R. Härtel (Hrsg.): Akkulturation im Mittelalter

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Titel
Akkulturation im Mittelalter.


Herausgeber
Härtel, Reinhard
Reihe
Vorträge und Forschungen 78
Erschienen
Ostfildern 2014: Jan Thorbecke Verlag
Anzahl Seiten
553 S.
Preis
€ 56,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jenny Oesterle, Nachwuchsforschergruppe "Schutzgewähr in Phasen politischer und religiöser Expansion", Universität Heidelberg

Der vorliegende Band geht auf die im Jahr 2010 vom Grazer Mediävisten Reinhard Härtel veranstaltete Tagung des Konstanzer Arbeitskreises für Mittelalterliche Geschichte auf der Reichenau zurück. Er widmet sich ohne weitere Präzisierung dem umfangreichen Thema „Akkulturation im Mittelalter“. Angesichts der großen Anzahl bereits abgehaltener Konferenzen und existierender Studien zum Themenfeld Akkulturation mit angrenzenden Untersuchungsansätzen wie Transkulturalität, Multikulturalität, Integration und Desintegration, Transfer, Verflechtung etc.1 lässt der Band eine Positionierung innerhalb dieser Forschungslandschaft und Erkenntnisse über die spezifische Relevanz von Akkulturation für die Mediävistik erwarten.

In einer knappen Einführung legt der Herausgeber das Konzept der Tagung dar. Es gehe nicht darum, Akkulturationsprozesse anhand „exemplarischer Fallstudien“ zu untersuchen, sondern „möglichst viele Lebensbereiche im Auge“ zu behalten und „thematisch so umfangreich wie möglich“ vorzugehen (S. 10), womit die zeitlich und räumlich weite Streuung der Beiträge begründet wird. Für die Situierung des Akkulturationsproblems innerhalb der Mediävistik und die Abgrenzung von naheliegenden Themenfeldern wird direkt auf den ersten Tagungsbeitrag von Thomas Ertl verwiesen, der „Das Akkulturationskonzept als Herausforderung für die Mittelalterforschung“ (S.17–42) untersucht. Ertl übernimmt die Aufgabe, die Forschungs- und Begriffsgeschichte aufzufächern und das Konzept der Akkulturation in der Geschichtswissenschaft mit dessen kritischen Herausforderungen darzulegen sowie Grenzen und Chancen des Ansatzes zu umreißen. Danach entwickelte sich der Begriff „Akkulturation“ in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem „Modewort“ innerhalb verschiedener Wissenschaftsdisziplinen wie Ethnologie, Psychologie, Sozialwissenschaften und Geschichte (S. 19). Schwierigkeiten bereite nach wie vor die begriffliche Schärfung und Abgrenzung etwa gegenüber „Assimilation“ oder „Integration“ sowie die Relation zu anderen Konzepten wie etwa der Kulturtransferforschung (S. 23). Kritisch wägt Ertl ab, ob sich das Akkulturationskonzept überhaupt eigne, um „Formen innereuropäischer Beziehungs- und Verflechtungsgeschichte zu analysieren“ (S. 30). Stattdessen plädiert er für eine engere Eingrenzung des Forschungsfokus auf den „Kontakt zwischen kulturell tatsächlich fremden […] Gruppen und Völkern, die in eine neuartige Situation des direkten […] Kulturkontakts eintreten“ (S. 30).

Innerhalb dieser konzeptionellen Rahmengebung verfolgt der Band zeitlich und räumlich weitgespannte Akkulturationsprozesse, unter anderem an den westlichen, östlichen und nördlichen Rändern Europas, etwa im spanischen Mittelalter (Klaus Herbers), im spätmittelalterlichen Osteuropa (Jens Oliver Schmitt) oder in den Kreuzfahrerstaaten (Rainer Christoph Schwinges). Der Beitrag von Dittmar Schorkowitz widmet sich beispielsweise der Slavia Asiatica als „Kontaktzone der interkulturellen Begegnung“ (S. 139). Miklos Takacs untersucht aus archäologischer Perspektive „mögliche Akkulturationsprozess[e]“ (S. 165) im Kontext der ungarischen Staatsgründung, während sich Christian Lübke auf „Akkulturationsphänomene“ sowie „Wandlungs- und Transformantionsprozesse“ (S. 207) im Übergang von der Sclavinia zur Germania Slavica konzentriert. „Begegnung, Akkulturation und Integration“ (S. 235) im Kontext der slawischen Landnahme stehen im Vordergrund des Beitrags von Peter Štih; Uwe Israel analysiert „inwiefern in Bezug auf die zu beobachtende Migration“ deutscher Zuwanderer in Italien „von Akkulturation zu sprechen ist“ (S. 334); Daniela Rando wendet sich der Expansion Venedigs zu, die sie „in einen neuen transkulturellen Rahmen“ (S. 392) einordnet und mithilfe „postkolonialer Perspektiven“ (siehe Titel des Beitrags) neu interpretiert; Alheydis Plassmann beschäftigt sich mit Akkulturationsprozessen im Zuge normannischer Eroberungen; Jan Rüdiger und Thomas Foerster schließlich erforschen „Spielarten der Akkulturation“ (S. 467) im europäischen Norden.

