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Titel
Ausnahmezustände. Entgrenzungen und Regulierungen in Europa während des Kalten Krieges


Herausgeber
Rauh, Cornelia; Schumann, Dirk
Reihe
Veröffentlichungen des Zeitgeschichtlichen Arbeitskreises Niedersachsen 28
Erschienen
Göttingen 2015: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
256 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Diebel, Jena

Bestätigt eine Ausnahme die Regel? Führt die Ausnahme gar zu einem Wandel bestehender Ordnungen? Besteht nach einem die bisherigen Norm- und Wertvorstellungen erschütternden Ereignis die Chance auf eine Rückkehr zur „Normalität“? Die 1970er- und 1980er-Jahre waren geprägt durch Phänomene, die in den bisherigen politisch-gesellschaftlichen Denkmustern nur schwerlich Entsprechung und Erklärung fanden. Der Terror der Roten Armee Fraktion (RAF), der Aufstieg des Finanzmarktkapitalismus, die rasante Entwicklung der Informationstechnologien oder die Umweltkatastrophen von bis dahin unbekanntem Ausmaß – all diese Entwicklungen bedurften einer politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Antwort. Immer wieder neue Deutungsansätze und Begriffe wurden in den letzten Jahren zur Diskussion gestellt, um die allseits konstatierten Umbrüche dieser Zeit historisch zu erfassen, sei es die Versicherheitlichung (Eckart Conze / Christopher Daase) oder die Ära „nach dem Boom“ (Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael). Nun werfen Cornelia Rauh und Dirk Schumann als Herausgeber des vorliegenden Sammelbandes einen weiteren Begriff in die Runde zeithistorischer Analysekategorien: den Ausnahmezustand. Zwar ist der Terminus natürlich nicht völlig neu und auch nicht zwingend auf die Epoche zwischen 1945 und 1989/90 beschränkt1, aber die Verwendung und Diskussion für die Ära des Kalten Krieges weckt auf jeden Fall Interesse.

Das Buch geht zurück auf eine vom Zeitgeschichtlichen Arbeitskreis Niedersachsen (ZAKN) im Juni 2012 an der Universität Göttingen veranstaltete Tagung.2 Wenngleich sowohl diese Konferenz als auch der Buchtitel auf den Untersuchungszeitraum des gesamten Kalten Krieges verweisen, so liegt der Schwerpunkt auf den 1970er- und 1980er-Jahren. Dabei wollen die Autorinnen und Autoren über die als zu eng betrachtete, juristisch-staatsrechtliche Definition des Ausnahmezustandes von Carl Schmitt hinausgehen. Denn im Ausnahmezustand zeigt sich nicht allein, wer die exekutive Macht innehat3; vielmehr kann sich der Ausnahmezustand auch auf der Ebene persönlicher Lebens- und Erfahrungswelten finden.4

Ausgangspunkt der hier vorgestellten Überlegung ist das von Giorgio Agamben um die „Biopolitik“ Michel Foucaults erweiterte Konzept des Ausnahmezustands.5 Doch selbst Agamben richtet seinen Blick zumeist nur auf den Staat und dessen Handeln im Ausnahmezustand. Den Herausgebern geht es darum, die im bisherigen Verständnis von Ausnahmezustand implizierte polare Gegenüberstellung vom mächtigen Staat und dem weitgehend hilflosen Subjekt aufzubrechen. Gesellschaftliche Akteure wirken in dieser Hinsicht eben nicht nur – wie bei Agamben – als weitgehend passiv-reaktiv gegenüber staatlichen Machtansprüchen, sondern entwickeln eine eigene Handlungsmacht, die überkommene Vorstellungen von Staatlichkeit und staatlicher Macht herausfordert. Das Ziel ist es, den Blick auf die wechselseitigen Aushandlungs- und Aneignungsprozesse zwischen Staat, Gesellschaft und Subjekt zu richten. Inwiefern nun der Ausnahmezustand einen angemessenen analytischen Rahmen hierfür bereitstellt, ist die zentrale Frage dieses Bandes. So bietet bereits die Einleitung eine mitunter verwirrende Begriffsvielfalt, die die Herausgeber – das sei hier bereits vorweggenommen – am Ende leider nicht systematisch zusammenführen. Auch die zusätzlich eingebrachten kulturwissenschaftlichen, auf Victor Turner zurückgehenden Begriffe der Liminalität und Liminoide6 werden weder explizit mit dem Konzept Ausnahmezustand verknüpft, noch finden sie nennenswerten Eingang in die folgenden Beiträge (eine Ausnahme bildet der Aufsatz von Christian G. de Vito zur italienischen Psychiatrie der 1970er-Jahre).

