B. Jezernik: Titos Gulag auf der Insel Goli Otok

Titel
Titos Gulag auf der Insel Goli Otok.


Autor(en)
Jezernik, Božidar
Anzahl Seiten
382 S.
Preis
€ 42,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dario Vidojković, Neuere und Neueste Geschichte, Universität Regensburg

Wenn von der sogenannten „Jugo-Nostalgie“ gesprochen wird, die „weitaus mehr als ein ungestilltes Sehnsuchtsgefühl“ nach dem ehemaligen Jugoslawien darstelle1, so wird dabei ein Aspekt in der Regel vollständig ausgeklammert: Das Umerziehungslager Goli Otok und die Verfolgung und Internierung zehntausender Jugoslawen, besonders von 1949 bis 1953, aber auch noch Jahre danach. Diese Frauen und Männer, meist Kommunisten und Partisanen, viele von ihnen verdiente Kämpfer aus dem Spanischen Bürgerkrieg und dem Zweiten Weltkrieg, wurden nach Titos Bruch mit Stalin 1948 gnadenlos verfolgt und in Lager in ganz Jugoslawien gesteckt. Ihr „Verbrechen“ war, dass sie – wirkliche oder auch nur vermutete – Anhänger der Resolution des Informbüros in Moskau waren, worin Titos Sonderweg verurteilt wurde. Symbol für Verfolgung und Terror in den Lagern war die Insel Goli Otok, zu Deutsch „nackte Insel“: Die Aufarbeitung der Geschichte des Lagers auf dieser Insel begann erst nach Titos Tod, in den 1980er Jahren. So erschienen zahlreiche Erinnerungen ehemaliger Lagerinsassen, allerdings meist nur auf Serbokroatisch oder Slowenisch.

Nun liegt das Buch von Božidar Jezernik in deutscher Übersetzung vor; es bringt den Terror und das Leid der Internierten auf dieser kahlen Adria-Insel dem Leser in beeindruckender Weise näher und verdient auch insoweit Beachtung, als auf Deutsch bislang nur eine einzige Publikation zu der Thematik vorlag.2 Jezernik, Professor für Ethnologie mit dem Schwerpunkt Balkan an der Universität von Ljubljana, hat sich schon früher für italienische und deutsche Konzentrationslager und dortige Strafsysteme interessiert.3 Bei dem vorliegenden Werk handelt es sich aber nicht um eine geschichtswissenschaftliche Analyse im engeren Sinne, sondern eher um eine Dokumentation oder, gemäß den Worten Adam Michniks in seinem Vorwort, um eine „Erzählung […] über diese grausame Insel“(S. 23). Michnik sieht es als „äußerst geeignete Ergänzung“ zur sogenannten „Lagerliteratur“, das er neben Werke von Solschenizyn, Primo Levi oder Viktor Frankl stellt (vgl. S. 22).4

Wie Jezernik in seinem Buch auf erschütternde Weise darstellt, sollten die als „Stalinisten“ angesehenen Lagerhäftlinge „umerzogen“ werden. Dazu war jedes Mittel Recht, wobei sich die Häftlinge zusätzlich gegenseitig den schlimmsten Torturen und Demütigungen aussetzten, um so den Lagerbehörden die „Revidierung ihres Standpunktes“ zu beweisen. Michnik bemerkt dazu, dass das Lager auf Goli Otok auch aus diesem Grund „unter die verleugneten und verbotenen Themen“ im ehemaligen Jugoslawien fiel, dessen Aufarbeitung sich durch den Zerfall des Landes und den darauf folgenden Bürgerkrieg „erneut im Abseits“ wiederfand (S. 23). Der spätere Dissident und Tito-Kritiker Milovan Đilas bezeichnete das Lager einmal sogar als „dunkelste und schändlichste Seite des jugoslawischen Kommunismus“ (ebd.). Denn „das Schlimmste“ für die meisten der dort internierten Lagerhäftlinge, oft überzeugte Kommunisten, war, dass ihnen Leid von „andere[n] Kommunisten“ angetan wurde (S. 15). Verschiedenen amtlichen Quellen zufolge wurden über 50.000 Menschen, die meisten Serben (vgl. S. 30), als Sympathisanten des Informbüros verdächtig, zwischen 1948 und 1963 in Jugoslawien verhaftet (vgl. S. 27). Nach anderen Quellen soll die Zahl der Inhaftierten und Verfolgten sogar weit höher gewesen sein und deren Zahl über 200.000 Personen betragen haben (vgl. S. 28). Ebenso schwierig ist es, genaue Angaben über die auf Goli Otok umgekommenen Häftlinge machen zu können. Auch hierzu kursieren verschiedene Zahlen, die von ein paar Hundert bis zu mehreren Tausend reichen (vgl. S. 324ff.). Ein Grund dafür mag darin zu sehen sein, dass es kaum Zugang zu amtlichen Dokumenten über Goli Otok und die anderen Lager der Zeit gibt. Nicht zuletzt deshalb hat sich Jezernik für sein Buch auf Aussagen überlebender ehemaliger Häftlinge gestützt (vgl. S. 17). Das ist nicht ganz unproblematisch, wie Jezernik selbst gleich zu bedenken gibt, da sich Erinnerungen mit der Zeit verändern oder Ereignisse auch einfach vergessen werden können (vgl. nur S. 17f., 71f.).

