M. Monmonier (Hrsg.): Cartography in the Twentieth Century

Cover
Titel
Cartography in the Twentieth Century.


Herausgeber
Monmonier, Mark
Reihe
The History of Cartography 6
Erschienen
Anzahl Seiten
1.906 S. in 2 Bde., 805 Farb-, 119 SW-Abb., 242 Zeichn., 61 Tab.
Preis
€ 481,77
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Iris Schröder, Forschungszentrum Gotha / Historisches Seminar, Universität Erfurt

Der 2015 erschienene, sechste Teil der „History of Cartography“ ist ein beeindruckendes Werk. Mit den von gut 300 Autorinnen und Autoren verfassten rund 500 Artikeln auf insgesamt knapp 2.000 Seiten werden die beiden gewichtigen Teilbände, die das 20. Jahrhundert betreffen, zweifellos zu einer unverzichtbaren Referenz avancieren, schreiben sie doch das renommierte „History of Cartography Project“ fort, das in den 1980er-Jahren angetreten war, um Karten und damit die Kartographiegeschichte aus ihrem Nischendasein zu befreien. Das von den beiden Reihenherausgebern John Brian Harley und David Woodward formulierte Credo forderte seinerzeit einen kritischen und zugleich radikal historisierenden Blick auf Karten.1 Das ambitionierte Ziel war es, eine veritable Kultur- und Sozialgeschichte der Kartographie zu entwickeln und dabei vorrangig die gesellschaftlichen Wirkungen von Karten – „the social impact of maps“ – zu erforschen. Geschult an der Lektüre Foucaults und Derridas war das stets arbeitsteilig gedachte Vorhaben genuin interdisziplinär angelegt, der Begriff der Karte breit gefasst. Karten waren demnach zu deuten als „graphische Repräsentationen, die ein räumliches Verständnis von Dingen, Begriffen, Bedingungen, Prozessen oder Ereignissen in der menschlichen Welt erleichtern“.2 Vor diesem Hintergrund sollten sie in ihren vielfältigen sozialen und kulturellen Bezügen erforscht werden, und damit sowohl in ihren Herstellungs- als auch in ihren Nutzungsweisen – nicht zuletzt, um die von Karten ausgehenden politischen und gesellschaftlichen Effekte genauer in den Blick nehmen zu können.

Gut 30 Jahre später kann das inzwischen an der University of Wisconsin beheimatete „History of Cartography Project“3 auf eine wechselvolle Geschichte zurückblicken. Dem Elan der Anfangsjahre und dem Erscheinen der ersten beeindruckenden Bände folgte eine Zeit der Krisen. Am Ende stand die Entscheidung, nicht das übergreifende historiographische Ziel, wohl aber das redaktionelle Konzept zu ändern und anstelle ausführlicher thematischer Essays einen stärker enzyklopädischen Ansatz zu entwickeln. Das nun vorliegende Werk zeigt diese Umorientierung und folgt dem neu entworfenen Modell einer „interpretativen Enzyklopädie“. Obschon als Nachschlagewerk gedacht, haben die Einträge eine ausgefeilte grundlegende Systematik, die Mark Monmonier sowohl in seiner Einleitung (Bd. 6.1, S. XXX–XXXII) als auch in seinem Nachwort darlegt (Bd. 6.2, S. 1787–1791). Ihm und den beteiligten Mitherausgebern ging es um „integrierte konzeptionelle Cluster“, die, neben einem klaren Fokus auf historiographischen Entwicklungen in der Kartographiegeschichte, vorrangig spezifische „Modi kartographischer Praxis“ (Bd. 6.1, S. XXX) aufgreifen sollten. Dementsprechend sollte das Werk übergreifende interpretative Abhandlungen ebenso enthalten wie Artikel mittlerer Länge zu größeren Trends und kürzere, eher faktengesättigte Einträge. Mit dieser Struktur galt es nicht zuletzt der Tatsache Rechnung zu tragen, dass sich die zeithistorische Forschung zur Kartographie erstaunlicherweise noch in ihren Anfängen befindet.

