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Titel
Täuschend, ähnlich. Fälschung und Plagiat als Figuren des Wissens in Künsten und Wissenschaften. Eine philologisch-kulturwissenschaftliche Studie


Autor(en)
Reulecke, Anne-Kathrin
Reihe
Trajekte
Erschienen
München 2016: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
469 S., zahlr. Abb.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kathrin Ackermann-Pojtinger, Fachbereich Romanistik, Universität Salzburg

Bei der Rezension einer Studie, in der das Problem der wissenschaftlichen Priorität im Mittelpunkt steht, ist es unumgänglich darauf hinzuweisen, dass ihr vor wenigen Jahren eine Publikation zuvorgekommen ist, mit der sie sich in Bezug auf Untersuchungsgegenstand, Fragestellung und Methode aufs Engste überschneidet: Martin Dolls „Fälschung und Fake“.1 Gleichwohl, soviel kann jetzt schon gesagt werden, ist Reuleckes Buch „Täuschend, ähnlich“ keineswegs entbehrlich, denn auch wenn die Verfasserin in einigen Punkten zu Ergebnissen gelangt, die sich von denen ihres Vorgängers (der im Übrigen nicht im Literaturverzeichnis erscheint) kaum unterscheiden, basiert es auf einer anderen Textauswahl und setzt einen anderen Fokus.

Beide Autoren gelangen zu dem Fazit, dass Fälschungen keine Betriebsunfälle der Wissensgeschichte sind, die sich aufklären und ausmerzen lassen, sodass der Betrieb reibungslos weiterlaufen kann. Vielmehr indizieren sie eine Störung des Systems, die dessen diskursive Regeln offenlegt. Fälschungen erlauben Rückschlüsse auf die einer kulturellen Ordnung zugrunde liegenden Begriffe, Konzepte und Funktionsweisen und weisen auf Beweismängel, Argumentationslücken, Definitionsschwächen oder Widersprüche hin.

Ebenso wie Doll hebt Reulecke als den Vorzug ihrer Studie hervor, dass sie sich nicht darauf beschränke, Fallbeispiele aneinanderzureihen, wie dies bei einem Großteil der bisherigen Fälschungs- und Plagiatsforschung der Fall sei. Desgleichen distanziert sie sich von typologischen Ansätzen, wie sie unter anderem von Umberto Eco oder Nelson Goodman vorgelegt wurden, und unternimmt stattdessen eine kulturwissenschaftliche Revision des Untersuchungsgegenstandes, indem sie zum Verständnis eines Einzelfalls von Fälschung oder Plagiat die diskursiven Bedingungen der jeweiligen Disziplin miteinbezieht. Nicht zuletzt thematisiert auch Reulecke das epistemische Dilemma der Fälschungs- und Plagiatsforschung, welches darin besteht, dass beide nur als aufgedeckte – und somit als fehlgeschlagene – überhaupt untersucht werden können.

Der wichtigste Unterschied zu Doll besteht in der Ausweitung der Fälschung auf das Phänomen des Plagiats. Beide beschreibt Reulecke als Verfahren der Täuschung, die mit Ähnlichkeiten operieren; dabei schreibe der Plagiator seinen eigenen Namen einem von einem anderen übernommenen Text zu, wohingegen der Fälscher umgekehrt seinem eigenen Produkt einen bereits eingeführten Autorennamen zuweise, häufig unter Verwendung plagiatorischer Praktiken. In beiden Fällen fand im 18. Jahrhundert eine entscheidende Umcodierung statt, welche Werte wie Ursprung, Originalität, Authentizität, Identität, Urheberschaft, Priorität, Schöpfung, Innovation, Echtheit – somit also grundlegende Werte der abendländischen Kultur – auf den Prüfstand stellte. Unterschiedlich sei jedoch die Inszenierung der beiden Praktiken, wie Reulecke an einer Vielzahl von Beispielen deutlich macht: Geschichten von Fälschungen manifestierten sich überwiegend komödiantisch, als gelungenes Schelmenstück, Plagiatserzählungen hingegen tendierten zum tragischen Register, insofern sie oft gescheiterte Existenzen zum Gegenstand hätten; bei der Darstellung von Fälschern werde meistens die Frage nach deren pathologischen Motivationen gestellt, während bei Plagiatoren der Fokus auf der Frage liege, ob diese überhaupt bewusst vorgegangen seien.

Da im Gegensatz zur Fälschung bei Plagiaten eine große Grauzone von der Kryptomnesie bis hin zur bewussten Übernahme fremden Textes besteht, ist Reuleckes Untersuchungsgegenstand sehr viel breiter angelegt und bezieht auch das Thema des literarischen und wissenschaftlichen Einflusses mit ein. Und während Doll in erster Linie Fälschungsfälle mit einer ausgeprägten Skandalwirkung zum Ausgangspunkt nimmt, beschäftigt sie sich auch vielfach mit Texten, die bislang im Kontext der Fälschungs- und Plagiatsforschung wenig beachtet wurden, da sie die Begriffe „Fälschung“ und „Plagiat“ nicht explizit verwenden.

