offenen Gesellschaft“ ging über seinen Horizont. Plötzlich war der Großordinarius „nackt“, und er reagierte mit Panik. Er ließ seine Vorkriegsschriften aus der Bibliothek entfernen und wegschließen; Hörsäle betrat er nur noch unter dem Begleitschutz von Assistenten und Hilfskräften, später gar nicht mehr.

Wieder erweist sich Nonn, der die Studentenbewegung als einen „Sturm im Wasserglas“ bezeichnet, welcher kaum zu Veränderungen geführt habe, „wenn man von bloßen Äußerlichkeiten wie dem Verzicht auf Talare absieht“ (S. 332), gegenüber seinem Protagonisten als einfühlsam, so dass ihm bei mindestens einer Episode die Phantasie durchgeht: Als Schieder 1970 den Kölner Historikertag in seiner Funktion als Verbandsvorsitzender eröffnen wollte, habe eine „Gruppe Münchener Geschichtsstudenten“ versucht, „den Redner vom Pult zu verdrängen und selbst das Wort zu ergreifen. Es kam zu einer Rangelei, bei der auf Seiten der Professoren unter anderem Ernst Nolte handgreiflich wurde“ (S. 317). Soweit der äußere Hergang, angeblich – aus heutiger Sicht zwar nicht ganz so skandalös, wie der Autor meint, aber aus damaliger Sicht natürlich eine Majestätsbeleidigung. Um seine Erzählung zu belegen, beruft sich Nonn auf Interviews mit pensionierten Schieder-Schülern. Zwei der angeblichen Störer nennt er namentlich: Josef Mooser und Stefan Breuer. Hans-Ulrich Wehler habe sie damals auffordern müssen, „doch den alten Mann in Ruhe zu lassen“, schreibt er (S. 317). Wer möchte da nicht Mitleid haben? Eine so heikle Information hätte eigentlich überprüft werden müssen. Doch ausgerechnet mit diesen Kollegen hat Nonn keinen Kontakt aufgenommen.

Also hat der Rezensent seinerseits nachgefragt, und es stellte sich heraus: 1. dass Josef Mooser, heute emeritierter Professor an der Universität Basel, an dem fraglichen Historikertag gar nicht teilgenommen hat, und dass 2. Stefan Breuer, heute Professor an der Universität Hamburg, zwar in der Tat jener Münchener Studentengruppe angehörte, die „nach Schieders Eröffnungsrede“ und auch „nach einem weiteren, extrem langweiligen Vortrag“, wie sich Breuer erinnert14, ein kritisches Statement zur Lage des Faches äußern wollte, ihr Vorhaben aber angesichts der wütenden Reaktion einiger Professoren schnell wieder aufgab; „mit der Person Schieder“ jedenfalls habe dies „alles überhaupt nichts zu tun“ gehabt. Kurzum: Nonn, der sich darüber mokiert, dass die „68er“-Bewegung nur eine „erfundene Tradition“ ihrer „ehemaligen Aktivisten“ sei (S. 332), erfindet hier selbst ein gegen Schieder angezetteltes Handgemenge, um zu veranschaulichen, wie flegelhaft sich die Protestierer gegenüber dem Professor verhalten hätten. Dabei ging es gar nicht, wie durch Breuers Mitteilung deutlich wird, um Schieder als Person mit brauner Vergangenheit, die unfähig war, die eigene Geschichte zu hinterfragen oder hinterfragen zu lassen; das war nur dessen heimliche Angst. Auf der Tagesordnung stand vielmehr, und das war brisant genug, das „Fach Geschichte“ in einer Gesellschaft, die endlich demokratisch(er) werden, den Konservatismus und Nationalismus der Nachkriegsjahrzehnte überwinden und sich nicht bloß verbal dem Westen öffnen sollte – bis hin zum damals überall heiß diskutierten Marxismus.