Das 20. Jahrhundert, dies erläutert Monmonier gleich zu Beginn seiner Einleitung, sei durch sechs charakteristische Entwicklungen ausgewiesen – und zwar sowohl in der Form als auch in der Nutzung von Karten. Bezeichnend seien erstens die sich immer weiter differenzierende gesellschaftliche Wirkung von Karten, zweitens die neue Technik der Luftaufnahme sowie drittens der Übergang in elektronische, computergestützte Formen des Kartierens – ein Trend, der sich durch das Aufkommen neuer Digitaltechnologien im letzten Jahrhundertdrittel nochmals verstärkte. Wichtig sei viertens ein enger Nexus von Kartographie und Kriegswesen, der erhebliche Innovationsschübe hervorgebracht habe; fünftens sei das Paradox globalisierter Praktiken einerseits sowie zunehmend kundenorientierter inhaltlicher Ausgestaltung kartographischer Werke andererseits ein weiteres Novum des vergangenen Jahrhunderts; und sechstens schließlich sei auch die wachsende Bedeutung von Karten in der öffentlichen Verwaltung ein Charakteristikum der Epoche (Bd. 6.1, S. XXV–XXVII). Die Identifikation der genannten Entwicklungen, so Monmonier, habe die schwierige Auswahl möglicher Themen erleichtert.

Doch ungeachtet der anspruchsvoll ausgearbeiteten Metagliederung zeigt schon ein erster Blick in die beiden Teilbände, dass der Wechsel hin zu einem enzyklopädischen Nachschlagewerk eine gewisse Eigendynamik hervorbrachte, wie bereits die beeindruckende Menge der Einträge nahelegt. So findet sich nun innerhalb der erwähnten Themenstränge eine große Zahl von oft durchaus informativen Artikeln, die jedoch einem eher konventionellen Zugriff folgen. Sie betreffen sowohl bedeutende Institutionen der Kartenproduktion – gemeint sind hier Verlage sowie staatliche respektive wissenschaftliche Einrichtungen – als auch eine große Zahl an Einzelpersonen, und zwar vorrangig bedeutende Kartographen und Kartographietheoretiker; Frauen in der Kartographie ist demgegenüber nur ein knapper instruktiver Sammeleintrag gewidmet (Bd. 6.2, S. 1758–1761). Der historiographischen Reflexivität des gesamten Vorhabens, die mehrere Artikel explizit thematisieren, soll auf diese Weise Rechnung getragen werden. Doch die Frage stellt sich, ob damit nicht zu sehr einer Binnenperspektive der Vorrang gegeben wird, die das Werk eigentlich hatte durchbrechen wollen, oder anders gesagt: Vielleicht wäre es sinnvoll gewesen, den gewiss wichtigen historiographischen Perspektiven einen eigenen Band zu widmen.4

Der sechste Teil der „History of Cartography“ ist als Nachschlagewerk durchaus auch an die Spezialisten des Faches und somit an eine vergleichsweise überschaubare Gruppe gerichtet, die sich gewiss der großen Linien sowohl der kartographischen Entwicklung als auch der dazugehörigen Historiographie im 20. Jahrhundert noch einmal rückversichern möchte. So gibt es eine Fülle detaillierter Einträge, die konzise die technischen Entwicklungsschübe etwa von Luftbildaufnahmen, insbesondere der Photogrammetrie oder die Spezifika anaglypher, dreidimensional erscheinender Karten darlegen; zudem ist unter dem Titel „Electronic Cartography“ ein übergreifender Artikel der digitalen Revolution in der Kartographie gewidmet (Bd. 6.1, S. 356–389). Auch der Vielzahl an Reproduktionsmöglichkeiten, vorzugsweise im prädigitalen Zeitalter, wird erhebliche Aufmerksamkeit zuteil (Bd. 6.2, S. 1305–1338).