Drei ausführlichere Beispiele mögen im Folgenden den Facettenreichtum des Bandes, aber auch die differierenden Herangehensweisen an das Tagungsthema verdeutlichen. In seinem Beitrag „Homo hispanus? Konfrontation, Transfer und Akkulturation im spanischen Mittelalter“ (S. 43–80) geht Klaus Herbers gezielt von einem „recht weiten Akkulturationsbegriff“ (S. 46) aus; er unterscheidet im Gefolge John Berrys zwischen Integration, Assimilierung, Separation und Marginalisierung als Formen der Akkulturation und wirft die gewichtige Frage nach möglichen „Gegenbegriffen“ auf, etwa dem der „Konfrontation“ (ebd.). Verschiedene Beispiele aus der iberischen Geschichte, etwa das des Mozarabers Sisnando Davídiz, geben eine hohe Komplexität von Akkulturationsvorgängen zu erkennen, die mit einer Vielzahl an Trägern dieser Prozesse, seien es Gruppen oder Einzelpersonen, korrespondiert. Das Beispiel des El Cid aus dem 11. Jahrhundert führt darüber hinaus vor Augen, dass unter Umständen zudem die „Ablehnung anderer kultureller Formen“ eine „spezifische Form von Akkulturation“ mit sich führen kann (S. 77). Die Akkulturationsprozesse der christlichen ‚Mozaraber‘ wie etwa der sogenannten Märtyrer von Cordoba unter muslimischer Herrschaft kennzeichnet eine Doppelbewegung. Unter hohem Akkulturationsdruck grenzten sie sich einerseits von der muslimisch-arabischen Dominanz ab, passten sich jedoch auf dem Feld der Sprache durch Übernahme des Arabischen an. Möglich wurde dadurch die „Formung einer neuen Identität“ (S. 62).

Tendenziell gegen die Verwendung des Akkulturationsbegriffes entscheidet sich Oliver Jens Schmitt in seinem Beitrag über „Südosteuropa im Spätmittelalter: Akkulturierung – Integration – Inkorporation?“ (S. 81–136), obwohl er vereinzelt Akkulturationsvorgänge benennt, etwa die Integration Balkanorthodoxer in das osmanische Militär. Akkulturation setze ein gewisses Maß an „Sicherheit und politischer Stabilität“ (S. 84) voraus. Für die durch Krieg, Migration usw. bedingte Dynamik der Region Südosteuropa im Spätmittelalter eigne sich aber das Begriffspaar „Integration und Desintegration“ besser, da es „Momente der Zerrüttung und Zerstörung“ präziser erfassen ließe (S. 85).

Rainer Christoph Schwinges schließlich untersucht in seinem Beitrag zu „Kreuzfahrerherrschaften des 12. und 13. Jahrhunderts“ (S. 339–370) das „Gesellschaftsmodell“ des Wilhelm von Tyrus (1170/80), dessen Charakteristika „Wir-Bewusstsein, Rechtssicherheit und ein inkludierendes historisches Bewusstsein“ (S. 360) gewesen seien, das sich real jedoch kaum umsetzen ließ. Der Beitrag plädiert dezidiert für den Begriff der Multikulturalität gegenüber dem der Akkulturation. Multikulturalität, so Schwinges, sei die mediävistisch erprobtere, aber zugleich auch offenere „Beschreibungskategorie“ (S. 340) insbesondere für die Analyse der hochmittelalterlichen Kreuzfahrerstaaten.

In ihrer Zusammenfassung der Tagung (S. 499–508) hebt Felicitas Schmieder noch einmal die Weite des Themas, dessen lange Forschungsgeschichte sowie die damit einhergehende Gefahr hervor, dass der Begriffsgebrauch von Akkulturation zur „Unkenntlichkeit“ zerfließen könne (S. 500). Ihre Tagungsbilanz wirft eine Fülle grundlegender und weiterführender Fragenstellungen auf, etwa ob es „mehrere Phasen, Stufen oder Qualitäten“ (S. 503) von Akkulturation gebe, wie sich „Eliteakkulturation“ von der Akkulturation anderer Bevölkerungsschichten unterscheide, ob Assimilation und Akkulturation als „scharfe Gegensätze“ zu verstehen seien (S. 504) oder inwieweit „zeitgenössische Wahrnehmung“ von „Motiven für Akkulturation“ (ebd.) überhaupt in mittelalterlichen Quellen zu fassen sei.

Die im vorliegenden Band gebotene inhaltliche Vielfalt an Akkulturationsuntersuchungen ist eine Stärke des Bandes, aber zugleich seine Schwäche. Zweifelsohne ist hier eine Reihe innovativer Studien versammelt, die im weiteren Sinne Akkulturation, Transkulturalität, Multikulturalität, Verflechtung, Transfer etc. behandeln; die Ansichten der Autoren differieren jedoch zum Teil erheblich voneinander, wenn es um die Erfassung und Beschreibung bestimmter kultureller Differenzverarbeitungsvorgänge in ihren Fallstudien, um den Begriffsgebrauch sowie verallgemeinernde Reflexionen über Akkulturationsprozesse, beteiligte Akteure, Motive, Bedingungen, Rahmengebungen etc. geht. Durch den einführenden Beitrag von Thomas Ertl und die Tagungsbilanz von Felicitas Schmieder gelingt aber dennoch eine brauchbare Konturierung, auch wenn Felicitas Schmieder zuzustimmen ist, dass insgesamt eine „Forschungsstrategie“ (S. 508) nur schwer auszumachen sei.

Anmerkung:
1 Vgl. etwa die zahlreichen Veranstaltungen und Publikationen, die aus dem Schwerpunktprogramm 1173 „Integration und Desintegration der Kulturen im europäischen Mittelalter“ unter der Leitung von Michael Borgolte und Bernd Schneidmüller hervorgegangen sind: <http://www.spp1173.uni-hd.de/publikationen.html> (08.10.2015).

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