L. Mücke: Altersrentenversorgung in der UdSSR 1956–1972

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Titel
Die allgemeine Altersrentenversorgung in der UdSSR, 1956–1972.


Autor(en)
Mücke, Lukas
Reihe
Quellen und Studien zur Geschichte des Östlichen Europa 81
Erschienen
Stuttgart 2013: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
565 S.
Preis
€ 81,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ernst Wawra, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen

Mit seiner Dissertation über die „allgemeine Altersrentenversorgung in der UdSSR, 1956-1972“, hat sich Lukas Mücke eines Themas angenommen, welches bislang von der historischen Forschung bestenfalls stiefmütterlich behandelt worden ist.1 Sein Untersuchungszeitraum wird einerseits von zwei wegweisenden Gesetzen – dem „Gesetz über die staatlichen Renten“ von 1956 und dem „Gesetz über die Renten und Beihilfen für Kolchosmitglieder“ von 1964 sowie deren „Nachbesserungen“ (S. 19) – und andererseits von der Zugänglichkeit der Akten, die für die Bestände nach 1972 nicht mehr ausreichend gegeben war (S.19), vorgegeben. Wie bedeutend diese beiden Rentengesetze waren, zeigt sich, so Mücke, mit einem Blick auf die Situation davor: „Mit ihnen reagierte der Gesetzgeber auf eine Versorgungssituation, die von extremen Defiziten geprägt war. Schließlich war der rentenpolitische Ansatz des stalinistischen Regimes in erster Linie durch Untätigkeit gekennzeichnet gewesen“ (S. 13). Zwar bildeten die Gesetze von 1956 und 1964 nicht die erste Grundlage für eine staatliche Altersversorgung, allerdings kamen bis dato nur wenige Sowjetbürger in den Genuss einer Rente bzw. war deren Höhe derartig gering, dass ein Auskommen auf dieser Basis kaum möglich war.

Mücke würdigt die Stärken der bislang erschienen Literatur, hebt aber gleichzeitig berechtigterweise hervor, dass diese Arbeiten „in der Regel auf der sowjetischen Sekundärliteratur und den veröffentlichten statistischen Daten basieren“ (S. 22). Hier wurden darüber hinausgehend umfangreiche Bestände aus relevanten russischen Archiven ausgewertet.2 Aus dem verwendeten Quellenkorpus lässt sich der Schwerpunkt von Mücke bereits erkennen: Es stehen bei ihm nicht primär die Empfänger und die alltagsgeschichtlichen Auswirkungen der eingeführten Altersrente im Fokus, sondern die Entwicklungen, die zu den Gesetzen von 1956 und 1964 führten, sowie die daraus resultierenden administrativen Folgewirkungen.

Untersuchungsgegenstand sind somit die verschiedenen Gesetze selbst, deren Planung und Inhalte ebenso wie die eigentliche Realisierung sowie das Problem, dass zwischen propagierten Ansprüchen und tatsächlichen Bezügen häufig eine große Lücke klaffte. Gleichzeitig lasse sich am eingeführten System der Altersrentenversorgung zeigen, dass im „Umgang von Regimevertretern und Adressaten der Rentenreformen […] ein unverkennbares Element reeller Wechselseitigkeit, eines Gebens und Nehmens, das zuvor nur in der Regimepropaganda gegenwärtig war“ (S. 17), deutlich werde.

