Cover
Titel
Beautiful Data. A History of Vision and Reason since 1945


Autor(en)
Halpern, Orit
Reihe
Experimental Futures
Erschienen
Anzahl Seiten
IX, 342 S., 108 Abb.
Preis
$ 27.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Simon Donig, Universität Passau

„Beautiful Data“ ist eine in mehrfacher Hinsicht ausgesprochen lesenswerte Abhandlung über die Veränderung und historische Bedingtheit von Wahrnehmung und Erkenntnis in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Monografie soll die Entwicklungslinien zwischen „unserer gegenwärtigen Besessenheit von Speicherung, Visualisierung und Interaktivität in digitalen Systemen“ sowie dem ihr „vorausgehenden, modernistischen Interesse an Archivierung, Repräsentation und Erinnerung“ nachzeichnen. Im Mittelpunkt steht die Art und Weise, in der zeitgenössische Diskurse über Information epistemologische Zugänge verändert, Zeitvorstellungen geschaffen und Ästhetik hergestellt haben. Es geht also in einer multidisziplinären Perspektive „um jene Verbindungslinien, die Design, Architektur und künstlerische Praxis mit der Kybernetik, den Human- und Sozialwissenschaften verknüpften“ (S. 17 – im Sinne eines flüssigeren deutschen Textes übersetze ich für diese Rezension alle Zitate aus dem Buch).

In vier Kapiteln wendet sich die Wissenschaftshistorikerin Orit Halpern diesem weit gespannten Feld zu. Anders als die Einleitung glauben machen könnte, verweilt die Studie aber überwiegend in den 1940er- und 1950er Jahren – und dies mit guten Gründen, da die Autorin jene Dekaden als eine perzeptionsgeschichtliche Sattelzeit betrachtet (S. 203). Halpern zeigt, wie nach dem Zweiten Weltkrieg in sehr verschiedenen Bereichen die Welt als ‚Umwelt‘ rekonzeptualisiert wurde, der auf epistemologischer Ebene der ‚Beobachter‘ gegenüberstand. Forschern wie Designern erschien die Welt der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als hochkomplexer Zusammenhang von Prozessen, die jedes Telos verloren hätten; eine Welt, die aber zugleich auch weitgehend erforscht und aufgezeichnet sei (S. 73). Sie war eine Welt allgegenwärtiger Daten, derer der Mensch nicht länger mit traditionellen Klassifizierungen Herr werden konnte. Vielmehr konnte sie nur durch die richtige Methodologie in begrenztem Maße versteh- und beherrschbar gemacht werden. Das „Bemühen um eine perfekte und ungetrübte Übertragung von Information als Kontrolle über die Zukunft innerhalb eines selbstreferentiellen und abgeschlossenen Raums“, so Halpern, beeinflusste „alles“ – von der Nachkriegsarchitektur bis hin zur Genomik oder der Politik (S. 47).

Die Auffassungen vom Auge („Visualizing“, Kapitel 2) wie vom Verstand („Rationalizing“, Kapitel 3) wurden nun „algorithmisch“ neu gefasst. Die Rekonzeptualisierung der optischen Wahrnehmung als eines modellierbaren technischen Projekts ist ein zentrales Thema des Buches. Das Auge erschien den Wissenschaftlern der Nachkriegszeit als eine ganz eigene Black Box. In den Vorstellungen der Kybernetiker musste es über einen Dämpfer verfügen, der in einem mehrstufigen Prozess durch Selektion bei der Umwandlung von Reizen in abstraktere Signale half, die dann vom Gehirn gespeichert wurden (S. 62). So selbstverständlich uns heute die Befähigung von technischen Systemen erscheint, optische Reize zu verarbeiten, so radikal war der Bruch mit älteren erkenntnistheoretischen Annahmen in den 1950er-Jahren. Aus einer Welt der statischen Objekte und Abbildungen wurde eine Welt von interaktiven Bildern und Mustererkennung – eine durch die Mittel der Statistik erfassbare Welt (S. 80).

