J. Dinkel: Die Bewegung Bündnisfreier Staaten

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Titel
Die Bewegung Bündnisfreier Staaten. Genese, Organisation und Politik 1927–1992


Autor(en)
Dinkel, Jürgen
Reihe
Studien zur Internationalen Geschichte 37
Erschienen
Anzahl Seiten
X, 364 S., 1 Abb.
Preis
€ 54,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Corinna R. Unger, Jacobs University Bremen

Historikerinnen und Historiker, die sich mit dem Nord-Süd-Konflikt, dem Kalten Krieg und der Dekolonisation beschäftigen, haben wiederholt auf den Mangel an Studien über die so genannte Bewegung Bündnisfreier Staaten hingewiesen. Jürgen Dinkel trägt mit seiner detaillierten, in Gießen entstandenen Dissertation nun dazu bei, diese Leerstelle zu schließen. Er untersucht die Bewegung von ihren Wurzeln in den 1920er-Jahren über ihre Hochphase in den 1970er-Jahren bis hin zu ihrem Bedeutungsverlust und allmählichen Vergessenwerden seit dem Ende des Kalten Krieges. Es ist ein großes Verdienst, dass Jürgen Dinkel die Bewegung Bündnisfreier Staaten aus ihrer bisherigen Engführung auf die Bandung-Konferenz von 1955 löst und sie in einen größeren, diachron und international ausgeleuchteten Rahmen stellt.

Das Forschungsinteresse des Autors gilt weniger dem Kalten Krieg als dem Nord-Süd-Konflikt. Anstatt die Bewegung der Bündnisfreien als eine Ableitung der Lagerbildung des Ost-West-Konflikts zu begreifen, betont er, dass es sich um einen eigenständigen Ausdruck postkolonialer Politik gehandelt habe. Die Leitfrage der Studie lautet: „Wann und warum kam es zur Formierung der Bewegung Bündnisfreier Staaten?“ (S. 7) Diese Frage ist schwierig zu beantworten, weil die Bewegung nie offiziell gegründet wurde, keine Satzung oder Charta besitzt und bis 1994 kein Sekretariat hatte. Dennoch argumentiert der Autor, dass die Bewegung Bündnisfreier Staaten als eine „echte“ Bewegung zu verstehen sei. Aus der historischen Bewegungsforschung leitet er sechs Kriterien ab, die erfüllt sein müssen, um von einer Bewegung sprechen zu können: „Mitgliedschaft als Zeichen des Protests gegenüber bestehenden politischen Ordnungen, gemeinsame positive Ziele, eigenständiger Akteur mit einem Mindestmaß an Gemeinsamkeiten der einzelnen Mitglieder, Dauerhaftigkeit, organisatorische Strukturen, Sichtbarkeit“ (S. 295; siehe auch S. 22f.). Diese Kriterien sieht er für die Bewegung Bündnisfreier Staaten erfüllt.

Methodisch ist die flüssig geschriebene Studie als „internationale Politikgeschichte in kulturhistorischer Erweiterung“ angelegt (S. 20). Sie ist chronologisch gegliedert und in acht Kapitel unterteilt. Auf die Einleitung folgt ein Kapitel, das der Entstehung der antikolonialen Bewegung in der Zwischenkriegszeit und den Bemühungen ihrer Anführer gewidmet ist, den Widerstand gegen die Kolonialmächte zu organisieren und Öffentlichkeit zu generieren. Die daraus hervorgehende Liga gegen Imperialismus und für nationale Unabhängigkeit verstand sich als Alternative zum europäisch dominierten Völkerbund. Die Liga hielt 1927 in Brüssel einen vielbeachteten Kongress ab, der allerdings zeigte, dass es sich nicht um eine geschlossene Bewegung handelte, sondern um ein Sammelbecken von Positionen, denen die Kritik an Kolonialismus und Imperialismus, Rassismus und Ausbeutung gemeinsam war. Finanzielle Probleme und politische Streitigkeiten innerhalb der Liga sowie die Weltwirtschaftskrise und schließlich der Zweite Weltkrieg verhinderten eine Fortsetzung der Kongressaktivitäten. Doch immerhin gab es mit der Liga ein „Vorbild für eine neu zu schaffende Solidaritätsorganisation“ (S. 57), das mit dem Einsetzen des Dekolonisationsprozesses neue Relevanz erhielt.

