A. Golubev u.a.: The Search for a Socialist El Dorado

Cover
Titel
The Search for a Socialist El Dorado. Finnish Immigration to Soviet Karelia from the United States and Canada in the 1930s


Autor(en)
Golubev, Alexey; Takala, Irina
Erschienen
East Lansing, MI 2014: Michigan State University Press
Anzahl Seiten
XVII, 236 S.
Preis
$ 29.95; € 25,26
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anna Derksen, Münster

Die Oktoberrevolution von 1917 markierte nicht nur für die Bevölkerung Russlands den Beginn eines neuen sozialistischen Zeitalters. Die bolschewistische Ideologie lockte zahlreiche Europäer und Amerikaner in die junge Sowjetunion, die sich mit politischem Engagement und technologischer Expertise am Aufbau einer egalitären und autonomen Gesellschaft beteiligen wollten. Eine in der historischen Forschung weitgehend ignorierte Gruppe sind nordamerikanische und kanadische Finnen, die sich in den 1930er-Jahren in großer Zahl in der Sowjetrepublik Karelien nahe der Grenze zu Finnland niederließen. Ihren Lebensläufen widmet sich die von Alexey Golubev und Irina Takala verfasste Monografie „The Search for a Socialist El Dorado. Finnish Immigration to Soviet Karelia from the United States and Canada in the 1930s“. Die Veröffentlichung ist das herausragende Ergebnis der internationalen Forschungsprojekte „Missing in Karelia: Canadian Victims of Stalin’s Purges“ sowie „North American Finns in Soviet Karelia from the 1920s to the 1950s“, die von Historikern aus den USA, Kanada, Finnland und Russland initiiert wurden. Die erst vor kurzem erfolgte Öffnung der russischen Archive, deren Bestände Golubev und Takala akribisch auswerteten, bot durch die nun zugänglichen Dokumente, Fotografien und Selbstzeugnisse auch praktisch die Möglichkeit, ein umfassendes Bild dieses bisher wenig beachteten Kapitels russischer Vergangenheit zu zeichnen.

Die finnische Emigration nach Sowjet-Karelien ist keineswegs nur eine Fußnote der Geschichte. Für die Autoren verdeutlichen die Schicksale der nordamerikanischen Finnen exemplarisch jene großen Umwälzungen, denen sich die Welt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entgegensahen – von den Folgen der Depression, der Oktoberrevolution und dem Aufbau eines sozialistischen Systems bis hin zu den Repressionen und Verfolgungen des Großen Terrors und den Kämpfen des Zweiten Weltkriegs. Die Finnen schufen in Karelien eine einzigartige Kultur, deren Vertreter sich nicht nur als Modernisierer der sowjetischen Wirtschaft sahen, sondern aktiv am Aufbau einer aufgeklärten, sozialistischen Gesellschaft partizipieren wollten. Bis in die Mitte der 1930er-Jahre hinein stellten sie die größte Einwanderergruppe innerhalb der Sowjetunion und spielen deshalb auch für deren Gesamtbetrachtung eine wichtige Rolle. Allerdings darf, wie die Autoren eingangs auch bemerken, Karelien keineswegs als eine „typische“ russische Region verstanden werden. Die Finnen stellten zahlenmäßig nur eine kleine Minderheit, waren jedoch in der politischen Administration, der Wirtschaft und im Bereich der Kultur führend. Warum sie sich dazu entschieden, nach der Emigration in die Vereinigten Staaten beziehungsweise Kanada noch einmal ein neues Leben in einem fremden Land aufzubauen, wie sich die gesellschaftlichen Dimensionen ausgestalteten und welchen Anteil sie an den wirtschaftlichen, nationalen und kulturellen Veränderungen in der sowjetischen Peripherie hatten, sind die Leitfragen des vorliegenden Werkes.

