V. Stürmer: Kindheitskonzepte in Fibeln der SBZ/DDR

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Titel
Kindheitskonzepte in den Fiblen der SBZ/DDR 1945–1990.


Autor(en)
Stürmer, Verena
Erschienen
Bad Heilbrunn 2014: Julius Klinkhardt Verlag
Anzahl Seiten
220 S.
Preis
€ 32,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Karen Werner, Technische Universität Chemnitz

Besonders in totalitär strukturierten Staatssystemen wie der DDR war der Unterricht in der Schule durch ideologische Interessen geprägt, um die Heranwachsenden gemäß den propagierten politischen und weltanschaulichen Richtwerten zu indoktrinieren. Manipulative Bestrebungen in diesem Sinne erfolgten auch im Umgang mit Bildungsstoffen, was sich insbesondere innerhalb von lehrplanspezifischen Gesetzmäßigkeiten sowie in der Gestaltung von Schulbüchern niederschlug. Wie einschlägige Forschungsarbeiten zeigen1, stellt die ideologische Durchdringung von Schulbüchern in der DDR einen wichtigen Teilaspekt in der historischen Schulbuch- und Bildungsforschung dar.

Verena Stürmer untersucht in ihrer 2014 publizierten Dissertation den politischen Einfluss auf Schulbuchinhalte unter einem besonderen, bisher in dieser Form nicht berücksichtigten Aspekt. Sie analysiert die in Erstlesefibeln der SBZ und DDR über Text und Bild sichtbar werdenden Annahmen über Kindheit. Stürmer geht davon aus, dass sich die Kindheitskonzepte über den sich gesellschaftlich und politisch verändernden Analysezeitraum gewandelt haben. Ein wesentliches Ziel der Arbeit ist es daher, die Ergebnisse in den historischen Kontext einzubetten, um Faktoren herauszufiltern, die in einem Zusammenhang mit den identifizierten Kindheitsannahmen stehen könnten.

Auf forschungsthematischer Ebene ordnet Stürmer ihre Untersuchung daher der „sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung“ zu, in der Kindheit als „soziales Konstrukt“ aufgefasst und durch die jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten beeinflusst wird. Folglich ist die Annahme berechtigt, dass die Schulbücher mit einem eigens für die Adressaten didaktisch aufbereiteten „Bildungs- und Erziehungsauftrag“ versehen waren (S. 13).

Zur Einbettung in den ausführlich dargestellten Literatur- und Forschungsstand lokalisiert Stürmer ihre interdisziplinär angelegte und gut lesbare Arbeit im Schnittfeld von historischer Schulforschung und historischer Kindheitsforschung. Von den bereits bestehenden Untersuchungen zur „Erforschung von Kindheit in der DDR“ (S. 18) lässt sich die Arbeit besonders in Bezug auf die Frage- und Zielstellung, die Methodik und die analysierten Quellen abgrenzen.

Stürmer erläutert zuerst einleitend die vorgenommene Periodisierung, die Quellenbasis sowie die methodischen Ansätze der Untersuchung. Vor dem Hintergrund der bildungspolitischen, schulstrukturellen und pädagogischen Entwicklung der Unterstufe sowie analog zur skizzierten Lehrplanentwicklung in SBZ und DDR unterscheidet sie fünf Fibelgenerationen, deren Entstehungsbedingungen sie im diachronen Verlauf beschreibt.

Für die Untersuchung hat sie jeweils die für die ausgewählten Perioden (1945–1949, 1950–1958, 1959–1967, 1968–1989, 1990/91) repräsentativen Fibelexemplare gewählt (S. 40f.).

Eine wesentliche Stärke der Studie ist die Verarbeitung eines umfassenden Korpus an Kontextmaterialien wie Fibelbegleitschriften, bildungsadministrative Materialien, zeitgenössische Publizistik und Archivakten. Damit gelingt es ihr, die kontextuellen Zusammenhänge vorwiegend anhand von gesellschafts- und bildungspolitischen Quellen aufzuzeigen. Auf unterstützende Forschungsliteratur greift sie in willkommener Weise nur gelegentlich zurück.

Stürmer orientiert sich an verschiedenen methodischen Ansätzen. Als wesentlich stellt sie die an Saussures Zeichentheorie angelehnte Text-Bild-Analyse, die thematische und historische Diskursanalyse sowie die qualitative Inhaltsanalyse heraus (S. 61ff.). Mit deren Kombination war es möglich, die Analysen sowohl mit Rücksicht auf quantitative und qualitative Ergebnisse zu Kategorien zu verdichten (Kodierung), Bedeutungsverschiebungen zu analysieren, sie in den historischen Kontext einzubetten und Aussagen zu Kommunikationsaspekten und -formen zu treffen.