Halpern zeigt zunächst, wie sich die epistemologische Idee einer Welt überbordender Reize („data inudation“) durch die kybernetische Vorstellung von Speicher und Zeit etablierte und wie sie einen Diskurs begründete, der noch immer unser Verständnis von Information und Interface befeuert („Archiving“, Kapitel 1). Anschließend befasst sie sich mit der Dissemination dieser Vorstellungen, mit ihren Auswirkungen vor allem auf die ästhetische Praxis, auf Stadtplanung, die Ingenieurwissenschaften, Wirtschaft und Kunst (Kapitel 2). Sie argumentiert, dass in diesen Bereichen Wahrnehmung zu Interaktivität umformuliert worden sei. Der radikale Umbruch im Verständnis der Aufzeichnung und Darstellung von Information schuf nach Halpern ein „neues epistemologisches Ideal“ der „kommunikativen Objektivität“, das „neue Formen der Beobachtung, Rationalität und des Wirtschaftens basierend auf dem Management und der Analyse von Information“ hervorbrachte (S. 1, S. 28).

Der Stadtplaner Kevin Lynch etwa legte der Raumplanung ein perzeptionsbezogenes Vorgehen zugrunde, das nicht einen vom Architekten autoritativ entworfenen Idealtyp in den Mittelpunkt stellen, sondern durch Auswertung des Bildes einer Stadt in den Köpfen ihrer Bewohner (etwa durch die Aufzeichnung von Mental Maps) wünschenswerte Formen und Charakteristika identifizieren sollte. Dieser kognitive Zugang war, wie Lynch selbst zugab, „subjektiv“. Aber wie in anderen Bereichen auch, war Subjektivität hier nicht länger ein epistemologisches Problem, sie wurde vielmehr Teil der Methode – ein neuer Zugang zu Messverfahren für Stadtplaner und -verwalter (S. 116ff.).

Ähnlich wie die Planer kybernetische Konzepte nutzten, um optische Wahrnehmung und Umwelt neu zu denken, nutzten die Human- und Sozialwissenschaften diese Konzepte, um Techniken des Messens, Einschätzens und Berechnens zu verändern (Kapitel 3). Das Konzept der Rationalität selbst wandelte sich unter diesen neuen Bedingungen. Die algorithmische Logik des Computers war das Gegenteil von Intuition, Genie oder liberaler Handlungsfähigkeit; sie war vielmehr eine „unvernünftige Rationalität“ („nonreasonable rationality“, S. 172f.). Die Reaktion auf diese Sicht war Halpern zufolge vor allem die heute noch spürbare Aufwertung der Visualisierung von Daten, die ein begrenztes Maß an Kontrolle unter den Bedingungen begrenzter Information in einer zunehmend ‚unvernünftigen‘, vom Zufall regierten Welt suggeriert(e).

Der kybernetische Zugang veränderte nicht zuletzt Formen von Gouvernementalität („Governing“, Kapitel 4). So seien in der unmittelbaren Nachkriegszeit sowohl das Sehen als auch Machtverhältnisse durch einen „Diskurs der Kontrolle und Kommunikation“ transformiert worden. Am Beispiel der „American National Exhibition“ im Moskauer Sokol'niki Park 1959, die bekanntlich Ausdruck einer ersten Entspannungsphase zwischen den Supermächten war (Stichwort „Kitchen Debate“), zeigt Halpern, wie Präsentations- und Interaktionsformen von der neuen Konzeption der „technischen und autonomen Form des Sehens“ durchdrungen wurden (S. 212). Die aus sieben synchron mit unterschiedlichen Inhalten bespielten Schirmen bestehende Multimediainstallation „Glimpses of the USA“1 etwa analysiert die Autorin als „völlig neue Art der Präsentation“ (Charles Eames). Reizüberflutung hatte der Architekt und Designer Eames bereits 1953 in einer experimentellen Vorlesung zu visueller Kommunikation an der University of California, Los Angeles, zum pädagogischen Prinzip erhoben (S. 99ff.), wo er argumentierte, dass Sehen eine universale „Sprache“ darstelle, die direkt auf die emotionale Erfahrung einwirke – aus heutiger Sicht also ein ideales Instrument, um ein neues Bild der USA in der fragmentierten Situation des Kalten Krieges zu kommunizieren.

