J. Guggenheimer u.a. (Hrsg.): »When we were gender…«

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Titel
»When we were gender…« – Geschlechter erinnern und vergessen. Analysen von Geschlecht und Gedächtnis in den Gender Studies, Queer-Theorien und feministischen Politiken


Herausgeber
Guggenheimer, Jacob; Isop, Utta; Leibetseder, Doris; Mertlitsch, Kirstin
Anzahl Seiten
357 S.
Preis
€ 33,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Silke Wenk, Institut für Kunst und Visuelle Kultur, Universität Oldenburg Email:

Über den Zusammenhang von „Gedächtnis und Geschlecht“ nachzudenken, gehört zweifellos nicht zu den Lieblingsbeschäftigungen deutschsprachiger Gedächtnistheoretiker/innen. Der vorliegende Band mit seinen 24 Einzelstudien auf unterschiedlichem empirischen und theoretischen Niveau zeigt jedoch, wie lohnend es sein kann, gerade im Kontext poststrukturalistischer Theorie und neuer sozialer Bewegungen. Fragen nach dem „Verhältnis von Geschlecht, Erinnerung und Geschichte für die machtbesetzten Themenfelder der ‚Identität‘-und ‚Subjektwerdung‘“ (S. 9f.) ziehen weitere produktive Fragen nach sich, so auch nach Vorstellungen von geschichtlicher Zeit/Zeitlichkeit, von Kontinuität und Diskontinuität.