Kristallisationspunkt dieser Entwicklungen war die Asiatisch-Afrikanische Konferenz im indonesischen Bandung (1955). Wie der Autor im dritten Kapitel argumentiert, entstand diese Konferenz als Protest gegen den Ausschluss der asiatischen Regierungen von der Genfer Konferenz im Jahr zuvor, bei der die europäischen Mächte, die USA und die UdSSR den Indochina-Krieg zu beenden und die asiatische Region neu zu ordnen versuchten. Um zu verhindern, dass die asiatischen und afrikanischen Nationen bzw. Kolonien weiterhin von der internationalen Diplomatie ausgeschlossen blieben, organisierten die Vertreter Burmas, Ceylons, Indiens, Pakistans und Indonesiens das Treffen in Bandung. Jürgen Dinkel verdeutlicht, dass die symbolisch aufgeladene Konferenz vor allem dazu diente, Solidarität untereinander zu erzeugen und die Legitimität der Regierungen der neuen Nationen nach innen und außen zu betonen. Der Kalte Krieg als geopolitischer und ideologischer Konflikt spielte aus Sicht der Organisatoren und Teilnehmenden nur eine nachgeordnete Rolle.

Für die UdSSR, die USA und die europäischen Kolonialmächte hingegen stellte Bandung ein geostrategisch bedeutsames Ereignis dar, das dazu beitrug, dass sie den Entwicklungen in Asien und Afrika mehr Beachtung schenkten. Die Antwort auf die Frage, inwiefern die Konferenz den Eigeninteressen der postkolonialen Staaten gerecht wurde, fällt nicht ganz eindeutig aus. So spricht der Autor davon, dass die teilnehmenden Regierungen zu verhindern suchten, „in die Konflikte der Supermächte hineingezogen“ zu werden (S. 108), dass sie aber zugleich damit rechneten, „von der Rivalität zwischen Moskau und Washington zu profitieren“ (S. 109). Im Schlusskapitel stellt er fest, die Konferenz habe „die Voraussetzungen dafür“ geschaffen, „dass sich der Druck der beiden Großmächte auf die afroasiatischen Regierungen erhöhte, sich im Systemkonflikt zu positionieren“ (S. 299). Dies wirft die Frage auf, ob es sich bei dem Nord-Süd-Konflikt und dem Ost-West-Konflikt wirklich „um zwei getrennte Konflikte handelte“ (S. 293). So beschreibt Jürgen Dinkel mit Blick auf die 1970er-Jahre, dass die Mitglieder der Bewegung angesichts der Entspannung des Kalten Krieges einen „merklichen Bedeutungsverlust“ befürchteten, weil es für sie dadurch schwieriger wurde, die Konkurrenz der beiden Lager zu ihren eigenen Gunsten zu nutzen (S. 152). Hier wäre es nützlich, die Interessen der an der Bewegung beteiligten Regierungen sowie die Positionen der individuellen Akteure systematischer zu untersuchen – wie es der Verfasser im Ausblick als künftige Forschungsaufgabe nahelegt.

Dass sich der Kalte Krieg und die Bewegung Bündnisfreier Staaten zumindest ereignisgeschichtlich überschnitten, zeigt die Belgrader Konferenz von 1961, die wenige Wochen nach dem Bau der Berliner Mauer abgehalten wurde. Ihr ist das vierte Kapitel gewidmet. Darin zeigt Jürgen Dinkel, dass allen internationalen Solidaritätsbekundungen zum Trotz die nationalen und innenpolitischen Interessen der beteiligten Regierungen eine zentrale Rolle spielten. Zugleich erhielten die wirtschaftlichen und politischen Ziele der Bewegung, die bei der Belgrader Konferenz und in der Folgezeit diskutiert wurden, in den Vereinten Nationen sowie in diplomatischen Kreisen wachsende Aufmerksamkeit. Die Bewegung trug ihre Forderungen außerdem in Gremien wie die United Nations Conference on Trade and Development (UNCTAD) hinein, die sich für eine Neuordnung der globalen Handelsstrukturen stark machte. Hier deutete sich eine Strategie an, die der Bewegung in den 1970er-Jahren zum Durchbruch verhalf: die Bildung von Allianzen, um über eine Mehrheit in UN-Gremien Entscheidungen im Interesse der postkolonialen Nationen durchzusetzen. In den 1960er-Jahren gelang es der Bewegung allerdings noch nicht, sich zu institutionalisieren. Zu groß waren die Differenzen innerhalb der Gruppe, zu gering die Bereitschaft der einflussreicheren Länder, Souveränität abzutreten.

