A. Peglau: Unpolitische Wissenschaft?

Cover
Titel
Unpolitische Wissenschaft?. Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus


Autor(en)
Peglau, Andreas
Reihe
Bibliothek der Psychoanalyse
Erschienen
Anzahl Seiten
635 S.
Preis
€ 44,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Elke Mühlleitner, Gießen

Der Wiener Arzt und Psychoanalytiker Wilhelm Reich (1897–1953), einer der einflussreichsten Schüler Sigmund Freuds zu Beginn des 20. Jahrhunderts, hat mit seinen theoretischen und praktischen Ansichten und seinen Schriften, und insbesondere mit seinem politischen Engagement und seiner Zugehörigkeit zur Kommunistischen Partei, innerhalb der psychoanalytischen Community immer wieder – zu seinen Lebzeiten aber auch heute noch – heftige Kontroversen ausgelöst. An seiner Person scheiden sich die Geister, Reich bietet immer wieder (Zünd-)Stoff zur Spaltung, sodass das Spektrum der Auseinandersetzung mit ihm von hagiographischen Legendenbildungen bis zu dämonisierenden Vorwürfen, Pathologisierung, Diffamierung und Ausgrenzung reicht.

Nun ist ein weiteres Werk erschienen, das die Reich-Biographik bzw. die Auseinandersetzung mit seinen Schriften und seinem Wirken fortsetzt. Es handelt sich aber nicht bloß um ein „weiteres Werk“, sondern um eine ungemein differenzierte Studie, die der Berliner Psychoanalytiker und Psychologe Andreas Peglau für die eingegrenzte Zeit des Nationalsozialismus vorlegt und mit der er auf Basis umfangreicher Recherchen versucht, Reich zu rehabilitieren bzw. ihm die Stellung zuzuschreiben, die ihm tatsächlich gebührt. Detailliert schildert Peglau mit seiner am Berliner Institut für Geschichte der Medizin der Charité entstandenen Promotionsarbeit Reichs Wirken in Deutschland von 1930 bis 1933 und beschreibt die Zeit, in der die nachhaltigen Weichenstellungen zu einer ‚unpolitischen‘ Psychoanalyse bzw. die Vermeidung einer Konfrontation mit dem NS-Regime erfolgten. Diese Weichenstellungen, nämlich die hauptsächliche Beschränkung der Psychoanalyse als therapeutische Methode, zeigten in der Folge nicht nur Wirkungen für die psychoanalytische Bewegung der deutschen Nachkriegsjahre, sondern auch weltweit, etwa in den Diktaturen Lateinamerikas und anderen autoritären Regimen.

Ausgehend von Reichs frühen Prägungen in der Habsburger Monarchie, seiner Politisierung im Roten Wien, seiner Hinwendung zur an Aufklärung und an gesellschaftspolitischen Fragen interessierten Psychoanalyse Sigmund Freuds und den damit verbundenen theoretischen Kontroversen innerhalb der psychoanalytischen Bewegung verfolgt der Autor akribisch Reichs Hinwendung zur Politik und Kommunistischen Partei und spart dabei auch nicht die Schwierigkeiten aus, die Zeitgenossen mit Reichs Charakter hatten.

„Die nachhaltigsten Weichenstellungen hin zum Image einer angeblich ‚unpolitischen‘ Psychoanalyse erfolgten in der ersten Hälfte der 1930er-Jahre. Sie waren eng verbunden mit Freuds widersprüchlicher Haltung zu gesellschaftsveränderndem Engagement, mit der Medizinfixierung insbesondere der US-amerikanischen Psychoanalytiker, aber auch mit dem Versuch der internationalen Analytikerorganisation, Konfrontationen mit den entstehenden oder erstarkenden autoritären Regimen, insbesondere dem NS-Staat, zu vermeiden“ (S. 21).

Der Abschnitt „Psychoanalytische Schriften in der Zeit des Nationalsozialismus“ nimmt demnach einen großen Raum in der Untersuchung Peglaus ein (mehr als 200 Seiten), er setzt sich mit der Bücherverbrennung und deren Hauptbetroffenen sowie den Publikationsverboten auseinander und geht detailliert auf bisherige (teilweise oberflächliche) Annahmen bezüglich des Verbots psychoanalytischer Schriften ein. So greift er die Mythenbildungen und unreflektierten Fortschreibungen auf und setzt sie in Beziehung mit seiner akribischen und faktenorientierten Recherche.

