Titel
Geerbte Dinge. Soziale Praxis und symbolische Bedeutung des Erbens


Autor(en)
Langbein, Ulrike
Erschienen
Köln 2002: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
Preis
€ 24,90
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Andrea Hauser, Bremen

Der Erbvorgang ist ein Themenbereich, dem in den Sozial- und Kulturwissenschaften immer wieder Raum gegeben, der aber kaum als zentrales kulturelles Phänomen analysiert wird. Mit ihrer Dissertation „Geerbte Dinge. Soziale Praxis und symbolische Bedeutung des Erbens“ hat Ulrike Langbein eine Ethnographie des Erbens vorgelegt, die in mehrfacher Hinsicht überzeugt: Sie untersucht Erben als kulturelle Praxis – die subjektiven Bedeutungen der Dinge und des Erbprozesses – in Form einer Gegenwartsstudie, wobei sie einen ökonomistisch verengten Erbe-Begriff überwindet, bei dem es nur um die Übertragung materieller Werte geht. Sie schafft mit ihrer „Methode einer mehrdimensionalen Kontextanalyse“ ein brauchbares Instrumentarium einer subjektorientierten Sachkulturforschung der Gegenwartskultur und damit eine Brücke zwischen der Analyse der materiellen Kultur und der Subjektanalyse. Durch die Betrachtung der symbolischen Prozesse des Erbens, das nach wie vor orientiert ist am bürgerlichen Familienideal, zeigt die Autorin das Erben als konservative Seite der Kultur im Hinblick auf die komplexe Kulturtechnik der Tradierung, Identitätsbildung und Erinnerung.

Die Arbeit gliedert sich in fünf große Kapitel. In der „Einleitung“ begründet Langbein ihr Interesse an den „geerbten Dingen“. Im Vordergrund steht für sie die ideelle Bedeutung der geerbten Dinge. Es interessiert sie, wie sich Identitäten über Dinge bilden, in welche symbolischen Formen soziale Zugehörigkeiten und Abgrenzungen gerinnen und wie Erinnerungsobjekte funktionieren. „Am Beispiel geerbter Dinge werden die komplizierten Vorgänge der Konstruktion, Versinnbildlichung und Dechiffrierung von Bedeutung nachvollziehbar. Die Studie gewährt Einblicke in den Bereich des Imaginären, in Vorstellungs- und Wertewelten, indem sie die vielschichtige Welt des Symbolischen filigran ausbuchstabiert“ (12), kennzeichnet die Autorin selbst ihre Forschungsarbeit. Auf der Grundlage der beiden folgenden Abschnitte „Stand der Forschung“ und „Der Forschungsprozeß“ entwickelt Ulrike Langbein ihre „Methode einer mehrdimensionalen Kontextanalyse“, ein interdisziplinäres Instrumentarium, das die Bedeutung der geerbten Dinge phänomenologisch, praxeologisch und biographisch aufzuschlüsseln vermag. Im Anschluss an Arbeiten der Gemeindeforschung (Utz Jeggle: Kiebingen), der historischen Sachkulturforschung (Andrea Hauser: Dinge des Alltags), der sozialanthropologischen Familienforschung (Esther N. Goody: Contexts of Kinship; Jack Goody, Joan Thirsk, E.P. Thompson: Family and Inheritance) sieht die Autorin Erben als komplexe Kulturtechnik der Tradierung, „die elementare normative Ordnungen unserer Gesellschaft spiegelt und reproduziert“ (14). Erben diene nicht nur der sozialen und materiellen Reproduktion, sondern strukturiere als „soziales Beziehungsidiom“ (Esther N. Goody) ebenso die Art der zwischenmenschlichen Beziehungen wie die Beziehungen zu den Dingen. Wesentlich ist für sie das Konzept der „Logik der Gabe“, nach dem das Geben an Bedingungen und Gegenleistungen geknüpft ist. Ihm widmet sie einen eigenen Exkurs.

Methodische Grundlage ihrer subjektorientierten Untersuchung der Symbolik des Erbens, der Werte und der Familienidentität, die mit dem Erbe tradiert werden, sind qualitative Interviews aus dem Raum Berlin. Bei den Interviews nahm die Autorin durch Fotodokumentation und Notizen die Dinge in ihrer Beschaffenheit und Verortung im privaten Raum genau auf. Aus der Reflexion des eigenen Forschungsprozesses und ihrer Rolle darin ergaben sich bereits zentrale Forschungshypothesen, etwa die qualitativ-inhaltliche Affinität zwischen dem Thema „geerbte Dinge“ und einer zur Mitwirkung an der Forschung bereiten bürgerlich geprägten Interessengruppe (44). Mehr oder weniger deutlich formulierte Rollenunterstellungen gegenüber der Interviewerin wie „Erbschleicherin“, „Rächerin“, „Biographin“ und „Therapeutin“ usw., ließ bereits darauf schließen, dass im Erbprozess Besitz und Vorstellungen von Gerechtigkeit, materielle Interessen und soziales Taktieren nicht voneinander zu trennen sind und sowohl Erbe und psychische Krisen, wie Erbe als Medium wirkungsvoller Selbst- und Familiendarstellung oft zusammen gehören (47f.).