Natürlich enthält Nonns Buch auch einige interessante und neue Informationen. Als erster hat er Schieders Nachlass gründlich ausgewertet und zitiert häufig aus dessen Briefwechseln. Vielleicht sogar zu häufig, denn es dominiert eine Binnenperspektive, die kaum kontextualisiert wird. Dafür reichen die Interviews mit Familienmitgliedern und Schülern nicht aus. Warum nicht ein paar Stichproben aus den Nachlässen von DDR-Historikern oder Franzosen, Engländern, Amerikanern mit Eindrücken über Schieder? Insgesamt entsteht ein Bild der Person, das in vielen Teilen zwar richtig und realistisch sein dürfte, das am Ende aber doch enttäuscht. Wie konnte dieser Mann eine solche „Faszination“ ausüben? Leider bleiben die im engeren Sinne historiographischen Debatten unterbelichtet, und auch die institutionelle Entwicklung des Faches in den Jahrzehnten nach 1945 wird nicht wirklich analysiert; ein paar grobe Statistiken genügen dafür nicht.

Der Wandel der deutschen Geschichtswissenschaft, so Christoph Nonns Schlussthese, habe nur aus dem „nationalkonservativ gesinnten bürgerlich-protestantischen Milieu“ heraus angestoßen werden können, das durch Schieder repräsentiert worden sei (S. 366). Dagegen wäre ein Hans Rosenberg in Köln und in der Bundesrepublik insgesamt zwangsläufig gescheitert (S. 364). So mündet dieses Buch, das manches Unangenehme verschweigt – zum Beispiel die eingangs erwähnte Abschaffung der „Theodor-Schieder-Gedächtnisvorlesung“ durch das Historische Kolleg oder die Tatsache, dass Schieder noch 1953 Karl Alexander von Müller lobend rezensierte und ihm 1958 sein Buch „Staat und Gesellschaft im Wandel unserer Zeit“ als Zeichen „einer seit drei Jahrzehnten fortdauernden Verbundenheit“ widmete –, in die These, dass alles so kam, wie es kommen musste, und das sei auch gut so.

Anmerkungen:
1 Stiftung Historisches Kolleg (Hrsg.), Theodor-Schieder-Gedächtnisvorlesung. Horst Fuhrmann, Das Interesse am Mittelalter in heutiger Zeit. Beobachtungen und Vermutungen; Lothar Gall, Theodor Schieder 1908–1984, München 1987, Zitat S. 47; URL: <http://www.historischeskolleg.de/fileadmin/pdf/dokumentationen_allgemein_pdf/dok02_fuhrmann_gall.pdf> (17.11.2013).
2 Rudi Goguel, Über die Mitwirkung deutscher Wissenschaftler am Okkupationsregime in Polen im Zweiten Weltkrieg, untersucht an drei Institutionen der deutschen Ostforschung, phil. Diss. Humboldt-Universität zu Berlin 1964.
3 Michael Burleigh, Germany Turns Eastwards. A Study of ‚Ostforschung’ in the Third Reich, Cambridge 1988.
4 Karl Heinz Roth, Wir, Schieders Enkel. Reflexionen anläßlich des Buchs von Ingo Haar über die Historiker im Nationalsozialismus, in: Junge Welt, 22.1.2001.
5 Angelika Ebbinghaus / Karl Heinz Roth, Vorläufer des „Generalplan Ost“. Eine Dokumentation über Theodor Schieders Polendenkschrift vom 7. Oktober 1939, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 7 (1992) H. 1, S. 62–94; zugänglich unter: <http://gplanost.x-berg.de/wprim.html#Vorl> (17.11.2013).
6 Susanne Heim / Götz Aly, Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, Hamburg 1991 (engl. Übers. 2003, frz. Übers. 2006). Ergänzend: Wolfgang Schneider (Hrsg.), „Vernichtungspolitik“. Eine Debatte über den Zusammenhang von Sozialpolitik und Genozid im nationalsozialistischen Deutschland, Hamburg 1991. Während bei Heim / Aly von den Historikern noch kaum die Rede war, wurde deren Beitrag zur „völkischen Flurbereinigung“ explizit thematisiert in: Götz Aly, „Endlösung“. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, Frankfurt am Main 1995, S. 15ff.
7 Charles S. Maier, Comment, in: Hartmut Lehmann / James Van Horn Melton (Hrsg.), Paths of Continuity. Central European Historiography from the 1930s to the 1950s, Cambridge 1994, S. 389–395, hier S. 395.
8 Bei Historikern wie Hans-Joachim Beyer oder Fritz Valjavec konnte eine solche Beteiligung an Mordaktionen dann tatsächlich nachgewiesen werden.
9 Siehe die Beiträge in: Winfried Schulze / Otto Gerhard Oexle (Hrsg.), Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 1999.
10 Johannes Fried, Eröffnungsrede zum 42. Deutschen Historikertag am 8. September 1998 in Frankfurt am Main, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 46 (1998), S. 869–874.
11 Vgl. Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf“ im Osten, Göttingen 2000 (2., revidierte Aufl. 2002), sowie zahlreiche Aufsätze desselben Autors.
12 Zum Beleg verweist er auf Publikationen von Norbert Frei (geb. 1955) und Ingrid Gilcher-Holtey (geb. 1952), die meines Wissens keine aktiven „68er“ waren.
13 Siehe dazu etwa die Autobiographie von Gilbert Ziebura, der damals an der Freien Universität Berlin lehrte: Kritik der „Realpolitik“, Berlin 2009, S. 163ff.
14 Stefan Breuer, E-Mail an den Rezensenten vom 8.11.2013.