Methodisch ergänzt Reulecke ihren kulturwissenschaftlichen Ansatz durch die Berufung auf die Philologie, die seit ihren Anfängen eine Fälschungslehre sei. Ein Schwerpunkt ihres Buches liegt demgemäß auf der Literatur, die hier nicht nur ein diskursives Feld unter anderen bildet, sondern einen privilegierten Status genießt, da sie zur Anschauung bringe, „vermöge welcher Mechanismen die Fälschung das kulturelle ,Kapillarsystem’ bewohnt“ (S. 17). Symptomatisch dafür ist, dass die Autorin in der Einleitung nicht nur auf Foucault, sondern gleichermaßen auf Goethe referiert, der für sie zu einem Diskurstheoretiker avant la lettre avanciert. Die Emergenz von Wissen beruhe, so paraphrasiert sie Goethe, nicht auf der Leistung individueller Forscher/innen, sondern werde vom Diskurs selbst hervorgebracht; Goethe weise auf den Widerspruch zwischen dem epistemischen Tableau hin, auf dem die Forscher agierten, und der akademischen Öffentlichkeit, die Wert auf die Autorschaft wissenschaftlicher Erkenntnisse lege.

Die Disziplinen und Wissensgebiete, aus denen Reulecke ihre Beispiele auswählt, sind die Theorien und Konzepte der Autorschaft in der Antike und seit dem 18. Jahrhundert, die Begründung der Philologie durch Schleiermacher und die nachfolgende Etablierung der philologischen Methode zum Nachweis von Fälschungen, die Psychoanalyse (Sigmund Freud, Alfred Adler, Carl Gustav Jung, Hermine Hug-Hellmuth), die Wissenschaftstheorie (mit dem Fokus auf dem Problem der Priorität); als exemplarische Disziplin aus dem Bereich der Naturwissenschaften wählt sie wie Doll die ,Würzburger Lügensteine’, wohingegen die anderen Beispielfälle literarische Bearbeitungen naturwissenschaftlicher Fälschungen und Plagiate darstellen (Franz Kafka, Carl Djerassi). In den eigens der Literatur gewidmeten Kapiteln nehmen Jorge Luis Borges und Georges Perec eine prominente Rolle ein, beides Autoren, die nicht nur das Thema Fälschung und Plagiat aufgreifen, sondern beide Verfahren produktiv einsetzen, um poetologische Fragen imaginativ zu verhandeln.

Besonders eindrucksvoll schildert Reulecke die Verschiebungen des Fokus, die sich aus verschiedenen Diskurs- und Argumentationszusammenhängen des Plagiats ergeben, im Kapitel über die Psychoanalyse. Freud gelange zu ganz unterschiedlichen Bewertungen des Plagiats, je nachdem, ob er sich ihm als theoretischem Problem annähere oder ob es ihm darum gehe, seine eigene Priorität in der Psychoanalyse zu behaupten.

Nicht minder interessant ist das letzte Kapitel, das, als paradigmatische Analyse eines aktuellen Plagiatsfalls, Helene Hegemanns Roman „Axolotl Roadkill“ gewidmet ist. Die damals erst 17-jährige Autorin hatte mit ihrem Erstlingswerk zunächst für eine literarische Sensation gesorgt, bevor ihr mehrere Plagiate nachgewiesen wurden, was zu einer Kehrtwende in den Urteilen der Feuilletons führte. Bei der Diskussion dieses Falls zeigt sich, wie schwer auch und gerade im Zeitalter der Postmoderne die Abgrenzung zwischen dem Phänomen der universellen Intertextualität, bestimmten Techniken der Avantgarde wie Montage, Collage, Patchwork, Remix und dem Plagiat ist. Reuleckes These ist, dass wir auch heute noch Konzepte des Originalschriftstellers mitschleppen und – ungeachtet dessen, dass wir die Rede von der absoluten schriftstellerischen Originalität für obsolet halten – von Autor/innen erwarten, dass sie, selbst dann wenn sie sich explizit auf eine Poetik der ré-écriture berufen – innovativ, kreativ und originell sind.

Reulecke selbst kritisiert an Hegemann, dass sie die Mühen der künstlerischen Transformation vermieden habe, gleichzeitig aber die narzisstischen Belohnungen, die ihr das traditionelle Konzept von Autorschaft verschaffte, gerne mitzunehmen bereit war. Geht es also nur darum, dass wir die Arbeit als solche, die handwerklich solide Fleißarbeit des Schreibens schätzen? Auch an einer anderen Stelle tritt Reulecke aus ihrer Rolle als Fälschungs- und Plagiatsanalytikerin heraus, wenn sie nämlich Carl Djerassis Roman „Cantors Dilemma“ bezüglich der Wahl seiner ästhetischen Mittel als trivial kritisiert. Doll ist insofern konsequenter, da er sich jeglicher Wertung enthält und sich darauf beschränkt, die von ihm untersuchten Fälle von Fälschung und Fake im Rahmen der Foucaultschen Diskusanalyse zu verorten und theoretisch zu begründen. Der Vorzug von Reuleckes Buch besteht wiederum in ihrem engagierten Plädoyer für eine Literatur, die in der Lage ist, „die Spannung zwischen dem Eigenen und dem Fremden auszuhalten und in Produktivität zu überführen“ (S. 431) und in ihrer luziden Analyse der Widersprüche des heutigen Wissenschaftsbetriebs. Diesen Widersprüchen entkommt man nur, wenn man sich zum bedenkenlosen Plagiieren bekennt, und zwar nicht nur auf dem Gebiet der Literatur, sondern auch des Wissens. Dies würde aber das gesamte Gebäude unserer künstlerischen und wissenschaftlichen Praktiken zum Einsturz bringen.

Anmerkung:
1 Martin Doll, Fälschung und Fake. Zur diskurskritischen Dimension des Täuschens, Berlin 2012; vgl. die Rezension von Kathrin Ackermann-Pojtinger, in: H-Soz-Kult, 10.08.2015, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-21244> (19.09.2016).