T. Bohn u.a. (Hrsg.): De-Stalinization Reconsidered

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Titel
De-Stalinization Reconsidered. Persistence and Change in the Soviet Union


Herausgeber
Bohn, Thomas M.; Einax, Rayk; Abeßer, Michel
Erschienen
Frankfurt am Main 2014: Campus Verlag
Anzahl Seiten
276 S.
Preis
€ 36,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Immo Rebitschek, Graduiertenschule des Imre Kertész Kollegs Jena

Die historische Russlandforschung arbeitet sich in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts vor. Die „Entstalinisierung“ ist damit längst nicht ad acta gelegt, sondern muss selbst als Epoche problematisiert werden. Bisherige Arbeiten haben ausgiebig die Konturen und Defizite, die Rezeption und Träger der Reformagenda Chruschtschows herausgearbeitet.1 Der vorliegende Band stellt sich auf diese Grundlage und lenkt den Blick auf das Verhältnis von Staat und (die Verfasstheit von) Gesellschaft in der Sowjetunion nach Stalin. Auch das ist kein unbeackertes Feld, doch der sowjetische Weg zu einer ‚offenen Gesellschaft‘, in Anlehnung an Karl Popper, dient hier als Inspiration, die „Entstalinisierung“ als Begriff und als Epoche zu hinterfragen. Leider fügen sich nicht alle Aufsätze in diesen Fragehorizont ein, bzw. steuern bemerkenswerte Erkenntnisse bei.

Gleich das erste Kapitel ist dem Epochenproblem gewidmet. Stephen Bittner betont, dass sich diese Periode weder aus der Negation ihres Vorläufers erschließen lasse, noch auf die Teleologie des sowjetischen Kollapses verkürzt werden dürfe. Die Vitalität des „Tauwetters“ und der Enthusiasmus der Chruschtschow-Generation verrate mehr über Russland nach 1991 als über die Sowjetunion 1985. Diese Überlegung lenkt den Blick auf eine wichtige Kontinuität, setzt aber voraus, dass die UdSSR tatsächlich an einer Zustimmungskrise zu Grunde ging.

Laut Stefan Plaggenborg habe sich die Staatsführung nach 1953 zu politischen Reformen durchgerungen, ohne das strukturelle Erbe des Stalinismus im Kern anzutasten. Chruschtschow habe die Bevölkerung für die Utopien zu mobilisieren versucht, um ein defizitäres System zu erneuern. Die sowjetische Wirtschafts- und Staatsorganisation (zum Beispiel die kollektive Landwirtschaft, ein ineffizienter und aufgeblähter Planungsapparat) sei indes eine Hypothek geblieben, die von Chruschtschows Nachfolger eher verwaltet als problematisiert wurde.

Für Stefan Merl ist die entscheidende Kontinuität bei den Mustern politischer Kommunikation zu suchen, in deren Mittelpunkt die Illusion von Partizipation stand. Die Bevölkerung habe sich ideologisch nicht vereinnahmen lassen, trug die Illusion und die Parteirituale aber aus paternalistischer Prägung heraus bis zum Ende mit. Die Spielregeln der Diktatur hätten sich folglich nach 1953 nicht verändert. Gleich, wie wenig Eigeninitiative und Gestaltungswillen man der Bevölkerung zugesteht, vernachlässigt der Beitrag eine Form politischer Kommunikation, die diese Kontinuität in Frage stellt: die der Gewalt.

Robert Hornsby sieht genau darin eine epochale Veränderung. Nach 1953 stellte das Regime bewährte Wege, Methoden und Ziele politischer Verfolgung zur Disposition. Politische Gegner seien zunehmend differenzierter erfasst, Dissens eher als isolierter Tatbestand wahrgenommen worden. Der Polizei- und Justizapparat agierte präziser und stärker im Verborgenen. Die 1950er-Jahre brachten den Polizeistaat der späten Sowjetunion hervor.

Der zweite Teil des Bandes diskutiert die „Entstalinisierung“ als Phase sozialer und wirtschaftlicher Modernisierungsanstrengungen. Thomas Bohn widmet sich der Urbanisierung als Programm und soziale Herausforderung. Minsk diente nach Kriegsende als Versuchsfeld für die neuen Utopien des sozialistischen Städtebaus. Das massive urbane Wachstum erforderte neue Wohn- und Industriekonzepte, die wiederum den sozialen Realitäten nicht standhielten, bzw. diese nicht ernst nahmen. Die „Schließung“ der Städte habe den Zustrom vom Land nicht stoppen können. Lokale Klientelpolitik und wirtschaftliche Abhängigkeiten drängten rurale Zuwanderer in Parallelgesellschaften.

Was in der Urbanisierungsdebatte als Defizit in Erscheinung tritt, rechnet Galina Ivanova zu den zentralen Verdiensten der Chruschtschow-Ära. Soziale Fragen, wie das Lohn- und Pensionsniveau der Arbeiter, seien nach 1953 als politische Themen und nicht als bloße Sanktionswerkzeuge verhandelt worden. Über Stabilität, Wohlstand und Zustimmung habe Chruschtschow versucht, die Autorität des Regimes nach innen und nach außen zu sichern. Der allgemeine Wohlstand blieb aus, doch der teilweise Erfolg der Sozialreformen vermochte die Diktatur langfristig zu stützen.