Kommentare

Von Nonn, Christoph14.01.2014

Erwiderung auf Peter Schöttlers Rezension meiner Biographie über Theodor Schieder (<http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2013-4-227>)

Die NS-Vergangenheit deutscher Historiker ist in der „Zunft“ lange weitgehend verdrängt und verschwiegen worden. In den 1990er-Jahren, kulminierend auf dem Frankfurter Historikertag 1998, wurde sie endlich breit thematisiert. Das war richtig, wichtig und bitter nötig. Pioniere wie Peter Schöttler, die diese Aufarbeitung anstießen, haben sich damit den Dank des Fachs verdient.

Seit dem Frankfurter Historikertag sind gut anderthalb Jahrzehnte vergangen. In dieser Zeit haben viele Autoren die Anregungen der Pioniere aufgegriffen und die Forschung weiterentwickelt. Sie haben das Wissen über Historiker im Nationalsozialismus ebenso vertieft und biographisch differenziert wie das Wissen über den Umgang der „Zunft“ damit nach 1945. Sie haben individuelle Motivlagen ausgelotet; Entwicklungsprozesse beschrieben und Diskurse analysiert; die Übergänge und Grauzonen zwischen Opposition, Opportunismus und Fanatismus beleuchtet. Und sie haben methodische Reflexionen über den Umgang mit ihrem Untersuchungsgegenstand angestellt und diese in ihre Arbeit einfließen lassen.

Thomas Etzemüller stellte 2003 in der Kontroverse um Hans Rothfels und den Nationalsozialismus die Frage: „Suchen wir Schuld oder wollen wir Gesellschaft analysieren?“1 Wer Gesellschaft analysieren will, muss methodische Reflexion betreiben. Wer aber überzeugt ist, dass der Zweck einer Geschichte der Geschichtsschreibung nur die Feststellung von Schuld oder Unschuld ist, kann darauf verzichten. Was benötigt man für einen Schuldspruch methodische Instrumente wie das der biographischen Sonde, der kollektiven Denkstile, des kontrafaktischen Experiments oder des kollektivbiographischen Vergleichs? Was braucht man dafür das Nachzeichnen von biographischen Entwicklungen? Man braucht nur juristisch verwertbares Material. Aus dem ersten Kapitel meines Buchs hält Peter Schöttler in seiner Besprechung denn auch nur einen einzigen Umstand für erwähnenswert über die 25 Lebensjahre des Theodor Schieder vor 1933 – nämlich dass er „führendes Mitglied der rechtsradikalen, antisemitischen ‚Gildenschaft‘“2 gewesen sei.