Der Sammelband ist in drei Teile gegliedert, wobei sich die Autorinnen und Autoren dem Ausnahmezustand anhand verschiedenster historischer Beispiele nähern. Der erste Abschnitt widmet sich sowohl den staatlichen Reaktionen auf (wahrgenommene) Ausnahmezustände als auch der staatlichen Instrumentalisierung derselben. So richtet Petra Terhoeven ihren Fokus auf die terroristischen Kommunikationsstrategien der RAF. Dabei interessiert sie sich weniger für die Frage, ob das „rote Jahrzehnt“ (Gerd Koenen) aus staatsrechtlich-juristischer Perspektive tatsächlich eine Zeit des Ausnahmezustands war. Vielmehr lenkt sie den Blick auf die Wahrnehmung der Terroristen selbst und deren Argumentationsmuster. Eindrucksvoll zeigt Terhoeven, wie der Ausnahmezustand, unabhängig von seiner tatsächlichen Existenz, das Denken und Handeln der jeweiligen Akteure zu prägen vermochte – und aus den unterschiedlichsten Gründen politisch instrumentalisiert wurde. Aber auch hier ist der Ausnahmezustand kein analytisches Instrument, sondern eher Quellenbegriff und selbst Gegenstand der Untersuchung. Einen anderen Weg geht demgegenüber Malte Rolf in seiner Darstellung der Breschnew-Ära. Entgegen der zeitgenössischen Verklärung dieser Epoche als „Zeitalter der Stabilität“ macht Rolf die Renaissance einer sowjetisch geprägten „Mobilisierungsdiktatur“ aus. Herausragende Einzelleistungen sowie ausnehmend gigantische Großprojekte sollten abermals die Grenzen des Machbaren überschreiten. Wesentliche Teile der Gesellschaft waren jedoch immer weniger bereit, diesen Mobilisierungsanstrengungen zu folgen – allzu oft trafen die stets wiederholten staatlichen Appelle zur Überwindung aller Grenzen auf die Sehnsucht nach „Normalität“ und Wohlstand. Da der Ausnahmezustand hierbei kein genuiner Quellenbegriff ist, lässt sich fragen, inwieweit die von Rolf aufgeführten – argumentativ nachvollziehbaren – Entwicklungen tatsächlich dessen bedurften.

Vor einer ähnlichen Problemlage stehen die Beiträge des zweiten thematischen Abschnittes. Sie gehen der Frage nach, wie die von staatlichen Machtansprüchen betroffenen nicht-staatlichen Akteure reagierten. Eva Oberloskamp und Jonathan Voges nähern sich aus je unterschiedlichen Perspektiven der seit den 1960er-Jahren zunehmend Verbreitung findenden elektronischen Datenverarbeitung (EDV). Oberloskamp widmet sich dem Einsatz neuer Informationstechnologie bei bundesdeutschen Polizeibehörden. Entgegen der Annahme, der polizeiliche EDV-Gebrauch sei eine Reaktion auf die terroristische Bedrohung der 1970er-Jahre gewesen, verweist Oberloskamp auf Horst Herold, den späteren Präsidenten des Bundeskriminalamtes (BKA). Er habe sich bereits in den 1960er-Jahren für den Einsatz moderner Informationstechnologie bei polizeilichen Ermittlungsverfahren ausgesprochen. Ähnlich wie im Fall des BKA stellte sich auch bei der für 1981 bzw. 1983 geplanten, erst 1987 durchgeführten Volkszählung (Voges) die Frage, was mit den enormen Datenmengen geschehen sollte. Es taten sich bis dahin unbekannte Problemlagen auf, die politischen und gesellschaftlichen Widerstand hervorriefen. Die Ausweitung staatlicher Kompetenzen traf auf den Protest von BürgerInnen, die den Missbrauch ihrer persönlichen Daten befürchteten. Insbesondere im Fall der Volkszählung wird ein Formenwandel der Politik sichtbar: Neue soziale Bewegungen vermochten Einfluss auf die politische Entscheidungsfindung zu nehmen. Beiden Aufsätzen ist indes gemein, dass sie weder explizit Bezug nehmen auf das Analyseinstrument Ausnahmezustand, noch findet sich der Begriff in den verwendeten Quellen.

Um die aktive Handlungsmacht nicht-staatlicher Akteure und gesellschaftlicher Gruppen geht es im dritten Abschnitt. Dabei richtet sich der Blick auf psychische und physische Grenzerfahrungen, die nicht nur eine Form der Selbstermächtigung darstellen, sondern dem Individuum politische Handlungsmöglichkeiten liefern. Insbesondere die Hungerstreikpraktiken der RAF offenbarten, wie der menschliche Körper als politisches Instrument fungieren konnte (Marcel Streng). So stellte der Hungertod von Holger Meins im Jahr 1974 die bis dahin geübte Praxis staatlicher Zwangsernährung auf den Prüfstand. Die Macht über den eigenen Körper bedeutete ebenso einen Machtgewinn über den als Gegner angesehenen Staat, indem diesem der totale Zugriff auf das inhaftierte Individuum entzogen wurde. Beeindruckend zeichnet Streng die politisch-gesellschaftlichen Effekte der von 1973 bis 1985 erfolgten Hungerstreikpraktiken nach, die von der Revision staatlicher Haftbedingungen bis zur Erschütterung ärztlicher Grundsätze reichten. Zwar nutzt er den Begriff des Ausnahmezustandes als Beschreibung für die Proteste gegen bundesdeutsche Gefängnisstrukturen, doch bleibt die Frage offen, ob sich hieraus ein weiterführendes Konzept gewinnen lässt.