Gegliedert hat Mücke seine Untersuchung in sieben – hinsichtlich ihres Umfanges äußerst heterogene – Kapitel, wobei er nach einer kurzen Einleitung in den ersten beiden Kapiteln der allgemeinen demographischen Entwicklung (S. 34–51) und dem „System der allgemeinen Altersrenten“ (S. 52–252) seit den Entwicklungen im späten russländischen Kaiserreich bis zu dem „Gesetz über die Renten und Beihilfen für Kolchosmitglieder“ (S. 179) nachgeht. Dieses zweite Kapitel bildet gleichzeitig den Schwerpunkt seiner Untersuchung, da er auf 200 Seiten die Entstehung sowohl des „Gesetzes über die staatlichen Renten“ als auch des „Gesetzes über die Renten und Beihilfen für Kolchosmitglieder“ nachzeichnet. Die beiden Unterkapitel sind fast spiegelbildlich aufgebaut und thematisieren die Entstehung, den Ablauf von der Antragsstellung bis zum Bezug der staatlichen Leistung, die auftretenden Probleme sowie die Überarbeitungen des Gesetzes bis zum Jahr 1972, da „[s]pätere Korrekturen […] keine vergleichbare Bedeutung mehr für die Formung der Altersrentenversorgung besitzen“ (S. 19) würden.

Im dritten und vierten Kapitel über „Die Reichweite und Qualität der Altersrenten“ (S. 253–283) sowie über die „Sowjetischen[n] Bürger ohne Leistungsanspruch“ (S. 284–315) kann Mücke der quantitativen Veränderung der Leistungsempfänger nachgehen, wobei er nicht mit absoluten Zahlen operiert, sondern diese unter anderem nach Geschlecht, dem Wohnsitz oder auch nach einzelnen Sowjetrepubliken ausdifferenziert. Gleichzeitig finden sich zahlreiche Angaben über die durchschnittliche Höhe der Bezüge, die etwa für gewöhnliche Staatsaltersrentner zwischen 1957 und 1972 von 45,06 Rubel auf 58,61 Rubel anstiegen (S. 268), oder ein Vergleich zwischen den einzelnen Sowjetrepubliken. So erhielt der Altersrentenempfänger in der Litauischen Sowjetrepublik im Jahr 1956 durchschnittlich mindestens 38,52 Rubel, hingegen in der Aserbaidschanischen Sowjetrepublik 51,39 Rubel. Im Jahr 1972 stiegen die Zahlungen auf durchschnittlich mindestens 48,86 Rubel in der Weißrussischen Sowjetrepublik bis maximal 58,99 Rubel in der Georgischen Sowjetrepublik. In der UdSSR insgesamt lag der Durchschnitt 1957 bei 46,36 Rubel und stieg auf 57,08 Rubel im Jahr 1972 (alle Angaben aus Tabelle 3i, S. 272). Eine der vielen Diskrepanzen zwischen staatlicher Propaganda und den individuellen Erfahrungen lässt sich auch daran zeigen, dass nicht alle Bevölkerungsgruppen in den Genuss einer staatlichen Altersrentenversorgung kamen. Für das Jahr 1972 arbeitet Mücke heraus, dass circa acht Millionen Sowjetbürger keine direkte Renten- und/oder Beihilfezahlung erhielten, wobei zu beachten ist, dass diese nicht „pauschal mit jenen Sowjetbürgern gleichzusetzen [seien; E.W.], die sich in einem Zustand bitterer Altersarmut befanden“ (S. 298).

„Die Auswirkungen der Rentenpolitik auf die Sozialstruktur der UdSSR“ bilden sein fünftes Kapitel. Das Konzept der „entitlement community“ von Mark Edele3, der dieses für die sowjetischen Kriegsveteranen entwickelt hat, wendet Mücke auf die sowjetischen Altersrentner an, wobei er darüber hinausgehend ein weiterführendes Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb dieser Gruppe kritisch hinterfragt.