Schöttler ignoriert dabei, dass Schieder in der Deutschakademischen Gildenschaft, in der eine antisemitische Ausrichtung in Wahrheit heftig umstritten war, Rassismus und Antisemitismus 1930 als „Mythos“ abqualifizierte. Dem Nationalsozialismus erteilte Schieder unter anderem deshalb in den letzten Jahren der Weimarer Republik eine Absage. Seit 1933 änderte sich das, und in den frühen 1940er-Jahren war Schieder zu einem Nationalsozialisten reinsten Wassers und rassistischen Ideologen geworden. Das wirft aus meiner Sicht Fragen nach den Ursachen dieses Wandlungsprozesses auf, denen ich in dem Buch nachgegangen bin. Nicht so für Schöttler. Denn indem er den konservativen Schieder der Jahre vor 1933 als „Rechtsradikalen“ etikettiert, setzt er einfach Konservatismus mit Nationalsozialismus gleich. Weil Schieder ein Konservativer war, war er in Schöttlers Augen eigentlich immer schon ein „Nazi“, und blieb es auch nach 1945: „Einen echten Neuanfang gab es nicht […].“

Ich werde mir in dieser Entgegnung auf Schöttler im Folgenden allerdings verkneifen, die Thesen meiner Schieder-Biographie zu rekapitulieren. Wer sich für diese interessiert, wird das Buch selbst lesen müssen – zumal dessen tatsächlicher Inhalt in der Besprechung Schöttlers völlig verzeichnet wird. Hier kann nur auf die gröbsten Unrichtigkeiten hingewiesen werden, die in der Rezension enthalten sind.

Der Rezensent registriert zunächst einmal „eine erstaunliche Selbstsicherheit, die es Nonn gestattet, den Schieder-Streit und das gesamte Forschungsfeld ‚von oben‘ zu betrachten und alle anderen Kollegen belehren zu wollen“. Er unterstellt, ich hätte mit meinem Buch „offenbar die Kontroverse abschließen“ wollen. In einem Buch dürfte vor allem das „offenbar“ sein, was darin steht. Hat Schöttler also die Einleitung gelesen? Denn darin heißt es ausdrücklich, dass es mir „nicht als Problem, sondern gerade als Gewinn“ erscheint, wenn das Buch „Leserin und Leser zum Widerspruch und Weiterdenken provozieren mag“ (S. 5). Und einige Seiten später wird das noch einmal unterstrichen (S. 12).

Dann folgt eine weitaus massivere Unterstellung Schöttlers. Denn ihm zufolge hat Christoph Nonn ständig Ingo Haar kritisiert, „obwohl er sich ganz offensichtlich auf dessen Recherchen stützt – ohne dies immer genau kenntlich zu machen“. Es ist also „offensichtlich“, dass Nonn von Haar abgekupfert habe. Wenn das so „offensichtlich“ ist, warum versäumt Schöttler es dann, diesen rufschädigenden Vorwurf irgendwie zu belegen? Gerade das schnelllebige Medium Internet erlaubt es zum Glück, solche Vorwürfe sehr skrupulös und detailliert zu belegen. Und H-Soz-u-Kult bietet praktischerweise die Möglichkeit, in Buchbesprechungen Anmerkungen zu setzen. Warum nutzt Schöttler diese Möglichkeit also nicht, um seinen Vorwurf durch zumindest ein paar Belege zu untermauern? An meiner Universität hat man bekanntlich einige Erfahrung im Umgang mit ähnlichen Vorwürfen. Wenn die Philosophische Fakultät der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität allerdings so lässig mit diesen umgehen würde wie Schöttler das tut, hätte Annette Schavan in fünf Minuten eine einstweilige gerichtliche Verfügung gegen die Entziehung ihres Doktorgrads durch die Fakultät erwirken können und wäre immer noch Bundesbildungsministerin.