Warum aber sollten Zeithistoriker und Zeithistorikerinnen den sechsten Band der „History of Cartography“ zur Kenntnis nehmen? Anders gefragt: Wie verbindet sich die hier präsentierte Kartographiegeschichte mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts? Möglichkeiten und Anknüpfungspunkte gibt es viele. So finden sich, wie anfangs angekündigt, Artikel zu den großen Kriegen: zum Ersten und Zweiten Weltkrieg wie zum Ersten Golfkrieg sowie selbstredend auch zum Kalten Krieg; ein weiterer Beitrag behandelt die Pariser Friedenskonferenzen (1919). Überdies bilden zahlreiche Beiträge zur Militärkartographie (u.a. Bd. 6.1, S. 884–977) einen wichtigen Strang, und in der Tat wird hier deutlich, wie sehr technische Innovationen – etwa das „Global Positioning System“ (GPS), aber auch das für die heutige Kartenerstellung zentrale „Geographic Information System“ (GIS) – mit zunächst geheimer militärischer Forschung zusammenhängen.

Weiterführend und aufschlussreich sind außerdem jene Beiträge, die sich Kartographien in verschiedenen kolonialen Kontexten widmen. Hier macht sich in vielen Einträgen der vergleichsweise ausgereifte Forschungsstand zum Britischen Empire bemerkbar, wobei Überblicksartikel zur „kolonialen und imperialen Kartographie“ (Bd. 6.1, S. 251–255) oder auch zu „Dekolonisation und Unabhängigkeit“ (Bd. 6.1, S. 300–309) die Spannbreite an vertiefenden Fragen nur knapp anzureißen vermögen. Zudem tauchen gerade in diesem Kontext Themen auf, die die Kartographiegeschichte auch für globalhistorische Fragen öffnen könnten. So zeigen insbesondere die Beiträge zu Grenzen und Grenzkonflikten, im Übrigen allesamt weltregional ausdifferenziert, wie globalhistorische Fragen etwa nach der Genese (post)kolonialer territorialer Staatlichkeit in Verbindung mit jener unhintergehbar wirkenden visuellen Evidenz von Karten in einem anderen Licht erscheinen. Anregend sind hierbei vor allem jene Beiträge, die den eurozentrischen Bias kartographischer Produktionen problematisieren oder die – umgekehrt – sich Verfahren des „Counter Mapping“ oder eben auch ausgewählten, in westliche Kartographien übertragenen, indigenen Formen kartographischer Raumproduktion widmen.5

Doch damit nicht genug. Ein bemerkenswertes Set an Beiträgen setzt sich mit der Tatsache auseinander, dass Karten an den unterschiedlichsten Stellen Einzug in die historischen Lebenswelten des 20. Jahrhunderts gehalten haben: Thematische Karten zur Visualisierung räumlich-sozialer Ordnungen wie beispielsweise Verteilungskarten von „Rassen“ (Bd. 6.2, S. 1232–1237) oder auch Karten, die im Zusammenhang mit Katastrophenforschung RaumZeit-Korrelationen möglicher Notfallszenarien visuell festzuhalten und zugleich festzuschreiben vermögen (Bd. 6.1, S. 389–393), sind hier ebenso einschlägig wie jene Kartographien, die wie bei Formen des „Community Mapping“ dazu gedacht sind, räumlich-soziale Verhältnisse für die eigenen politischen Ziele sichtbar zu nutzen. Es sind auch kurze Beiträge wie die letztgenannten, ähnlich wie im Übrigen die gut lesbaren Texte zu Literatur und Kartographie (Bd. 6.1, S. 782–787) und zu journalistischer Kartographie (Bd. 6.1, S. 706–720), die zeigen, wie breit das Feld einer historischen Kartographieforschung veranschlagt werden könnte, die tatsächlich den Anschluss an neuere Tendenzen der zeithistorischen Forschung sucht. Andere aktuelle Themen vermisst man jedoch, und so fehlen leider beispielsweise auch Hinweise auf die gerade heutzutage erneut reproduzierten und stets revidierten thematischen Karten zu Flucht- und Migrationsbewegungen sowie zu ihren historischen Vorläufern, die für die Geschichte des 20. Jahrhunderts so prägend waren.