Im ersten Abschnitt werden theoretische Konzepte – zwischen Diskurs, Performativität und Materialisierung – diskutiert. Um Geschichtsschreibung geht es Lisa Malich, die postmoderne Kritik an tradierten Annahmen einer kontinuierlich-linearen Zeitlichkeit reflektiert. Fraglich sei, ob der auch in der Diskurstheorie Foucaults zu findende Fokus auf den Bruch tatsächlich homogenisierende Zeitvorstellungen verhindert. Ausgehend vom historischen Beispiel der „Imaginationslehre“, plädiert Malich für einen diskursanalytischen Zugang zu Kontinuitäten in der Geschlechtergeschichte und für das Modell der „gefalteten Zeit“ von Michel Serres, das erlaube, Kontinuität gleichermaßen wie Brüche und Ungleichzeitigkeiten zu erfassen und „den Blick für bestimmte machterfüllte Konstellationen, soziale Positionierungen und diskursive Regeln zu schärfen“ (S. 27). In den folgenden Beiträgen stehen Konzepte des „Gedächtnisses“ zur Diskussion. Über Normalisierungen, die sich „in Leibern materialisieren“ und die Verankerung der Geschlechterordnung im „Körpergedächtnis“ denkt Bettina Wuttig nach. Mit Nietzsches Konzept der „Mnemotechnik“, das sie überzeugend als Beitrag zu einer „Subjektivierungstheorie“ liest, schlägt sie vor, Judith Butlers Überlegungen zur performativen Herstellung von Gender weiter zu denken: „Gedächtnis“ als in machtförmigen sozialen Prozessen und über Zufügung von Schmerz Gemachtes, das zugleich Voraussetzung für Subjekthaftigkeit ist, als „Unterwerfung und Werdung“ (S. 49). Dies lasse sich als „potenziell-traumatisch“ analysieren. „Trauma“ wird dabei in kulturwissenschaftlicher Perspektive (mit Judith Butler und Ann Cvetkovich) zum Synonym für die Inkorporation gesellschaftlich generierter Asymmetrien, als „Gefühlarchiv der Diskriminierungen“ gefasst (S. 51). Die Geschlechterordnung müsse nicht nur immer wieder zitiert, sie müsse „im Körpergedächtnis verankert“ werden (S. 53). Gedächtnis sei „mithin träger als der Diskurs“ (S. 58). Die Zitatförmigkeit von Identität unterstreicht Anna Babka, die sich mit dem Genre der Autobiografie auseinandersetzt. Sie bezieht sich ebenfalls auf Nietzsches Mnemotechnik und betont mit Butler, Derrida und de Man, dass Identität sprachlich hervorgebracht werde: „Der Zusammenhang zwischen Performativität und Autobiografie ergibt sich dadurch, dass das autobiografische Ich seiner (Geschlechts)-Identität nicht vorgängig und nur über reiterative Diskurse überhaupt ins ‚Sein‘ kommt.“ (S. 73) Den Nutzen einer „rhetorischen Lektürepraxis“ sieht sie in einer „Möglichkeit der Retheoretisierung und zugleich dekonstruktiv orientierten Politisierung von Differenztheorien“ (S. 73). Inwiefern es eine „eigene Rede, die bei sich zu Hause ist“ (S. 79), überhaupt geben kann, fragt Lisa Appiano: Ausgehend von Ovids Erzählung von Narziss und Echo, der „Stimme einer Anderen“, markiert sie ebenfalls die Vorgängigkeit von Sprache bzw. Sprachhandlungen. Mit Rekurs auf Butler und über die Sprechakttheorie auf Derrida legt sie dar, wie einerseits die performative Sprechhandlung „ihre Kraft aus der Vergangenheit“, dem „zitativen Rückgriff auf vorgängige Sprachhandlungen“ zieht, andererseits aber das Vergangene in der Gegenwart im performativen Sprechakt nachträglich erzeugt und damit aber auch für eine Veränderung offen wird (S. 83f.). Um die Spannung von Vergangenheit und Gegenwart und die Erfahrung des Nicht-Identisch-Seins geht es in Jacob Guggenheimers Essay zu „Queeren Interventionen“. Er geht aus von Überlegungen zur melancholischen Identifizierung, wie sie Butler – Sigmund Freud weiterdenkend – in einem fundamentalen Homosexualitätsverbot als Erinnerungsverbot begründet sieht, das Geschlechtsidentität erst bilde und mit einer Leugnung von Verlusterfahrungen einhergehe. Butlers Denkrichtung über Trauer als einer Form der Akzeptanz des Veränderungsprozesses und der Unmöglichkeit mit sich selbst identisch zu bleiben folgend, reflektiert Guggenheimer über den „Anfang“, wie er von Wilhelm Berger und nicht zuletzt Hannah Arendt theoretisiert wurde: „Anfangen“ als Heraustreten aus einer kontinuierlichen Zeitordnung, als Unterbrechung einer Kausalitätskette. Das führt schließlich auch zu Walter Benjamins Verständnis von „Jetztzeit“ als einer Gegenwart, die nicht homogene oder leere Zeit ist, sondern eine, in der – in Praktiken der Erinnerung – das Vergangene „aufblitzt“ und das historische Kontinuum aufgesprengt wird.

Die im zweiten Abschnitt zusammengetragenen Einzelstudien gelten verschiedenen marginalisierten Gruppen. Es geht um Anfänge der Trans*Bewegung in Österreich (Persson Perry Baumgartinger) und die Trägheit einer schwul-lesbischen Gleichberechtigung in Österreich (Martin Gössl), mithin um die anhaltende Virulenz der Behauptung einer „Abnormität“, vor der „die Jugend“ geschützt werden müsse (S. 148). Präsentiert werden Ergebnisse einer Untersuchung medialer Repräsentationen von „Gastarbeiterinnen“ in Kärnten (Elisabeth Koch, Viktoria Ratković, Manuela Saringer, Rosemarie Schöffmann), die „Grundlage heutiger Diskurse zum Thema Migration und Migrantinnen“ bildeten, insofern „ihr angeblicher Status als Opfer fokussiert“ wurde (S. 121f). Nach den Chancen von Politikerinnen in einer Übergangssituation mit einem gewissen „Machtvakuum“ (S. 135) fragt Cornelia Hippmann am Beispiel ostdeutscher Frauen in der Wendezeit.