Über das zweite Kapitel des Buches, in dem unter dem Titel „Grenzen verschieben“ Theodor Schieders Karriere zwischen 1933 und 1945 behandelt wird, urteilt Schöttler kurz und knapp: „Schieders Nähe zur NS-Ideologie und zu anderen NS-Historikern wird dabei heruntergespielt.“ Auch diese Behauptung belegt er in keiner Weise. Das ist wenig erstaunlich. Denn in meinem Buch beschreibe ich im Detail, wie Schieder seit 1933 den Weg „der Anpassung und Annäherung an den Nationalsozialismus“ ging, „bis hin zur weitgehenden Identifikation mit diesem“ (S. 117); wie Schieder „sich seit 1938 unzweideutig zum Nationalsozialismus“ bekannte (S. 118); wie Schieder nicht allein mit Erfolg „den Kontakt zu einflussreichen Nationalsozialisten an der Königsberger Universität“ suchte (S. 76), sondern sich 1939 „über den gemeinsamen Doktorvater Karl Alexander von Müller auch um Kontakte zu dem nationalsozialistischen Paradehistoriker Walter Frank“ und dessen „Reichsinstitut für die Geschichte des neuen Deutschland“ bemühte (S. 84); wie Schieder sich mit seiner Polendenkschrift vom Oktober diesen Jahres „in Gedankenspiele ein[klinkte], die am grünen Tisch über die brutale Zwangsumsiedlung und Verschleppung von Millionen Menschen angestellt wurden, und schließlich in das größte Menschheitsverbrechen zumindest des 20. Jahrhunderts münden sollten“ (S. 90) und so beitrug „zur kumulativen Radikalisierung der Verbrechen“ (S. 92); wie während des Zweiten Weltkrieges die Gutachten und historischen Arbeiten der von Schieder geleiteten „Landesstelle Ostpreußen“ ein Klima mitproduzierten, das vor Ort „alltägliche Willkürakte von deutschen Behördenvertretern, Polizisten und ‚Volksdeutschen‘ an Polen ermöglichte – bis hin zu nicht autorisierten Erschießungen, ‚wilden‘ Deportationen und Mord“ (S. 101), und seine Stimme deshalb eine in dem „vielstimmigen Chorus“ war, der die „mörderische NS-Politik […] legitimierte und radikalisierte“ (S. 119); wie Schieder „sich weiter, ja noch mehr als vorher für nationalsozialistische Ziele [engagierte], als das in diesem Umfang gar nicht mehr nötig gewesen wäre, nämlich als nach der Verbeamtung als Dozent 1940 und der Berufung auf einen Lehrstuhl 1942 seine langfristige akademische und materielle Existenz gesichert war“ (S. 120); und wie er schließlich noch im April 1945 wie Goebbels und Hitler im ‚Führerbunker‘ an Kriegswende und ‚Endsieg‘ glaubte (S. 115). Sieht es so aus, wenn die Nähe eines Historikers zum Nationalsozialismus heruntergespielt wird?

Nach dem Krieg und dem Verlust seines Königsberger Lehrstuhls wurde Theodor Schieder 1947 nach Köln berufen, obwohl dort auch Hans Rosenberg als Kandidat in der Diskussion gewesen war. Diese Berufungsgeschichte möchte Schöttler gerne als einen vieler „Kämpfe zwischen ehemaligen Nazis und deren Gegnern“ sehen, in dem NS-Netzwerke aus „alten Freunden“ einen der ihren durchbrachten. Schöttlers Problem ist allerdings, dass in Köln gar keine „alten Freunde“ von Schieder aktiv waren. Dieses Etikett ließe sich mit Mühe allenfalls dem Althistoriker Alfred Heuß anheften, der Ende der 1930er-Jahre auch in Königsberg gewesen war – aber Heuß trat als Lehrstuhlvertreter in Köln 1947 für Rosenberg ein. Nichtsdestoweniger glaubt Schöttler die These von den Machenschaften alter NS-Netzwerke retten zu können. Denn die treibende Kraft für die Berufung Schieders war in Köln Peter Rassow, und der sei ein „konservativer Mediävist“ gewesen.