Um die Bedeutung der geerbten Dinge zu erfassen, entwickelt die Autorin im Anschluss an die Hypothesen ein Konzept der Analyse für die Interviews, wobei sie zunächst sechs besonders aussagekräftige Interviews aus den 17 für eine tiefergehende Interpretation auswählte. Die Dinge selbst befragt sie im Anschluss an Roland Barthes auf ihr „kulturelles Image“ (53), auf die Konnotationen, die den Dingen durch Kulturgeschichte und Gegenwartskultur zugewiesen werden. Wichtig sind ihr auch die Gesten des Alltags (Vilém Flusser), also der phänomenologische Blick auf die Praxis, sowie das Verstehen des Gesagten, – sich gedanklich an den Ort zu versetzen, den der Befragte im Sozialraum einnimmt. So führen nicht nur sprachliche Äußerungen, sondern auch nonverbale Sachverhalte wie Räume, Praxisformen und gestaltete Umwelt zur Bedeutung der Dinge. (55)

In Form einer Kontextanalyse, bei der sie die sechs Interviews noch einmal auf drei Fallbeispiele verdichtet, verfolgt sie dann folgende zentrale Interpretationskontexte: 1. Zwei ausgewählte signifikante Dinge aus dem Erbe und deren „kulturelles Image“. 2. Die Räume, in denen diese Dinge sich befinden oder gehandhabt werden, als bedeutungstragende Bilder. 3. Den funktionalen, ästhetischen und soziale Gebrauch der geerbten Dinge, d.h. einmal die Praxis im subjektiv gelebten Alltag, zum zweiten die elementaren Ästhetiken als sinnlich, emotional und kognitiv besetzte Prozesse, innerhalb derer Dinge und Praxen ausgesucht, angeeignet und zu Trägern von Bedeutung werden (59). Schließlich die geerbten Dinge als Medium und Kristallisationspunkt sozialer Beziehungen im Prozess der Übereignung und Aneignung des Erbes, wobei „soziale Gefühle“ (Georg Simmel) zentral betrachtet werden (70). 4. Die Biographien in Verbindung mit den Dingen, also das dahinter stehende Lebensthema.

Im vierten großen Abschnitt „Erbsachen: Drei Fallstudien“ wendet die Autorin ihre mehrdimensionale Kontextanalyse an. Dort kommen der Sohn aus gutem Hause in „Die Erblast des Erfolgs: Peter Zalinski“, die geschiedene Pfarrfrau in „Pfarrhaus zu vererben: Edelgard Luhn“ und die Großbürgerin in „Geerbtes Geschlecht: Helga Salier“ zu Wort. Diese spannend zu lesenden Fallbeispiele zusammenzufassen würde hier zu weit führen. Beispielhaft seien einige Erkenntnisse benannt. Peter Zalinskis Umgang mit den vom Vater geerbten Gegenständen – Armbanduhr und Füller – fasst Langbein als negative Auratisierung: Er betrachte sein Erbe „als Schmerzensgeld“ für nicht erhaltene elterliche Liebe. In einer Entwertung und Abwehr zeige sich Peter Zalinskis Verhaftetsein und permanente Spiegelung der Wertewelt des Vaters (116). Den darin sichtbaren Umgang mit den geerbten Dingen bezeichnet Langbein als „Bewahrung durch Transformation“: Zalinski distanziert sich von der Objektwelt der Vaters; indem er aber die Semantik der Dinge nur partiell verändert, ohne sie grundsätzlich aufzugeben, sind diese Dinge „kein Mittel des Bruches“, sondern kontinuieren soziale Beziehungen und tradieren „kulturelle Muster und normative Orientierungen – auch wider Willen.“ (118)

Die von der Pfarrfrau Edelgard Luhn als Erbe bezeichneten Dinge wie das Silber und der Flügel repräsentierten im Kontext der ehemaligen DDR den Willen, der Gleichmacherei zu entgehen und „identitätsprägende kulturelle Differenzen aus der Vergangenheit nicht aufzugeben“, was Langbein als „subversiven Konservatismus“ bezeichnet (157). Dabei stelle sich ein Zusammenhang zwischen realen Verlusterfahrungen (hier biographisch des Elternhauses, der Ehe, des Hauses) und der Hypostasierung von Status in Form geerbter Dinge her (167). Die „Tradierung der Dinge ist eine symbolische Praxis gegen lebensgeschichtliche Diskontinuität“ (168).

Im letzten Abschnitt systematisiert Langbein diese dichten Blicke auf die Kultur des Erbens und versucht, einen kulturwissenschaftlichen Erbe-Begriff zu konzeptualisieren. Sie fragt, welche Mechanik Dinge zum Erbe werden lassen, und macht dabei Symbolisierung, Aneignung, Inkorporation, Auratisierung und soziale Praxis als zentrale Mechanismen fest. Geerbte Dinge als „polysemische Symbole“ repräsentieren ihre ehemaligen Besitzer ebenso wie immaterielle Erinnerungen und biographisch relevante Ideen, Ideale und Ideologien (218). Mit der semantischen Verknüpfung und der Auswahl (die Autorin verwendet das m.E. auch in diesem Zusammenhang problematische Wort „Selektion“) durch die Erben erfolge eine „Beseelung der Dinge“, deren Inhalte in starkem Maße geschlechtsspezifisch seien: Frauen wählten eher Beziehungssymbole, Männer eher Statussymbole. Durch die Aneignung werden Dinge, die aus der Lebenswelt einer anderen Person stammen, in den eigenen Alltag integriert und zum persönlichen Ausdruck der neuen Besitzer, was als Vorgang der Individualisierung anzusehen sei. Die Inkorporation der Dinge in die eigene Welt sei symbolischer Ausdruck sozialer Beziehungsqualitäten. Erben sei somit nicht Übergabe, sondern Übernahme (222). Die Stärke der Auratisierung der geerbten Dinge sei abhängig vom Grad und der Art der Identifikation mit den Wertvorstellungen, die sie verkörpern. „Das Heilige, verstanden im Sinne des Wertvollen und Verehrungswürdigen, erweist sich als Motiv und Hintergrund jeglicher Auratisierung“ (224). Dabei erscheine das Heilige in Gestalt normativer Orientierungen: „Die ethische Dimension der Dinge ist eine wesentliche Bedingung ihrer Klassifikation als Erbe“ (225). Auratisierung bewegt sich zwischen Verehrung und Verachtung, kann also positiv und negativ sein.

Die geerbten Dinge geben als soziale Praxis Aufschluss über innerfamiliäre Beziehungsqualitäten, sie sind Spiegel emotionaler und sozialer Lagen in der Familie und der sie umgebenden Gesellschaft (228), wobei sich eine große Affinität von geerbten Dingen und dem bürgerlichen Familienmodell feststellen lasse: Als Metaphorik des Erbens, als kulturelle Motive und Bedeutungen, die mit dem Phänomen geerbter Dinge verbunden sind, benennt die Autorin als wesentlich kulturelle Tradierung, soziale Kontinuierung und normative Orientierung. Das Erben sei aus „kulturwissenschaftlicher Perspektive ein lebenslanger und generationenübergreifender Prozess der Herausbildung und Tradierung kultureller Präferenzsysteme“ (230). Die Kategorien Geschlecht, Milieu und Generation hätten dabei zentralen Einfluss, gerieten aber aber auch immer wieder in Unordnung. Als Statusindikatoren bzw. noch mehr als Statusverlustindikatoren verwiesen die geerbten Dinge darauf, dass neben der sozialen Reproduktion in gleicher Weise die symbolische bedeutsam sei. Die geerbten Dinge seien nicht nur Vermächtnis, sie drückten auch den Wunsch nach Dauer, nach sozialer Kontinuierung aus. Damit seien sie eine Strategie gegen die Vergänglichkeit wie Gräber und Gedenkstätten. „Als mobile Erinnerungsorte verewigen die geerbten Dinge identitätsprägende soziale Räume der Vergangenheit – auch und gerade in hochmobilen Zeiten“ (236).

Zugleich verkörpern die geerbten Dinge normative Orientierungen. Sie seien „ein paradigmatischer Ort unserer Kultur, an dem elementare gesellschaftliche Werte in verdichteter Form zutage treten, übernommen oder verworfen werden“ (239) und hätten somit eine „Scharnierfunktion“ im Prozess sozialer und kultureller Differenzierung in milieu-, geschlechts- und generationenspezifischer Hinsicht. Die von Langbein eruierte Mechanik und Metaphorik des Erbens ist insgesamt äußerst anregend und überzeugend, allerdings stellt sich manches Mal die Frage, ob für solche weitreichenden generalisierenden Schlüsse die doch recht überschaubare Quellenlage eine ausreichende Basis darstellt.

Zum Schluss konkretisiert Langbein einen kulturwissenschaftlichen Erbe-Begriff. Er bezeichne erstens „Werte“, die für die Existenzsicherung notwendig befunden würden. Zweitens werde der Mechanismus der Wertevermittlung und -befolgung, die normativen Orientierungen, in die Dinge eingelagert. Der Tausch Gabe gegen Gegengabe – wie Erbe gegen Pflege, Erbe gegen Erfolg etc. – erfolge dabei im Bereich des Imaginären. Drittens bedeute Erben immer Bewahren, es werde dadurch Dauerhaftes produziert und reproduziert. Nur selten komme es zum Bruch.

Mit diesen systematisierenden Ausführungen hat die vorliegende Arbeit nicht nur das Feld des Erbens wesentlich erweitert und bereichert, sondern auch das einer Sachforschung der Gegenwart insgesamt. Beim Lesen merkt man dem Buch an, dass es im Kontext einer konstruktiven wissenschaftlichen Auseinandersetzung entstanden ist, wodurch das Werk sehr einleuchtend und klar vor die Augen der Leserin und des Lesers tritt. Man wünscht ihm viele Leserinnen und Leser.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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