Erzählungen der je eigenen Geschichte, schreibt Kirstin Mertlitsch, ermöglichen Erinnerung, die für Konstituierung von Subjekten unerlässlich scheint und die das Potenzial haben, „mit der Logik der großen Erzählungen zu brechen“ (S. 106). Deren Logik bleibt im vorliegenden Text jedoch unbestimmt ebenso wie die Kategorie des „kulturellen Gedächtnisses“, in das „gegen-hegemoniale Erzählungen“ eingeschrieben werden sollen. Nicht nur wird damit implizit dem „kulturellen Gedächtnis“ eine gewisse Homogenität unterstellt, zugleich bleiben Prozesse des Vergessens und Verdrängens unbedacht.

Dass Fragen des Feminismus „unabgeschlossen“ sind, konstatiert Christina Thürmer-Rohr zu Beginn des dritten Abschnittes. Zwischen den Generationen sei die den Feminismus seit den 1970er-Jahren leitende Frage nach dem „Zusammenhang von patriarchaler Logik und Gewalt“ verloren gegangen. Mit der Einsicht in das Phantasma einer Einheit unter Frauen als „Opfer“ von Gewalt und der „Absage an die klare Abgrenzbarkeit zweier Geschlechtergroßgruppen“ (S. 182) scheine sich auch „die gedankliche und emotionale Rückbindung an das 20. Gewaltjahrhundert“ zu verlieren (S. 183). Wenn „der ‚Feminismus heute‘ das Spektrum früherer Fragen beschweigt, statt es mit neuen Fragen zu verbinden“, werde Gewalt zu einem Grenzphänomen und in einem „Außerhalb moderner sozialer Ordnung“ angesiedelt (S. 183). Sei zwar die „Totalität und Unausweichlichkeit“ von „Patriarchat“ zu bestreiten, so jedoch nicht der Sinn und die Logik dieses Begriffs. Sie schlägt vor, mit Hannah Arendt weiterzudenken und erinnert an deren Unterscheidung zwischen „Gewalt“ und „Macht“ und ihre grundlegenden Überlegungen zum Politischen und das was dieses ausmache, nämlich „die Bereitschaft, die Welt mit Anderen zu teilen“ (S. 186). „Wider ein Vergessen der Anderen“ und für „Erinnerung als Ort der (feministischen) Differenz“ plädiert auch Birge Krondorfer. Ihr Ausgangspunkt ist, dass es kaum Erinnerung an die „Notwendigkeit von Wut und Widerstand gegen das Regiertwerden als kontinuierliche Praxis der Kritik an Unterwerfung und Fügsamkeit“ gebe (S. 193). Politisches Handeln sei aber auf „das Andenken jener Quellen verwiesen, aus denen sie [die Freiheit] sich speist“ (S. 200). Geschichtliche Befreiungserfahrungen seien in die Gegenwart zu überführen, um den „Anspruch des Vergangenen“ (S. 204) nicht zu vergessen. Dass eine „weiblich-feministische Erinnerungskultur“ der Selbstreflexion bedarf – „als Form der Unterbrechung ihres eigenen ‚Mythos‘“, der Gemeinschaft trotz der nicht mehr weg zu denkenden Differenzen fundieren kann, betont Kirsten Mertlitsch. Inwiefern von einem „feministischen Wir“ trotz aller Dekonstruktion die Rede sein kann, diskutiert sie am Beispiel des 100-jährigen Internationalen Frauentags 2010 in Wien: Ist es mehr oder anderes als ein „Glaube an ein Gemeinsames“ oder (mit Slavoj Žižek formuliert) ein „feministisches Ding“ (S. 218f.), für das dort 20.000 Frauen (und Männer) zusammen kamen? Oder ist dieser „Erinnerungsakt“ selbst eine Chance, trotz oder wegen deren Unbestimmtheit der „Cosa Nostra“? Gegen ein „identitäres Wir“, das seine Homogenität unbedingt aufrechterhalten will und damit gerade zwangsläufig Ausgrenzung und Mechanismen reproduziere, tritt Gudrun Perko an. In ihrem Beitrag zum Antisemitismus, Antijudaismus und Rassismus, der nicht nur in der Neuen Frauenbewegung virulent gewesen, sondern auch noch in den Queer Studies aktuell sei, plädiert sie für einen „plural-intersektionalen Ansatz“, der gegen Ausgrenzungen wappnen könne. Für eine Verschiebung des Fokus von Fragen der Identität, von Geschlecht und Sexualität hin zu „den materiellen Lebens- und Arbeitsbedingungen von libertären, queeren, alternativen Menschen“ votieren Mate Ćosić, Johannes Dollinger, Utta Isop und Doris Liebetseder. An eine „materialistische Tradition“ anknüpfend werde es wichtig zu analysieren, „wie Institutionen und Arbeitsteilung Geschlecht und Sexualität formen, um die Reproduktion der kapitalistischen Gesellschaft sicher zu stellen“ (S. 256). Sie stellen eine Pilotstudie für ein „gegenkulturelles Archiv“ vor. Dabei gehe es nicht um „Subkultur“ (wie bei J. Halberstam), nicht um das Ephemere, sondern um „jene langlebigen, gegenkulturellen und alternativen Lebenspraktiken“, die versuchen, „Gesellschaft als Ganzes infrage zu stellen“ (S. 253).