Selbst wenn man absieht von der Frage, ob konservativ gleich nationalsozialistisch ist, wird hier einmal mehr einfach ignoriert, was nicht ins Bild passt. Denn Rassow war vor 1933 engagiertes Mitglied der linksliberalen DDP, trat als einer von ganz wenigen Privatdozenten unter den in Deutschland gebliebenen Historikern nie in die NSDAP ein und protestierte noch 1936 offen gegen die Diskriminierung von Juden. Nach 1945 wurde Rassow von den Briten zum ersten Dekan der Kölner Philosophischen Fakultät eingesetzt und engagierte sich nach Kräften für eine Entnazifizierung des Lehrkörpers.3 Für mich stellte sich deshalb die Frage, ob die historische Realität der Nachkriegsgesellschaft vielleicht doch etwas komplexer war, als dass sie mit dem einfachen Schema von „Nazi“ versus „Antinazi“ und dem vermeintlichen Erfolg von NS-Netzwerken hinreichend zu erklären wäre. Nicht dagegen für Schöttler.

Der widmet sich lieber besonders ausführlich meinem Kapitel über „1968“. Hier muss er endlich einmal nicht mehr mit unbelegten Unterstellungen arbeiten, hier kann er mir einen tatsächlichen Fehler nachweisen. Es geht um eine Auseinandersetzung auf dem Kölner Historikertag 1970 zwischen einer Professorengruppe um Schieder und protestierenden Geschichtsstudierenden, die ich in vier knappen Sätzen erwähne. Dabei bin ich der – in einer Fußnote mitgeteilten – Fehlinformation eines Zeitzeugen aufgesessen, nach der Josef Mooser einer der Studierenden gewesen sei (S. 317). Das war er nicht, und ich nutze dankbar die Gelegenheit, mich hier auch öffentlich bei Herrn Mooser für diesen Fehler zu entschuldigen, nachdem ich das privat schon getan habe. Doch darum geht es Schöttler gar nicht, sondern darum, dass Stefan Breuer, der zweite namentlich erwähnte Studierende, zwar da war, aber eine etwas andere Erinnerung an die Ereignisse hat als Kurt Düwell und Hans-Ulrich Wehler. Ist es normal, dass Zeitzeugen einen Konflikt, an dem sie vor mehr als 40 Jahren auf verschiedenen Seiten beteiligt waren, auf verschiedene Weise erinnern? Oder belegen diese Unterschiede in der Erinnerung, dass mir „die Phantasie durchgeht“ und ich die Episode erfunden habe, wie Schöttler meint?

An anderen Stellen seiner Ausführungen zu dem Kapitel über die „Studentenrevolte“ ist jedenfalls ganz eindeutig, wem hier die Phantasie durchgeht. So referiert Schöttler zwar korrekt meinen Befund, dass die „Gleichsetzung der Studentenbewegung mit den Nationalsozialisten […] um 1968 unter Historikern ausgesprochen gängig“ war. Dann unterstellt er aber, ich würde diesem zeitgenössischen Vergleich „implizit“ zustimmen. Das trifft nachweislich nicht zu. Tatsächlich habe ich in dem Buch direkt im Anschluss an die zitierte Stelle explizit die Überzeugung geäußert, dass „die Analogie zwischen 1968 und 1933 ein schiefes Bild“ ist und es sich dabei um einen „ausgesprochen fragwürdigen Vergleich“ handelt, der „auf beiden Beinen“ hinkt (S. 309f.).

Schöttler unterstellt mir in diesem Zusammenhang auch fehlende kritische Distanz zu Theodor Schieders Sicht von „1968“. Es sei mir „nicht in den Sinn“ gekommen, dass „sich hinter dem Gerede vom ‚latenten Bürgerkrieg‘ eine groteske Realitätsverweigerung alter, konservativer Männer verbergen könnte“. Das ist ebenso falsch. Ich habe vielmehr nicht nur betont, dass Schieder die Situation an den Universitäten in den Jahren um 1968 unnötig dramatisierte, „indem er die unangemessene Analogie zu 1933 bemühte“ (S. 317). Ich habe auch wiederholt hervorgehoben, dass die Perspektive von Schieder und der Mehrheit seiner Generation in dieser Hinsicht „von einem gewissen Realitätsverlust geprägt war“ (S. 304), dass er seit 1968 „Verschwörungstheorien“ konstruierte und seine Interpretationen der gesellschaftlichen Lage in der Bundesrepublik seitdem „kaum einen Bezug zur Realität hatten“ (S. 305), dass er unter „getrübter Wahrnehmung“ litt (S. 306) und sich geradezu in eine düstere Paranoia hineinsteigerte (S. 221f.).