Vor jedes der 19 Kapitel hat Jezernik eine zeitgenössische Illustration gestellt, die mit dem nachfolgenden Text im Widerspruch zu stehen scheint. Dabei handelt es sich nämlich um jugoslawische kommunistische Propagandamaterialien. Damit aber zeigt Jezernik gerade das paradoxe Verhältnis der von Titos Kommunisten öffentlich verkündeten Parolen und Leitlinien einerseits zu dem Dahinvegetieren in Lagern wie auf Goli Otok andererseits anschaulich auf. Titos ‚Sozialismus mit menschlichem Antlitz‘ entpuppt sich demgemäß eher als eine böse Fratze (und für die Häftlinge als grausamer, zynischer Scherz).

Im Folgenden soll beispielhaft auf ein paar Kapitel eingegangen werden. So schildert Jezernik im Kapitel „Stalin rauf, Stalin runter“ den zeithistorischen Kontext der Verhaftungen und Internierungen nach 1948 (S. 25ff.). Vorangestellt sind zwei Abbildungen, welche die Huldigung Stalins respektive Titos durch die sozialistische Jugend auf dieselbe Weise zelebrieren (vgl. S. 24). Im nächsten Kapitel, „politische und imaginative Geographie“ (S. 51ff.), rekonstruiert Jezernik, wieso ausgerechnet auf Goli Otok ein Gefangenenlager eingerichtet wurde. Das Kapitel „Maschinerie, um die eigenen Hände in Unschuld zu waschen“ (S. 86ff.) zeigt auf, wie durch den Druck der Lagerbehörden und der Verhältnisse vor Ort die Häftlinge dazu übergingen, andere Leidensgenossen brutal zu prügeln und zu quälen. Auf diese Weise mussten sich die Wächter und die Untersuchungsbeamten vor Ort weitgehend nicht selbst die Hände schmutzig machen (vgl. z. B. S. 99). Im Kapitel „Tierbeschau im Käfig“ (S. 273ff.) schildert Jezernik, wie sich die Häftlinge während sogenannter „politischer Konferenzen“ vor den übrigen Insassen selbst öffentlich demütigen und anklagen mussten, um zu beweisen, dass sie „ihren Standpunkt revidiert haben“ und damit in der Lagerhierarchie aufsteigen und schneller wieder die Freiheit erlangen zu können. Im vorletzten Kapitel „Mit dem Kopf durch die Wand“ (S. 324ff.) erfährt der Leser von den Todesfällen auf Goli Otok, auch von Selbstmorden: Viele der bedauernswerten Opfer rannten dabei mehrmals mit dem Kopf gegen die harten Wände der Unterkünfte, um sich auf diese Weise das Leben zu nehmen. Das abschließende Kapitel „Ein endloses Ende“ (S. 336ff.) legt bereits im Titel nahe, dass die Torturen für die Häftlinge auch noch lange nach ihrer Entlassung von Goli Otok kein wirkliches Ende bedeuteten. Sie blieben weiterhin stigmatisiert und misstrauisch beäugt, Freunde und Familie mieden sie oft.