Der Fall Belarus steht auch bei Rayk Einax im Mittelpunkt. Die Kaderstruktur der Minsker Parteiführung blieb nach Stalins Tod nahezu unverändert und die Kritik am Personenkult wurde im eigenen Apparat vorsichtig verwaltet – ohne auf systemrelevante Fragen einzugehen. Diese belorussische Stabilität begründete letztlich den Aufstieg der BSSR als loyale Sowjetrepublik, da politisches Vertrauen in Investitionen umgemünzt werden konnte. Dieser Zusammenhang ist plausibel, aber nicht selbstverständlich, wie Natalia Kibita anhand der Ukrainischen Sowjetrepublik zeigt. Hier schürte der Dezentralisierungskurs die Hoffnungen auf mehr Eigenständigkeit in der Finanz- und Wirtschaftsplanung. Moskau habe aber nur einzelne Branchen transferiert, ohne die Entscheidungsgewalt über die Güterproduktion und Ressourcenvergabe abzugeben. Zeitgleich wurden Kiews Planungen von den Interessen regionaler Wirtschaftsräte („sovnarchozy“) durchkreuzt. Die Dezentralisierung der Planwirtschaft blieb letztlich ein dysfunktionales Intermezzo.

Das letzte Kapitel behandelt soziale Interessengruppen, ihre Ambitionen und Aktionsräume. Melanie Ilics Beitrag zur „Frauenfrage“ zeigt, dass die Strategien zur Gleichstellung und Entlastung der Bevölkerungsmehrheit von gelenkter Initiative lebten. Durch „Frauenräte“, Lohnpolitik oder das internationale Frauenkomitee betrieb die Parteiführung Imagekosmetik, ohne die kulturellen und strukturellen Hürden für Frauen in der Sowjetunion zu mindern. Allerdings wurde damit eine Debatte belebt, die weit über den Horizont der Parteiführung hinausging.

Wie sich die Spielregeln nach Stalins Tod im Umgang mit Interessengruppen zunehmend veränderten, demonstriert Simon Huxtable für den sowjetischen Printjournalismus. Kritik durch die Presse sollte Unregelmäßigkeiten im System entlarven, ohne die Strukturen selbst oder die Autorität der Partei in Frage zu stellen. Der darin enthaltene Widerspruch sei erst 1956 als politische Herausforderung in Erscheinung getreten, als Journalisten diese Leitlinie immer weiter auf die Probe stellten. Kritik an Funktionären und der Fingerzeig auf soziale Missstände forderten zuweilen Interventionen der Parteiführung heraus. Das „Katz- und Maus-Spiel“ mit der Zensur habe der journalistischen Arbeit die Spitze genommen, zugleich war diese aber nicht mehr lebensgefährlich. Kritische Impulse aus Eigeninitiative blieben möglich.

Michel Abeßer beleuchtet den sowjetischen Jazz explizit nicht vor dem Erkenntnishorizont des Kalten Krieges. Der Fokus liegt auf der Etablierung der Jazzmusik und ihrer Interpretationsmuster als sowjetische Kulturform. Über die eigene Ausbildung, die Inszenierung der Auftritte und Professionalisierungsversuche standen Jazzmusiker als Amateure und Berufsmusiker gleichermaßen untereinander und mit den staatlichen Kulturträgern in Aushandlung und im Wettbewerb um Zuhörerschaften. Jenseits des Subversiven bietet sich hier eine Geschichte kultureller Ausdifferenzierung.

Dietmar Neutatz sieht in seinem Schlusswort im Verzicht auf physischen Terror als Mittel der Politik eine unbestreitbare Errungenschaft Chruschtschows. Die Ambivalenz aus Lockerung und Restriktion in allen Bereichen staatlichen Handelns hatte diesen Schritt zur Voraussetzung, wenn auch viele sozialpolitische Reformentscheidungen in der Nachkriegszeit wurzelten. Anstelle physischen Zwangs habe das Regime neue Formen politischer Gestaltung und Einflussnahme erprobt, um bestehende Strukturen zu erneuern, bzw. zu revitalisieren. Das Kollektiv bot ebenso ein Mittel zur Reglementierung sozialer und kultureller Sphären, wie es als Projektionsfläche für die Bedürfnisse und Ideen ebendieser Sphären herhielt. Die bestehende Terminologie aus „Entstalinisierung“ und „Tauwetter“ könne dieser Ambivalenz nicht völlig gerecht werden.

Ob die Jahre unter Chruschtschow als eigenständige Epoche behandelt werden sollten, lässt dieser Band offen. Das ist kein wirkliches Versäumnis, sondern wird zur Signatur der Jahre nach Stalin gerechnet. Das widersprüchliche Verhältnis von Sicherheit und Zwang ist das entscheidende Merkmal dieser Zeit und die Debatte darüber ist noch längst nicht beendet. Auf dem Weg zu dieser Bilanz geht dieser Band leider über einige wichtige Probleme hinweg. Die Modernisierungsgeschichte etwa dient als Label für die Wirtschafts- und Sozialreformen, ohne an einen Modernebegriff anzuknüpfen. Ebenso fehlt der Verweis auf gesellschaftliche Gruppen, die qua Existenz vom Utopieentwurf ausgeschlossen waren: religiöse Gemeinschaften oder aber ehemalige Gulag-Häftlinge.2 Die Stärke des Sammelbandes liegt darin, mit der Ambivalenz des Kollektivs überhaupt ein Epochenfazit für das Verhältnis von Staat und Gesellschaft liefern zu können, das auch für die Fragen der späten Sowjetunion anschlussfähig scheint.

Anmerkungen:
1 Polly Jones (Hrsg.), The Dilemmas of De-stalinization: Negotiating Cultural and Social Change in the Krushchev Era, London 2006; Melanie Ilic / Jeremy Smith (Hrsg.), Soviet State and Society under Nikita Khrushchev, London 2009.
2 Miriam Dobson, Khrushchev’s Cold Summer. Gulag Returnees, Crime, And the Fate of Reform after Stalin, Ithaca / London 2009.

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