Peglau kommt zu dem Schluss: „Die Psychoanalyse in ihrer Gesamtheit wurde keinesfalls vom Nationalsozialismus verfolgt. Wenn Psychoanalytiker zu Opfern des NS-Systems wurden, dann nie, weil sie Psychoanalytiker waren, sondern wegen ihrer jüdischen Herkunft oder widerständigen, insbesondere politisch ‚linken‘ Äußerungen oder Aktivitäten“ (S. 502). Der Autor weist nach, dass von einem pauschalen Verbot oder gar einer ‚Ausrottung‘ weder der Psychoanalyse noch ihres Vokabulars oder der Schriften die Rede sein kann. „Bis zum April 1940, als eine NS-Anordnung alle ‚voll- und halbjüdischen‘ Autoren unter Totalverbot stellte, unterlag der größere Teil analytischer Schriften keiner Indizierung“ (S. 503). Sein Fazit ist klar, wenn auch ansatzweise nicht ganz neu und in einzelnen Studien bereits aufgegriffen worden: „Die Rolle der Psychoanalyse im Nationalsozialismus auf die eines Opfers zu reduzieren, wäre falsch. Psychoanalytiker waren auch Mittäter, schweigende und beschönigende Zeugen und Opponenten des Faschismus. […] Eine der wesentlichsten zusätzlichen Erkenntnisse, die sich aus meinen Recherchen ergaben, ist, dass Psychoanalyse, Psychoanalytiker und psychoanalytische Literatur weit stärker in das NS-System integriert waren, als von damaligen Psychoanalytikern im Nachhinein meist zugegeben wurde bzw. heute zumeist angenommen wird“ (S. 501). Und er stellt weiter fest, dass der „einzige Psychoanalytiker, der seine Kollegen öffentlich davor warnte, sich mit dem NS-Staat einzulassen“, (S. 29) Wilhelm Reich war. Der Autor konnte „unter mehreren Tausend Artikeln, Rezensionen, Mitteilungen, Büchern und sonstigen Veröffentlichungen von Psychoanalytikern in den Jahren von 1932 bis 1939 keinerlei offen gegen Faschismus oder Nationalsozialismus gerichtete Beiträge entdecken. […] Ausdrückliche Versuche, das Phänomen Faschismus einem psychoanalytischen Verständnis zuzuführen, wurden in diesem Zeitraum offenbar nur von Reich, Fromm und Löwenfeld veröffentlicht“ (S. 235f.).

Die Ergebnisse der Untersuchung sind ernüchternd, denn so genau hat bisher kein Autor die psychoanalytische Literatur und die Medien, in denen Psychoanalytiker veröffentlicht haben, aufgearbeitet. „Ziel der Untersuchung von Andreas Peglau ist es, das zweideutig-zwielichtige Verhältnis der organisierten Psychoanalytiker (und ihrer Verbands-Ideologen) zur Politik zu klären. Sein Resultat: Die organisierte Psychoanalyse war nie unpolitisch (oder ‚neutral‘)“ (S. 14), schreibt Helmut Dahmer in seinem Vorwort und Peglau selbst erklärt: „‚Unpolitisch‘ war die Psychoanalyse natürlich niemals, erst recht nicht 1933/34. Schon die Entscheidung, sich den faschistischen Machthabern anzupassen, war eine politische, der Ausschluss Reich ebenso“ (S. 512).

Peglau recherchierte für seine flüssig geschriebene und akkurat redigierte Studie nicht nur veröffentlichte Quellen, sondern wertet neue Dokumente – etwa der seit 2007 zugänglichen (Reich) Archives of the Orgone Institute (Maine, USA) sowie privates Archivmaterial bzw. Experteninterviews – aus und schließt damit erhebliche Lücken in der Geschichte der Psychoanalyse und Psychotherapie bzw. der Reich-Biographik. Gerade in einer Zeit der zunehmenden Bedeutungslosigkeit der Psychoanalyse (und Peglau benennt zahlreiche Gründe dafür) wünscht man dem Buch viele Leser aus der praktizierenden und heranwachsenden Psychoanalytiker- und Psychotherapeutenzunft. Historiker/innen werden die Studie ebenso mit Gewinn lesen.

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