Wie und warum sich die Bewegung in den 1970er-Jahren etablieren konnte, wird im fünften Kapitel beschrieben. Vor dem Hintergrund der Entspannungspolitik und den wirtschaftlichen Krisen des Jahrzehnts gelang es den Mitgliedern der Bewegung, ihren Forderungen mehr Gehör als je zuvor zu verschaffen. Als Erfolg wertete die Bewegung vor allem die internationale Isolierung Israels, die sie unter anderem erreichte, indem sie Vorwürfe gegen Israels Verhalten gegenüber den Palästinensern mit scharfer Kritik an der Apartheidpolitik Südafrikas verknüpfte und so Einigkeit im Innern herstellte. Weiterhin baute sie ein eigenes Nachrichtennetz auf, um nicht länger von den Agenturen der Industrienationen abhängig zu sein. Dies entsprach der Forderung nach einer Neuen Internationalen Informationsordnung, die parallel zum Konzept einer Neuen Internationalen Weltwirtschaftsordnung entstand; letzteres wurde von der UNCTAD, der Gruppe der 77 und der Bewegung der Bündnisfreien als Alternative zur westlich-amerikanischen Wirtschaftsordnung propagiert. Nun erlebte die Bewegung einen raschen Zulauf sowie eine öffentliche Aufwertung. Sowohl sowjetische als auch amerikanische Beobachter erkannten die politische Bedeutung der Bewegung an – nicht zuletzt, da sie rund zwei Drittel der Weltbevölkerung repräsentierte. So gelang es der Bewegung in den 1970er-Jahren, sich als „neuer Akteur“ in den internationalen Beziehungen zu etablieren (S. 206).

Doch letztlich war die Bewegung politisch schwächer als das Medienecho, das sie erzeugte. Ihr Zusammenhalt hing davon ab, dass sich ihre Mitglieder auf gemeinsame Feinde verständigen konnten, und ihre institutionellen Erfolge waren auf Bereiche beschränkt, die außenpolitisch als marginal galten. Hinzu kamen ein Mangel an professioneller Organisation und die Schwierigkeit, programmatische Einigkeit über immense politische, ideologische, regionale und kulturelle Differenzen hinweg zu erzielen. Dass es der Bewegung in den 1970er-Jahren dennoch gelang, ihre Mitgliederzahlen zu erhöhen, hatte vor allem mit Verfahrensentscheidungen zu tun, wie Jürgen Dinkel herausarbeitet: Die Aufnahme neuer Mitglieder wurde bewusst liberal gehandhabt, und die Diskussions- und Abstimmungsprozesse wurden so offen gestaltet, dass sie eine „friedliche Koexistenz“ unterschiedlichster Positionen erlaubten.

In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, als was für eine Art von Organisation die Bewegung Bündnisfreier Staaten zu verstehen ist. Angesichts der beschriebenen institutionellen und organisatorischen Schwäche der Bewegung, die in den 1980er-Jahren besonders sichtbar wurde (sechstes Kapitel), erscheint es problematisch, sie als internationale Organisation im traditionellen Sinne zu charakterisieren. So gelang es ihr nicht, funktionierende Mechanismen aufzubauen, um interne Konflikte zu lösen (vgl. S. 251), oder sich gegenüber Konkurrenzorganisationen zu etablieren (vgl. S. 290). Insofern ließe sich fragen, ob die Bewegung möglicherweise eher ein politisches Zweckbündnis darstellte, das von einer gemeinsamen Rhetorik zusammengehalten wurde, die in den 1970er-Jahren, als der Kalte Krieg an ideologischer Schärfe und polarisierender Wirkung verlor, ihre Radikalität und Bedrohlichkeit eingebüßt hatte. In diese Richtung weist schließlich der Befund im siebten Kapitel, dass die Bewegung nach 1989 zwar weiterexistierte, aber von politisch etablierteren und finanziell besser ausgestatteten Akteuren als bedeutungslos abgetan wurde. Deshalb wäre es sinnvoll, stärker zwischen formalem Fortbestand und konkreter Handlungsfähigkeit zu unterscheiden. Dass solche konzeptionellen und inhaltlichen Fragen, die für geschichts- und politikwissenschaftliche Arbeiten über internationale Organisationen, den Nord-Süd-Konflikt, den Kalten Krieg und die Dekolonisation gleichermaßen relevant sind, aufgeworfen und mit einer Fülle empirischen Materials unterlegt werden, ist das große Verdienst dieser anregenden Studie.