Dass die im Obertitel zum vierten Abschnitt formulierte Frage „Wider oder für das Vergessen?“ keine ernsthafte Alternative sein kann, wird in den Beiträgen deutlich, deren Fokus zugleich thematisch höchst unterschiedlich ist. In den ersten ist die Repräsentation von Gewalt gegen Frauen Thema: Cristina Beretta erörtert am Beispiel eines Romans über die Massenvergewaltigungen im Bosnienkrieg, wie eine Form der Erinnerung aussehen kann, die den Opfern der Gewalt ihren Subjektstatus nicht erneut abspricht. Die filmische Darstellung von sexualisierter Gewalt untersucht Gintare Malinauskaite an dem litauisch-deutschen Shoah-Film „Ghetto“ (S. 292f.). Wie hartnäckig Geschlechterstereotypen in der Geschichtsschreibung sind, zeigt auch Gerlinde Schwarz am sowjetischen Stummfilm.

In den beiden letzten Artikeln geht es um Konzepte queerer Zeit/Zeitlichkeit, die es ermöglichen können, das binäre Geschlechtersystem ebenso wie eine, diese stützende heteronormative Zeitlichkeit und Räumlichkeit zu überwinden. Rebecca Carberry breitet die theoretischen Konzepte aus, wie sie vor allem von J. Halberstam entwickelt wurden und verbindet sie mit Foucaults Gedanken über Heterotopie, um letztlich eine „Queertopia“ zu entwerfen. Ein instruktives Beispiel künstlerischer Praxis, den Film „N.O. Body“ stellt Barbara Eder vor: Renate Lorenz und Pauline Baudry hätten in ihrer „Animation von Magnus Hirschfelds Bilderatlas ‚Geschlechtskunde‘“ diesen „mit zeitversetztem Blick“ dem Vergessen entrissen und zugleich „within a little difference“ fortgesetzt und „über die Sprengkraft des Originals hinausgetrieben“ (S. 327). Die Repräsentation queerer Geschichte lässt sich so als ein „Akt des Zurechtrückens“ beschreiben, der bereits bei Hirschfeld „Teil einer Repräsentationsstrategie“ war (S. 333).

Wenn ich benennen sollte, was im Band etwas zu kurz kommt, dann wäre es eben die Frage nach Strategien der Repräsentation bzw. Repräsentationskritik, ohne die Vergegenwärtigung des Vergangenen nicht denkbar sind, erst recht nicht, wenn es um die enge Verbindung von Geschlecht/Geschlechtern und Gedächtnis geht. Diese macht der Band überdeutlich, sowohl theoretisch wie empirisch. Bei aller Vielstimmigkeit und Ungleichzeitigkeiten wird aber auch erkennbar, dass in und zwischen den Bewegungen einiges vergessen wurde, was es lohnt, wieder in Erinnerung zu bringen.

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