Es ist seit jeher Aufgabe der Historikerin und des Historikers, geschichtliche Phänomene auf ihre Prozesshaftigkeit, auf ihre Akteure, Interessen und Emotionen zu befragen. Je breiter das Konzept Ausnahmezustand gefasst wird, desto unklarer wird dessen analytischer Mehrwert. Erweitert man diesen ursprünglich auf den juristisch-staatsrechtlichen Bereich bezogenen Begriff um emotional-psychologische, kulturelle, soziale und ökonomische Dimensionen, stellt sich an irgendeinem Punkt die Frage, wo der Unterschied zwischen einem Ausnahmezustand und kontinuierlichen Wandlungsprozessen liegt. Ist der Ausnahmezustand (kulturwissenschaftlich erweiterte) Ereignisgeschichte? Dem Band fehlt eine stringente, operationalisierbare Definition des Ausnahmezustandes, was angesichts dessen begrifflicher Heterogenität wenig verwundert. Ist er ein langanhaltender Prozess, eine flüchtige Situation, ein epochales Ereignis – oder können dies jeweils verschiedene Formen von Ausnahmezuständen sein? Einmal fungiert der Ausnahmezustand als Instrument der Beschreibung, einmal dient er der historischen Analyse – und deutlich seltener ist er Quellenbegriff während des untersuchten Zeitraums. In diesem Kontext laufen einige Beiträge Gefahr, ihrem jeweiligen Thema den Ausnahmezustand aufzuzwingen.

Hieran anschließend zeigt sich ein weiteres Problem. Trotz der im Titel explizit genannten europäischen Dimension bildet die Bundesrepublik klar den Untersuchungsschwerpunkt. Abgesehen von der Sowjetunion, der DDR und Italien fanden keine weiteren europäischen Staaten Eingang in den Sammelband. Eine international vergleichende Perspektive auf Ausnahmezustände böte ein vielversprechendes Forschungsfeld, insbesondere wenn es sich wie beim Terrorismus, wirtschaftlichen Krisen oder dem Zusammenbruch des Ostblocks um europa- beziehungsweise weltweite Phänomene handelte.

Fernab dieser Kritik ist zu würdigen, dass sämtliche Beiträge nachvollziehbar argumentieren und eine lohnende Lektüre bieten. Am Ende stellt sich dennoch die Frage, inwieweit der in die historiographische Debatte eingeworfene Begriff des Ausnahmezustandes tatsächlich einen weiterführenden methodisch-analytischen Beitrag leisten kann, um die Geschichte der 1970er- und 1980er-Jahre zu erfassen.

Anmerkungen:
1 Siehe etwa Alf Lüdtke / Michael Wildt (Hrsg.), Staats-Gewalt: Ausnahmezustand und Sicherheitsregimes. Historische Perspektiven, Göttingen 2008.
2 Vgl. den Bericht von Jens Elberfeld, in: H-Soz-Kult, 21.07.2012, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=4319> (13.05.2015).
3 Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, München 1922 (zahlreiche Neuauflagen, zuletzt Berlin 2009).
4 Vgl. Martin H. Geyer, Grenzüberschreitungen: Vom Belagerungszustand zum Ausnahmezustand, in: Niels Werber / Stefan Kaufmann / Lars Koch (Hrsg.), Erster Weltkrieg. Kulturwissenschaftliches Handbuch, Stuttgart 2014, S. 341–384.
5 Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt am Main 2002; ders., Ausnahmezustand (Homo sacer II.1), Frankfurt am Main 2004.
6 Vgl. Peter J. Bräunlein, Zur Aktualität von Victor W. Turner. Einleitung in sein Werk, Wiesbaden 2012. Liminalität bezeichnet einen Grenzzustand, in dem sich Menschen befinden, die sich von der bestehenden sozialen Ordnung lösen. Der Begriff legt den Schwerpunkt dabei auf Rituale als Grenzerfahrungen. So ist die Pubertät ein liminales Phänomen, das durch Rituale (Jugendweihe / Konfirmation / Kommunion) den Übergang in einen neuen Zustand einleitet. Derartige Phänomene sind allerdings ein etablierter Teil gesellschaftlicher Ordnung und bringen keinen Wandel bestehender Wertsysteme hervor. Liminoide Ereignisse (Revolutionen) hingegen sprengen den Rahmen bisheriger sozialer Normen. Diese wiederum können die soziale Ordnung verändern und zu einem völlig neuen Gesellschaftszustand führen.