Mit der Darstellung der Ergebnisse erfolgt im fünften Kapitel der eigentliche Hauptteil der Untersuchung. In einem ersten Schritt skizziert Stürmer die Fibelproduktion in der DDR. Als wichtigste Zäsur markiert sie auch im weiteren Textverlauf die so genannte ‚bildungspolitische Tendenzwende‘ seit 1949 (S. 31), die einen Bruch mit reformpädagogischen Traditionen darstellte und dazu beitrug, dass das Bild von Kindheit zunehmend von gesellschaftlich-politischen Anschauungen beeinflusst wurde. Danach geht sie periodisierend auf die Entwicklung des Netzwerkes der Produzenten ein und stellt relevante Akteure in ihrem Zusammenwirken dar. Das komplexe Netzwerk veranschaulicht sie anhand eigener Schemata, die die Abhängigkeiten und Beziehungen übersichtlich darstellen (S. 76, 80). Auch wenn die dargelegten Aspekte in der bildungshistorischen Forschung nicht prinzipiell neu sind2, demonstriert Stürmer hier noch einmal an diversen Beispielen aus der Fibelentwicklung, welche Auswirkungen die rigide Zentralisierung und Politisierung auf die Schulbuchproduktion hatte.

Im Anschluss folgt die Beschreibung der Analyseergebnisse, die Stürmer durch Textstellen und treffende Illustrationen anschaulich unterstützt. Sie untersucht in der Folge diachron die ausgewählten Schulbücher jeweils separat auf ausgewählte Codegruppen hin und beginnt mit der Analyse der „sozialräumlichen Bedingungen“ (S. 86). Sie analysiert die Darstellungen des Wohnumfeldes, des sozialen Milieus und der Familien- und Lebensverhältnisse, die sie als stark vereinheitlicht und uniformiert identifiziert. Eine Ausnahme bildet Stürmer zufolge die sozialräumliche Unterscheidung in eine Stadt- und eine Landschulfibel in den 1960er-Jahren. Die Zweiteilung wirkte sich auffallend auf die Kindheitsdarstellungen aus und wird von Stürmer mit der von politischer Seite propagierten Identifikation mit der sozialistischen Umgestaltung des ländlichen Lebensraumes begründet (S. 114). Hier wäre eine detailliertere Erläuterung der angedeuteten gesellschaftspolitischen Ereignisse wünschenswert gewesen.

Innerhalb der untersuchten „kindlichen Aktivitäten und Interaktionspartner“ (ab S. 98) unterscheidet sie das spielende, das lernende und das helfende Kind, das in öffentlichen oder privaten Situationen mit Erwachsenen oder in Kindergruppen agiert. Auch bei der Analyse dieses Codes stellt Stürmer sowohl Kontinuitäten als auch auffallende Diskontinuitäten fest. Besonders unterstreicht sie den Wandel der Vorstellungen vom Kind, das zunächst als eigenaktiv lernendes Subjekt, später aber als passiv zuhörender Lernadressat konzipiert worden ist. Dies bringt sie mit einem „pädagogischen Positionswechsel“ hinsichtlich der dargestellten Lerninhalte der Kinder in Verbindung (S. 187). Während Lernen zunächst auf Themen aus dem kindlichen Alltag bezogen war, wurden später verstärkt staatsideologische Themen einbezogen. Ähnliche Ergebnisse bringt die Analyse der dargestellten helfenden Kinder, die in Fibeln ab 1959 häufiger im außerfamiliären Bereich tätig sind. Eine auffallende Verschiebung stellt das im diachronen Verlauf zunehmend dargestellte Spielen in „öffentlichen Kindergruppen“ (S. 100), z.B. in Pioniergruppen, dar. Stürmer gelingt es, mit ihrem Blick auf den Wandel der Lerninhalte und auf die Kollektivierung und Institutionalisierung kindlicher Aktivitäten insbesondere den Einfluss des sozialistischen Erziehungsauftrages aufzuzeigen, das „Kind als aktives Mitglied der Gesellschaft“ zu begreifen (S. 154).

Die dritte analysierte Codegruppe bilden die „kindlichen Eigenschaften“ (S. 107). Stürmer stellt hier die Darstellung sehr fröhlicher bis sichtbar begeisterter, freundlicher, lerneifriger und hilfsbereiter Kinder als kontinuierlich heraus. Die am häufigsten kodierte Eigenschaft ist die Wissbegier. Wie bereits in der Analyse der Aktivitäten betont Stürmer hier besonders die qualitativen Veränderungen bzgl. der für die Kinder als interessant empfundenen Inhalte, ein Befund, den sie im weiteren Textverlauf dann mehrfach wiederholt.