Freundlicherweise konzediert der Rezensent dem Autor am Ende, „natürlich“ enthalte dessen Buch „auch einige interessante und neue Informationen“. Welche das sind, wird dem Leser der Besprechung zwar vorenthalten. Nonn habe aber immerhin „Schieders Nachlass gründlich ausgewertet und zitiert häufig aus dessen Briefwechseln. Vielleicht sogar zu häufig, denn es dominiert eine Binnenperspektive, die kaum kontextualisiert wird.“ Dass ich die Biographie Schieders immer wieder mit der von mehr als drei Dutzend Kollegen seiner Generation abgeglichen habe, um Alternativen zu seinem Verhalten und Handlungsspielräume des Historikers in Nationalsozialismus und alter Bundesrepublik auszuloten, hat mit Kontextualisierung wohl nichts zu tun. Jedenfalls interessiert das den Rezensenten nicht. Was ihm fehlt, sind „ein paar Stichproben aus den Nachlässen von DDR-Historikern oder Franzosen, Engländern, Amerikanern mit Eindrücken über Schieder“. Solche Eindrücke aus dem Nachlass von Schieders deutschamerikanischem Gegenstück Hans Rosenberg zitiere ich zwar mehrfach. Rosenberg ist Schieder allerdings, bei allen politischen und fachlichen Gegensätzen zwischen den beiden, persönlich immer mit Respekt begegnet. Ich hätte mich also stattdessen auf das Urteil von weniger respektvollen „DDR-Historikern“ oder Ausländern verlassen müssen, die Schieder flüchtig auf Historikertagen gesehen haben.

Abschließend zitiert der Rezensent den letzten Satz des Buches, nach dem der verspätete Wandel der deutschen Geschichtswissenschaft zur Sozialgeschichte, zur Infragestellung nationaler Traditionen und zur Etablierung des Nationalsozialismus als negativem Bezugspunkt „nicht gegen das bürgerlich-protestantische Zunftmilieu erfolgen, sondern nur aus diesem Milieu heraus angestoßen werden“ konnte. Meine Schlussfolgerung, endet Schöttler, sei also „die These, dass alles so kam, wie es kommen musste, und das sei auch gut so“. Das habe ich weder geschrieben, noch denke ich es. Wer würde es denn nicht für besser halten, wenn die Bundesrepublik Deutschland und ihre Historiker sich schon in den 1950er-Jahren ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit gestellt hätten? Nur geht es bei Geschichtsschreibung doch nicht allein darum, ob etwas gut oder schlecht war. Es geht auch darum zu ergründen, welche Ursachenfaktoren und Kausalketten eine Rolle spielten, welche realen Handlungsspielräume die historischen Akteure hatten, welche praktischen oder aber auch nur theoretischen Alternativen bestanden. Es geht um die Fragen, warum es so gekommen ist, wie es kam; ob es hätte anders kommen können; und warum das nicht geschehen ist. Oder?

Anmerkungen:
1 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/id=284&type=diskussionenonen> (9.1.2014).
2 Zitate ohne weiteren Nachweis stammen hier und im Folgenden aus Schöttlers Rezension meines Buchs, Zitate mit Seitenangaben im Text aus dem Buch selbst.
3 Vgl. dazu bereits Frank Golczewski, Kölner Universitätslehrer und der Nationalsozialismus, Köln 1988, S. 350-353; Winfried Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, München 1989, S. 66-74; Leo Haupts, Die Universität zu Köln im Übergang vom Nationalsozialismus zur Bundesrepublik, Köln 2007, S. 256ff.