Neben einem Literatur- und Quellenverzeichnis ist auch ein Bilderverzeichnis angeschlossen sowie ein von Karin Almasy, der Übersetzerin der deutschsprachigen Ausgabe, erstelltes Glossar sozialistischer Begriffe, wichtiger Persönlichkeiten sowie vor allem der „Lagerterminologie“, das zum besseren Verständnis des Buches überaus hilfreich ist.

Auch wenn es manchmal schwer fällt, das Buch zu lesen, was nicht dem Autor, sondern dem bedrückenden Thema geschuldet ist, ist es durchaus lebendig geschrieben. Dennoch fallen immer wieder überflüssige Redundanzen im Text auf, die leicht hätten vermieden werden können, ebenso wie die zahlreichen Rechtschreibfehler. Ernsthaft zu monieren ist allerdings, dass der historische Hintergrund, vor dem die Verfolgungen und Verhaftungen vollzogen wurden, eines besseren Verständnisses wegen breiteren Raum verdient hätte. Bedauerlich ist auch, dass keine offiziellen Dokumente herangezogen werden konnten. Jezernik stützte sich meist nur auf Aussagen slowenischer Häftlinge, ansonsten benutzte er publizierte Quellen.

Am Problematischsten erscheinen Jezerniks durchgängige Vergleiche Goli Otoks mit nationalsozialistischen Konzentrationslagern (vgl. sein Vorwort auf S. 10 oder z.B. S. 55). So gibt es zwar durchaus Ähnlichkeiten mit NS-Konzentrationslagern, gerade aus deren Anfangszeit, was etwa die Einteilung der Häftlinge in privilegierte und andere Gruppen oder die Organisation des Lagerlebens betrifft.5 Naheliegender ist es dagegen, Goli Otok mit sowjetischen Gulags zu vergleichen, wandten die jugoslawischen Kommunisten doch dieselben Methoden wie die Stalinisten selbst an (vgl. S. 38).6 Doch letztlich kann man die jugoslawischen bzw. sowjetischen Gulags nicht mit den KZs der Nationalsozialisten gleichsetzen. So hat schon Alan Bullock darauf hingewiesen, dass es hier „bedeutsame Unterschiede“ gab, auch wenn etwa die Sowjets ebenfalls den Terror bzw. den Massenmord zur Durchsetzung ihrer politischen und gesellschaftlichen Ziele gebrauchten. Sie wollten jedoch „niemals […] rassistisch[e] Ziele“ damit erreichen.7 Auch findet sich „nirgendwo […] eine Entsprechung zum Holocaust“. Nichts, was in der Sowjetunion, oder eben im sozialistischen Jugoslawien, vor sich ging, könne die nationalsozialistische „Einzigartigkeit“ in dieser Hinsicht relativieren.8 Das gilt auch im Falle Goli Otoks. Ungeachtet dessen stellt Jezerniks Buch aber auf jeden Fall ein wertvolles Dokument dar.

Anmerkungen:
1 Josefina Bajer, YU-Nostalgie in Slowenien: Das Phänomen der Nostalgie als Produkt der Transformation, 2. Aufl. Hamburg 2011, S. 3.
2 Josip Zoretić, Goli Otok: Hölle in der Adria, Print on Demand by Virtualbookworm.Com Publishing 2014.
3 Vgl. Jezerniks Publikationsliste auf <http://splet02.izum.si/cobiss/bibliography?code=08426&langbib=eng&li=enmp;li=en> (09.04.2015).
4 Vgl. auch: Hermann Weber / Dietrich Staritz (Hrsg.), Kommunisten verfolgen Kommunisten. Stalinistischer Terror und Säuberungen in den kommunistischen Parteien Europas seit den dreißiger Jahren, Berlin 1993; Jörg Baberowski, Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt, München 2012.
5 Vgl. z.B. Wolfgang Benz / Barbara Distel (Hrsg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Bd. 2: Frühe Lager, Dachau, Emslandlager, München 2005, S. 233ff. Auch Dirk Riedel, Ordnungshüter und Massenmörder im Dienst der „Volksgemeinschaft“: Der KZ-Komandant Hans Loritz, Berlin 2010, S. 178ff., S. 190ff.
6 Vgl. Galina Michajlovna Ivanova, Der Gulag im totalitären System der Sowjetunion, Berlin 2001.
7 Alan Bullock, Hitler und Stalin. Parallele Leben, Berlin 1991, S. 1254.
8 Alle Zitate ebd.

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