Die Kindheitsdarstellungen verdeutlichen insgesamt deren „politische Durchdringung“ und die beabsichtigte Verbindung von Bildung und ideologischer Erziehung (S. 132). Diese Beobachtung versucht Stürmer im Folgenden vor dem Hintergrund gesellschaftlicher und bildungspolitischer Ereignisse zu interpretieren. Sie führt ihre Analyseergebnisse aus den oben genannten Codegruppen exemplarisch auf realhistorische Gegebenheiten zurück und nutzt dafür zahlreiche Belege aus veröffentlichten und unveröffentlichten Quellen. Damit ließen sich z.B. die Darstellungen der sozialistisch angepassten Wohn- und Sozialverhältnisse, die in den Fibeln ab 1950 häufiger zum Ausdruck gebrachte „Liebe zur Heimat DDR“ (S. 121) oder auch die verstärkte Thematisierung staatlich organisierter Kindheit begründen.

An zahlreichen Beispielen zeigt Stürmer, wie sich die Fibelgestaltung und damit zugleich auch die darin dargestellten Vorstellungen von Kindheit im gewählten Untersuchungszeitraum veränderten. Während die ersten Fibeln von antifaschistisch-demokratischen Zielen und durch den Rückgriff auf reformpädagogische Materialien aus der Weimarer Republik beeinflusst waren, nahmen im Verlauf der DDR gesellschaftspolitisch motivierte Themen im Dienst „systemstabilisierende[r] Erziehungsansprüche“ (S. 130) immer mehr zu. In den Fibeln von 1990 ließen sich erwartungsgemäß kaum noch politisch beeinflusste Texte und Illustrationen finden.

In ihrer Zusammenfassung stellt Stürmer fest, dass trotz der dargelegten Übereinstimmungen mit offiziellen Erziehungszielen die Vorstellung einer privaten, „unbeschwert-fröhliche[n]“ Kindheit (S. 98) über den gesamten Analysezeitraum in den Fibeln hinweg bestehen blieb. Die von Stürmer hier hervorgehobene Kindorientierung in der Gestaltung und Konzeption ist mit dem Bezug zu den Adressaten der Erstlesebücher zu erklären. Deshalb wurde die Fibel für politische Instrumentalisierung insgesamt auch weniger genutzt als z.B. Deutschlesebücher höherer Jahrgänge.

Stürmer vervollständigt mit ihrer Arbeit die bisher geleisteten Forschungen zu „Kindheitskonzepten in der Unterstufenpädagogik der DDR“ (S. 25). Sie hat den relevanten Analysezeitraum von 1945 bis 1990 auf ihre Fragestellung hin schlüssig aufgearbeitet und ihre Ergebnisse vor dem Hintergrund umfangreicher Quellen interpretiert. Das diachron und systematisch organisierte Literaturverzeichnis ermöglicht einen gezielten Zugriff auf die verschiedenartigen Quellen. Deren hohe Zahl garantiert, dass die Ergebnisse als repräsentativ angesehen werden können. Das macht die Untersuchung zu einem wichtigen Arbeitsmittel nicht nur für die historische Bildungsforschung.

Anmerkungen:
1 Vgl. z.B. ausgewählte Beiträge dazu in Gabriele Czech (Hrsg.), „Geteilter“ deutscher Himmel? Zum Literaturunterricht in Deutschland in Ost und West von 1945 bis zur Gegenwart, Frankfurt am Main 2007 (Beiträge zur Geschichte des Deutschunterrichtes 59); Kurt Abels (Hrsg.), Deutschunterricht in der DDR. 1945–1989. Beiträge zu einem Symposion in der Pädagogischen Hochschule Freiburg, Frankfurt am Main 1992 (Beiträge zur Geschichte des Deutschunterrichtes 8); Arsen Djurović / Eva Matthes (Hrsg.), Freund- und Feindbilder in Schulbüchern, Bad Heilbrunn 2010; Lars Knopke, Schulbücher als Herrschaftssicherungsinstrumente der SED, Wiesbaden 2011; u.v.a.
2 Zu den einflussreichen Autoritäten im Bildungs- und Schulwesen der DDR sowie zur Entwicklung und gesellschaftspolitischen Bedeutung von (grundschulischen) Lehrplänen und Schulbüchern in dieser Zeit z.B. Gert Geißler, Geschichte des Schulwesens in der Sowjetischen Besatzungszone und in der Deutschen Demokratischen Republik 1945 bis 1962, Frankfurt am Main 2000; Gert Geißler / Ulrich Wiegmann, Schule und Erziehung in der DDR. Studien und Dokumente, Berlin 1995; Rudolf W. Keck / Christian Ritzi, Geschichte und Gegenwart des Lehrplanes, Hohengehren 2000; ausgewählte Beiträge im Band von Wolfgang Einsiedler u.a. (Hrsg.), Grundschule im historischen Prozess. Zur Entwicklung von Bildungsprogramm, Institution und Disziplin in Deutschland, Bad Heilbrunn 2012; u.v.a.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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