Die Monografie unterteilt sich in neun Kapitel, die chronologisch die Geschichte der nordamerikanischen Finnen in Sowjet-Karelien nachzeichnen. Die ideengeschichtlich orientierte Betrachtung stellt einzelne politische und soziale Gruppen innerhalb der finnischen Gemeinschaft in den Vordergrund. Der Rückgriff auf umfassend ausgewertetes Quellen- und Datenmaterial sowie die beeindruckenden Selbstzeugnisse der Protagonisten vermitteln einen äußerst lebendigen Eindruck der Thematik. Im ersten Teil rekapitulieren Golubev und Takala die Auswanderung von Finnen nach Nordamerika und Kanada im ausgehenden 19. Jahrhundert und beschreiben deren dortige Lebenssituation, die geprägt war von sozialer Ausgrenzung. Sowjet-Karelien, so die Autoren, erschien vor diesem Hintergrund als das greifbare Modell einer besseren Welt. Die Hoffnung auf bessere Arbeitsmöglichkeiten, soziale Akzeptanz und die Möglichkeit, am Aufbau einer neuen Gesellschaft mitzuwirken, identifizieren die Autoren als Hauptgründe der Emigration. Dem gegenüber stellen sie zwei Perspektiven der sowjetischen Einwanderungspolitik: Die offizielle Linie Moskaus sowie die Politik des finnischstämmigen Edvard Gylling in Kareliens Hauptstadt Petrosawodsk. Die soziale Ausdifferenzierung der Einwanderer wie auch ihre ersten Eindrücke von der sozialistischen Realität werden im dritten Kapitel geschildert. Die einfachen, oft spartanischen Verhältnisse, in denen die Zuwanderer lebten, mangelnde Ernährung und Hygiene sowie die Spannungen zu anderen Ethnien sind Gegenstand des darauffolgenden Abschnittes. Die Einflüsse nordamerikanischer Finnen in der regionalen Verwaltung Kareliens, in Literatur, Theater und anderen kulturellen Ausdrucksformen werden ebenso beleuchtet, wie die karelische Sprachenpolitik. Den Repressionen und Verfolgungen des Großen Terrors ist das umfangreichste Kapitel gewidmet, ungeschönt und mithilfe einer Vielzahl erschreckender Statistiken analysieren die Autoren den radikalen Wandel von Stalins anfänglich minderheitsfreundlicher Politik hin zu einer tiefgreifenden fremdenfeindlichen Paranoia, die weite Teile der Bevölkerung unter Generalverdacht stellte und für die finnische Diaspora in Sowjet-Karelien ein Fanal bedeutete. Den Schlusspunkt bilden die Erfahrungen nordamerikanischer Finnen im Zweiten Weltkrieg sowie die Auswanderung beziehungsweise Assimilation während der Nachkriegszeit. Hervorzuheben ist das umfangreiche Literaturverzeichnis, das russische und finnische Titel ins Englische übersetzt und der internationalen Forschung dadurch hilfreiche Anknüpfungspunkte bietet. Mit einem Stichwortregister schließt die Monografie.

In ihrer Analyse scheuen sich die Autoren nicht davor, unbequeme Fragen anzusprechen und die Handlungen der Protagonisten kritisch zu hinterfragen. Am Ende steht ihr bitteres Fazit, der Große Terror habe die einzigartige Kontaktzone zwischen West und Ost, welche die finnischen Einwanderer in Sowjet-Karelien etabliert hatten, nachhaltig zerstört. Die leninistische Idee einer “korenisazija”, der gezielten Förderung nichtrussischer Völker, und auch der Slogan Stalins von einer sozialen Ordnung, die „sozialistisch in ihrem Inhalt, aber national in ihrer Form“ sein solle, wurde gegen Ende der 1930er-Jahre vollständig fallen gelassen. Stattdessen zerstörten die sowjetischen Machthaber “a whole world where Finnish, American, Canadian, Karelian, Russian, and Soviet cultures met to form a new socialist reality, a world that was sacrificed to satisfy the political ambitions of the Soviet bureaucracy.“ (S. 173)

Positiv hervorzuheben ist der starke Fokus auf die Erinnerungskultur, die durch oral-history-Interviews mit Zeitzeugen sowie die Auswertung von Tagebüchern, Briefen oder Zeitschriften durchgehend in der Analyse präsent ist. Sie spiegelt sich auch im Titel wider: „Throughout this book, starting with the title, we regularly used the metaphor of a search to interpret the life trajectories of our protagonists.“ (S. 171) Den Aufbruch nordamerikanischer Finnen in das karelische „El Dorado“ verstehen sie als Suche nach einer besseren Zukunft, die ihnen in ihrer alten Heimat – sowohl in Finnland wie auch in den USA oder Kanada – verwehrt blieb. Dass diese Suche in den meisten Fällen in einer herben Enttäuschung resultierte, schildern die Autoren eindringlich. Ihre größte Errungenschaft ist jedoch die überzeugende Darstellung der hochgradig heterogenen Lebenswege, welche die Einwanderer einschlugen. Sie alle verfolgten ihr ganz persönliches El Dorado, und ebenso unterschiedlich wie die Beweggründe der Immigration waren die Erfahrungen, die sie in Karelien machten. Diese herauszustellen ist Golubev und Takala mit Abstand gelungen: „To represent this diversity of historical experience in interwar Soviet society is perhaps the ultimate aim of our research. Finnish emigration from the United States and Canada to Soviet Karelia is interesting not only in itself but also as that drop of water that reflected the whole world of Soviet social, political, and cultural development in the 1920s and 1930s, with all its grievances and joys, losses and victories, successes and tragedies.” (S. 172)

Abschließend bleibt festzuhalten, dass den Autoren die erstmalige Aufarbeitung der Geschichte finnischer Immigranten in Sowjet-Karelien auf beeindruckende Weise geglückt ist. Durch seine klare Ausdrucksweise, das unterstützende Quellen- und Bildmaterial sowie die umfassende Bibliografie bietet das Werk eine solide Basis für weitere Auseinandersetzungen. Durch die Veröffentlichung in englischer Sprache wird ein internationales Publikum angesprochen und der Breite der Thematik Rechnung getragen, welche sowohl die Herkunft der Protagonisten wie auch die an der Erforschung beteiligten Staaten berücksichtigt. Damit ist sie Teil einer globalen Migrationsgeschichte. Gerade die weiterhin unzureichende Beschäftigung russischer Historiker mit der sowjetischen Vergangenheit macht es jedoch wünschenswert, dass Golubevs und Takalas Werk auch auf Russisch erscheint.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch