B. Allen: Alexander Shlyapnikov

Titel
Alexander Shlyapnikov, 1885–1937. Life of an Old Bolshevik


Autor(en)
Allen, Barbara C.
Reihe
Historical Materialism 90
Erschienen
Anzahl Seiten
426 S.
Preis
€ 129,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Oberender, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Die sowjetische Geschichte der 1920er- und 1930er-Jahre kennt viele prominente Bolschewiki, die im Zuge innerparteilicher Konflikte ihren politischen Einfluss und ihre Reputation und später, während der Stalinschen Säuberungen, oft auch ihr Leben verloren. Zu diesem Kreis zählt Alexander Schljapnikow (1885–1937), der als Führer der sogenannten Arbeiteropposition in Erinnerung geblieben ist. Ähnlich wie die Gruppe der Demokratischen Zentralisten übte die Arbeiteropposition nach dem Ende des russischen Bürgerkrieges scharfe Kritik an den Zuständen innerhalb der Kommunistischen Partei und im Sowjetstaat. Obwohl beide Gruppen die Herrschaft der Partei nicht grundsätzlich in Frage stellten, wurden sie vom Führungszirkel um Lenin als Bedrohung wahrgenommen und energisch bekämpft. Um weiteren Fraktionsbildungen in der Partei einen Riegel vorzuschieben, beschloss der 10. Parteitag der VKP (B) im März 1921 auf Betreiben Lenins das Fraktionsverbot. Die Niederlage der Arbeiteropposition und der Demokratischen Zentralisten war ein Schlüsselmoment in der Geschichte der Partei. Politische Ideen, die von den Vorstellungen Lenins und seiner Anhänger abwichen, wurden als „parteifeindlich“ stigmatisiert und vom – ohnehin eng umgrenzten – legitimen Diskurs ausgeschlossen. Damit war ein folgenschwerer Präzedenzfall geschaffen, dessen Vorbildwirkung kaum unterschätzt werden kann. In den Diadochenkämpfen nach Lenins Tod und während Stalins Aufstieg zur Alleinherrschaft erwies sich das Fraktionsverbot als probates Mittel im Kampf gegen innerparteiliche Abweichler und Kritiker, die die jeweils geltende „Generallinie“ nicht unterstützten.

Wer waren die Revolutionäre, die sich in der Arbeiteropposition zusammenfanden? Welche Erfahrungen und Ideen teilten sie? Waren ihre Vorstellungen vom Aufbau des Sozialismus eine ernst zu nehmende Alternative zu den Konzepten Lenins und Stalins? Um diese Fragen zu beantworten, hat die amerikanische Historikerin Barbara Allen den bekanntesten Vertreter der Gruppe in den Mittelpunkt einer Biographie gestellt. Bislang gab es keine umfassende biographische Studie über Alexander Schljapnikow aus der Feder eines westlichen Autors. Allens Buch beruht auf einer Dissertation, die im Jahr 2001 fertiggestellt wurde. Warum die Veröffentlichung in Buchform erst 14 Jahre später erfolgte, geht aus dem Vorwort nicht hervor. Die Verzögerung ist insofern von Bedeutung, als Allen in den 1990er-Jahren in russischen Archiven Aktenbestände einsehen konnte, die inzwischen nicht mehr zugänglich sind. Mit den heute erreichbaren Quellen könnte die Biographie nicht mehr so geschrieben werden, wie es Allen seinerzeit möglich war. Die Geschichte der Arbeiteropposition nimmt erwartungsgemäß breiten Raum in Allens Darstellung ein, doch bietet das Buch sehr viel mehr. Die Biographie ist eine exemplarische Studie über den Aufstieg und Fall einer Personengruppe, die gemeinhin unter dem Begriff „Altbolschewiki“ subsumiert wird. Schljapnikow steht stellvertretend für eine Generation von russischen Revolutionären, die im späten Zarenreich aufwuchsen und sozialisiert wurden, während der Revolution von 1917 an die Macht gelangten und im Bürgerkrieg obsiegten, nur um nach Lenins Tod allmählich ins Abseits gedrängt und später von Stalin vernichtet zu werden. Schljapnikows Lebensweg besitzt ein Veranschaulichungs- und Erklärungspotential, das zum besseren Verständnis überindividueller historischer Prozesse und Phänomene beitragen kann.

In Schljapnikows Leben bis zur Revolution verbinden sich das Typische und das Besondere. Die Herkunft aus dem diskriminierten religiösen Milieu der Altgläubigen hob Schljapnikow von anderen prominenten Bolschewiki ab. Zeitlebens legte er eine kritisch-skeptische Distanz gegenüber Autoritäten an den Tag und eine trotzige Entschlossenheit, auf seinem persönlichen Standpunkt zu beharren, sollten ihm daraus auch Nachteile erwachsen. Bei allen Zugeständnissen an die Parteidisziplin bewahrte er sich als Bolschewik stets ein gewisses Maß an Eigensinn und Unangepasstheit. Schljapnikows Kindheit und Jugend in der Provinzstadt Murom (Gouvernement Wladimir) fielen in die Zeit der beschleunigten Industrialisierung des Zarenreiches gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Zielstrebig arbeitete sich Schljapnikow von der ungelernten Hilfskraft zum Facharbeiter in der Metallurgie empor. Die in Arbeiterkreisen weitverbreitete Unzufriedenheit mit der Autokratie führte ihn noch vor Erreichen des zwanzigsten Lebensjahres in die Reihen der Sozialdemokratie. Von 1908 bis 1916 lebte Schljapnikow im westeuropäischen Exil, hauptsächlich in Frankreich. Zu seinen Förderern zählten Lenin und die Revolutionärin Alexandra Kollontai, mit der Schljapnikow auch einige Jahre privat liiert war. Die Ansichten und Überzeugungen, die Schljapnikow bis 1917 entwickelte, sind entscheidend, um sein politisches Handeln nach der Revolution zu verstehen. Drei Faktoren prägten sein Selbstverständnis und Weltbild als Revolutionär und Marxist: Die Auffassung, dass die Praxis wichtiger sei als endloses Theoretisieren; sein Werdegang als Arbeiter und seine intensiven Kontakte zur westeuropäischen, besonders französischen Gewerkschaftsbewegung; schließlich die Forderung, dass die Herrschaft nach der Revolution in die Hände der Arbeiter übergehen müsse, nicht jedoch in die Hände von Intellektuellen vom Schlage Lenins und Bucharins, an deren Überheblichkeit und Weltfremdheit Schljapnikow sich schon lange vor 1917 störte.

Allen arbeitet die Stärken und Schwächen heraus, die Schljapnikows Erfolg als Revolutionär und sein Scheitern als Funktionär im jungen Sowjetstaat beeinflussten. Schljapnikow hatte nie Ambitionen als Denker und Theoretiker. Er verstand sich immer als Mann der Praxis, als Organisator, und als solcher wurde er auch von den Parteiführern wahrgenommen und geschätzt. Während des Ersten Weltkrieges illegal nach Russland zurückgekehrt, gehörte Schljapnikow im Revolutionsjahr 1917 dank seines Organisationstalents und seiner Vernetzung im Arbeiter- und Gewerkschaftsmilieu zu den wichtigsten Akteuren in Petrograd. Er gründete die Allrussische Metallarbeitergewerkschaft, die ihm fortan als politische Basis diente, und nach dem Oktoberumsturz übernahm er in Lenins Regierung den Posten des Volkskommissars für Arbeit. Bald wurde jedoch deutlich, dass ihm das Zeug zum politischen Schwergewicht fehlte. Wie viele Altbolschewiki hatte er Schwierigkeiten, den Wandel vom Revolutionär zum Politiker bzw. Funktionär zu vollziehen. Schljapnikow vermochte es nicht, seine Stellung an der Spitze einer der größten russischen Gewerkschaften in politische Macht umzumünzen. Selbst Menschen, die ihm wohlgesinnt waren, attestierten ihm einen auffälligen Mangel an politischer Begabung. Sein intellektueller Horizont war eng und begrenzt. Ihm fehlte der Blick für größere Zusammenhänge. Mit einer Beharrlichkeit, die von der Parteiführung als lästig und enervierend empfunden wurde, setzte sich Schljapnikow für sein Hauptanliegen ein: Die Kontrolle der gesamten Wirtschaft sollte den Gewerkschaften übertragen werden. Die umfassende Einbeziehung der Arbeiterschaft in politische und wirtschaftliche Entscheidungs- und Lenkungsprozesse war für Schljapnikow der Lackmustest, an dem sich zeigte, ob die Revolution gelungen war oder sich in eine falsche Richtung entwickelte. Andere Fragen interessierten ihn kaum. Zu den Agrar- und Industrialisierungsdebatten der 1920er-Jahre steuerte er keine nennenswerten Beiträge bei, nicht zuletzt weil es ihm an ökonomischem Sachverstand fehlte. Der Nationalitätenproblematik stand er vollkommen gleichgültig gegenüber. Seine Perspektive war und blieb die eines russischen Arbeiters und Gewerkschaftlers.

Als Wortführer der Arbeiteropposition scheiterte Schljapnikow, weil er keine ranghohen politischen Verbündeten hatte. Alle namhaften Parteiführer stellten sich gegen ihn – Lenin, Trotzki, Sinowjew, Bucharin. Unterstützung fand Schljapnikow nur bei seiner einstigen Geliebten Kollontai, die aber von der Männerriege an der Spitze der Partei mühelos diszipliniert wurde. Die Arbeiteropposition artikulierte den Unmut zahlreicher Altbolschewiki, Arbeiter und Gewerkschaftler über Missstände und Fehlentwicklungen in Partei und Staat: Das autoritäre Gebaren der Parteiführung; die Unterdrückung offener Diskussionen in der Partei; die Zurückdrängung des Wahl- zugunsten des Ernennungsprinzips bei der Besetzung von Posten; die Marginalisierung von Arbeitern in der Politik und in der Wirtschaftsleitung. Zahlenmäßig war die Arbeiteropposition nicht stark genug, um sich gegen den Block der Lenin-Anhänger behaupten zu können. Lenin und Bucharin diffamierten sie als „anarchosyndikalistische Abweichung“. Nach dem Fraktionsverbot ließ die Entmachtung Schljapnikows nicht lange auf sich warten. Im Mai 1921 wurde er aus der Leitung der Allrussischen Metallarbeitergewerkschaft verdrängt. Schljapnikow war politisch kaltgestellt. Es begann ein schrittweiser beruflicher und sozialer Abstieg, den Allen mit beklemmender Anschaulichkeit nachzeichnet. Schljapnikows weiteres Leben wurde nicht nur von chronischen gesundheitlichen Problemen überschattet, sondern auch von endlosen Schikanen seitens der Parteiführung, die er stoisch ertrug, ohne seine früheren Ansichten zu widerrufen. Seine Erinnerungen an das Jahr 1917 wurden 1931 als „menschewistische Geschichtsverfälschung“ abgestempelt und aus dem Verkehr gezogen. Schließlich erfolgte 1933 der Ausschluss aus der Partei. Obgleich er sich nie offen gegen Stalin gestellt hatte, geriet Schljapnikow 1936/37 in den Sog der Säuberungen. Wegen angeblicher „Blockbildung mit Trotzki und Sinowjew“ wurde er im September 1937 in einem geschlossenen Prozess zum Tode verurteilt und erschossen. Schljapnikow blieb sich selbst treu und verweigerte bis zuletzt das von seinen Peinigern geforderte Geständnis.

An Barbara Allens Buch gibt es, wenn überhaupt, nur wenig zu beanstanden. Bei allem Bemühen um Verständnis wahrt Allen stets die gebotene kritische Distanz gegenüber ihrem Protagonisten. Sie betont, dass Schljapnikows Vorstellungen von einer sozialistischen Gesellschaftsordnung genauso illiberal waren wie die anderer Bolschewiki. Schljapnikows erklärtes Ziel war das Machtmonopol der Arbeiterschaft. Andere soziale Gruppen spielten in seinen Zukunftsplänen keine Rolle. Den Bauern brachte er nur Desinteresse entgegen, wenn nicht gar Verachtung. Es hätte nicht geschadet, wenn sich Allen kritischer mit Schljapnikows Idee der Wirtschaftslenkung durch die Gewerkschaften auseinandergesetzt hätte. Das war eine Kopfgeburt, ein rein theoretisches Konstrukt, das sich nicht auf reale historische Vorbilder berufen konnte. Schljapnikows Vorstellungen blieben vage und unausgereift. Als ernst zu nehmende Alternative zur Wirtschaftslenkung durch den (Partei-)Staat wird man sie kaum bezeichnen können. Es besteht daher kein Grund zu der Annahme, dass die Entwicklung der Sowjetunion „besser“ verlaufen wäre, wenn sich Schljapnikow mit seinen Vorstellungen durchgesetzt hätte. Barbara Allen hat den biographischen Ansatz vorbildlich angewendet. Ihr durchweg gut lesbares Buch sollte Osteuropahistorikerinnen und -historikern als Ermutigung dienen, der Biographie mehr Aufmerksamkeit zu schenken.

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