Im sechsten Kapitel wird ausgehend von der wohl berechtigten Annahme, dass es sich beim Beispiel Altersrentenversorgung in der UdSSR nicht um einen „social contract“ (Sozialvertrag) sondern um ein „Reziprozitätsarrangement“ (S. 369) gehandelt habe, die wechselseitige Beziehung von Renten-gewährendem-Staat und Renten-annehmender-Bevölkerung untersucht. Die Beantwortung der Frage, „ob die Altersrenten als eine Darbringung zu verstehen waren, die eine Gegenleistung erforderlich machte, oder ob es sich bei ihnen selbst bereits um die als Reaktion auf eine Vorleistung zu verstehende Gegengabe handelte“ (S. 32), hing vom jeweiligen Akteur ab, und Mücke führt anhand von verschiedenen Briefen den Nachweis, dass die Anspruchsnehmer „nicht nur an die väterliche Sorge von Partei und Regierung appellierten, sondern ebenfalls auf die eigenen Vorleistungen verwiesen, die ein staatliches Handeln zu einem moralischen Imperativ machen würde“ (S. 398).

Einen weiteren Schwerpunkt seiner Untersuchung hat Lukas Mücke in seinem siebten Kapitel auf die mit dem „Gesetz über die staatlichen Renten“ von 1956 einhergehenden „sowjety pensionerow“ (Rentnerräte) gelegt. Zwischen 1956 und 1964 entstanden alleine in der Russischen Sowjetrepublik weit über 10.000 solcher Räte, die meist einzelnen Betrieben zugeordnet waren. Weiterhin beschreibt er deren Organisation sowie die ständige Ausweitung ihrer Tätigkeitsbereiche, was zur Kritik auf lokaler Ebene bis hin zur Parteiführung führte, die in einer „Kampagne gegen die Rentnerräte“ (S. 447–457) gipfelte.

In seinem Schlusskapitel fasst Mücke die Ergebnisse seiner Untersuchung komprimiert zusammen und diskutiert auf dieser Grundlage die Frage, ob man die Sowjetunion der 1950er- bis 1970er-Jahre als Wohlfahrtsstaat bezeichnen könne. Komplettiert wird die 500-Seiten-starke Arbeit durch ein Personen- und Namensregister sowie ein umfangreiches Literaturverzeichnis. Auf eine Übersicht über die 40 Tabellen wurde unverständlicherweise verzichtet.

Aufgrund des engen Themas wird diese Arbeit bedauerlicherweise wohl keine allzu große Leserschaft erreichen können, da sie sich vorrangig an Spezialisten der sowjetischen Sozialpolitik wendet sowie darüber hinaus für Rechtshistoriker/innen von Interesse sein wird. Vor diesem Hintergrund ist umso mehr zu würdigen, dass Mücke dieses Thema zum Mittelpunkt seiner eindrucksvollen Qualifikationsschrift gewählt hat. Zusammengefasst bleibt festzuhalten, dass die besprochene Dissertation, die in der Reihe „Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europas“ aufgenommen worden ist, für viele Jahre eine unverzichtbare Grundlage für die weitere Beschäftigung mit diesem Aspekt der sowjetischen Sozialpolitik sein wird.

Anmerkungen:
1 Vgl. hierzu exemplarisch: Alastair McAuley, Economic Welfare in the Soviet Union. Poverty, Livings Standards, and Inequality, Madison 1979; Galina M. Ivanova, Na poroge "gosudarstva vseobščego blagosostojanija" social'naja politika v SSSR (seredina 1950-ch – načalo 1970-ch godov), Moskau 2011; Pavel Stiller, Sozialpolitik in der UdSSR. Eine Analyse der quantitativen und qualitativen Zusammenhänge (Schriftenreihe des Bundesinstitutes für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Bd. 12), Baden-Baden 1983.
2 Dem CAGM (Central'nyj archiv goroda Moskvy), dem CAOPOM (Central'nyj archiv obšcestvenno-politiceskojistorii Moskvy), dem GARF (Gosudarstvennyj archiv Rossijskoj Federacii), dem RGAĖ (Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Ėkonomiki), dem RGANI (Rossijskij gosudarstvennyj archiv novejšej istorii) und dem RGASPI (Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Social'no-Političeskoj Istorii).
3 Mark Edele, Soviet veterans of the Second World War. A popular movement in an authoritarian society, 1941–1991, Oxford 2008, S. 185–214.

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