Halpern kann zeigen, wie in der Nachkriegszeit durch innovative Techniken des Data Mining und der Visualisierung ein neues Verständnis von Information entstand. Diese wurde nützlich, wertvoll und „schön“ (S. 5), wie der Titel des Buches suggeriert. Der Zugang von „Beautiful Data“ erscheint dabei insgesamt stark US-zentriert. Dies kann kaum daran liegen, dass die Autorin für andere Räume blind wäre, leitet sie die Monografie doch mit einem Vorkapitel zum Projekt der „smarten Stadt“ Songdo in der südkoreanischen Freihandelszone Incheon ein und endet mit einem Ausblick auf Gartendesign und Selbstverständnis des amerikanischen, sich auf japanische Traditionen stützenden Designers Isamu Noguchi. Auch inhaltlich rezipiert sie Einflüsse von Sigmund Freud über Roland Barthes bis Gilles Deleuze und lässt zudem erkennen, wie belesen sie in postmoderner und postkolonialer Theorie ist.

Dass die Welt außerhalb der Vereinigten Staaten trotzdem häufig konturlos und wie eine statische Ausdehnung der Diskurse in den USA wirkt2, liegt eher daran, dass Halpern bei der Suche nach einem universalen Narrativ des Aufstiegs einer neuen Perzeptionskultur spezifische lokale und nationale Ausprägungen vernachlässigt. So zitiert sie für Songdo das Werbematerial des Partners Cisco Systems und das internationale Werbematerial der Investoren – verfolgt aber nicht die Spezifik der südkoreanischen Diskurse, sondern setzt die Identität nach außen und innen gerichteter Sprechakte implizit voraus. Trotz eines durchaus kritischen Blicks scheint Halpern hier dem Diskurs des universalen Ortes, den die smarte Stadt angeblich darstelle und dessen tatsächliche physische Lokalität untergeordnet sei, ein Stück weit zu folgen. Auch im Fall der Sokol'niki-Ausstellung wird uns die Reaktion der sowjetischen Besucher und der offiziellen Medien vor allem durch die Augen von Offiziellen der United States Information Agency (USIA) vermittelt. Untermauert wird dieser Eindruck noch durch den Gebrauch vereinnahmender Personalpronomen wie „wir“ oder „unsere Wahrnehmung“, der einen universalen Diskurs stiftet, wo ein spezifischer Rezipientenkreis gemeint sein könnte.

Vielleicht ist der US-zentrierte Blick aber weniger ein Echo des imperialen Blicks des Zentrums auf die Peripherie, sondern aus dem Umstand zu erklären, dass im „amerikanischen Jahrhundert“ die global spürbare Transformation der Wahrnehmungspraxis zu einem beachtlichen Teil in den Vereinigten Staaten angestoßen wurde. Damit stellt sich umso mehr die Frage nach Disseminationsformen und -wegen, nach der Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit dieser Transformationsprozesse, nach Rückwirkungen und Umdeutungen. Vor allem aber sollte es ein Anstoß für die Forschung außerhalb der USA sein, die weißen Räume, die „Beautiful Data“ unberührt lässt, zu kartografieren und insbesondere die Lücke zwischen den 1960er-Jahren und unseren Tagen zu schließen.

Ungeachtet dessen ist die Lektüre von „Beautiful Data“ über weite Passagen höchst lohnend, weil Orit Halpern im Einzelnen durchaus Bekanntes in eine interdisziplinäre Perspektive rückt und Verbindungen hinter den bislang kaum in ihren Wechselbeziehungen untersuchten Dimensionen sichtbar macht. Die Neuformulierung der Konzepte von Zeitlichkeit und Wahrheit, die Umformulierung von Aufmerksamkeit und Ablenkung in Interaktivität sowie von Vernunft in Rationalität (S. 17) kann Halpern überzeugend nachweisen – und untermauert damit ihre These der 1950er-Jahre als erkenntnisgeschichtlicher Epochenschwelle.

Anmerkungen:
1 Charles & Ray Eames / John Whitney, Sr. (Regie), Glimpses of the USA (1959), USA, 13 Min. Leider ist derzeit keine rekonstruierte Vollfassung im Netz verfügbar; das Eames Office stellt jedoch einen vierminütigen Ausschnitt bereit: <https://www.youtube.com/watch?v=Ob0aSyDUK4A> (17.08.2015).
2 Eine ganz andere Art des Zugangs demonstriert etwa Eden Medinas Arbeit zur kybernetischen Durchdringung der Reformpolitik Salvador Allendes und zur Rolle von IBM: Eden Medina, Cybernetic Revolutionaries. Technology and Politics in Allende’s Chile, Cambridge 2011.