Mehr noch: Gegenüber dem Anspruch, historische Kartographie mit aktueller zeithistorischer Forschung zu verbinden, fällt mancher Beitrag zurück – das sei bei allem Respekt vor der immensen Leistung gesagt. Und es wirkt so, als seien viele Artikel bereits vor Jahren, wenn nicht gar vor mehr als einem guten Jahrzehnt in die Endredaktion gegangen, sodass auch ein nicht unerheblicher Teil der genannten Literatur auf dem Stand der Jahrtausendwende steckengeblieben zu sein scheint. Bedauerlich und nicht zu übersehen ist zudem der Bias vieler Beiträge, der ausgerechnet im Rahmen der Neukonzeption nun doch wieder konventionelleren Fragerastern einer an Institutionen und Personen sowie an rein technischen Entwicklungssträngen festgemachten Kartographiegeschichte verhaftet ist. Ebenso bedauerlich, wenn nicht für hiesige Leserinnen und Leser vielleicht sogar ärgerlich, sind aber auch jene gravierenden Lücken, die sich auf die deutschsprachige Forschung beziehen, die verglichen mit anderen Forschungstraditionen, wie der französischen oder auch der russischen / sowjetischen, ein erstaunliches Mauerblümchendasein fristet. Vergeblich sucht man Hinweise auf die in der zeithistorischen Forschung hierzulande breit geführten Debatten zur Infrastrukturgeschichte und Raumplanung6, in denen Kartographie, obschon selten ausbuchstabiert, dennoch eine erhebliche Rolle spielt – von neueren Forschungen zur NS-Geschichte ganz zu schweigen. Während in Deutschland Ansätze einer Kulturgeschichte des Politischen in Verbindung mit medienhistorischen Ansätzen florieren, ja gerade Fragen der Historischen Bildwissenschaften und der „Visual History“ eine Fülle neuerer Forschungen angestoßen haben, so findet sich dazu im hier vorgestellten Werk keinerlei explizite Bezugnahme – obwohl kartographische Forschungen dafür unmittelbar anschlussfähig wären.

Großprojekten ist zu eigen, dass sie – obschon irgendwann publiziert – nie abgeschlossen werden, und gewiss gilt dies auch für den sechsten Teil der „History of Cartography“. Bei aller Faszination und bei allen Anregungen, die die Lektüre der beiden Teilbände mit sich bringt, wäre es dennoch gut gewesen, wenn die eingangs formulierte Feststellung, dass sich die historische Forschung zu den Kartographien des 20. Jahrhunderts in vieler Hinsicht noch in ihren Anfängen befindet, beim Wort genommen und zugleich wesentlicher expliziter aufgegriffen worden wäre. Dazu gehört es auch, Forschungslücken zu benennen und Desiderate zu markieren. Der Kartographiegeschichte wäre dies insofern zu wünschen gewesen, als sie sich damit in der Tat aus ihrem Nischendasein befreien ließe. So bleibt interessierten Leserinnen und Lesern nur der Blick in zwei handwerklich hervorragend gemachte Bände zu empfehlen, die mit den mehr als 1.000 Abbildungen durchgehend ein großartiges ästhetisches Vergnügen bieten – nicht zuletzt, um sich so ein eigenes Urteil über die Möglichkeiten einer neu zu fassenden Verbindung von zeithistorischer Forschung und Kartographiegeschichte zu bilden.

Anmerkungen:
1 Vgl. John B. Harley, The New Nature of Maps. Essays in the History of Cartography, Baltimore 2002.
2 Ders. / David Woodward (Hrsg.), The History of Cartography, Bd. 1: Cartography in Prehistoric, Ancient, and Medieval Europe and the Mediterranean, Chicago 1987; zit. nach Bd. 6.1, S. XXVIII. (Alle Übersetzungen aus dem Englischen sind von mir, I.S.).
3 The Complete History of Cartography Series, URL: <https://www.geography.wisc.edu/histcart/> (01.08.2016).
4 Siehe dazu auch die Rezension von Jeremy Black, in: Journal of European Studies 45 (2015), S. 371ff.
5 Vgl. etwa Pan Inuit Trails, URL: <http://www.paninuittrails.org/index.html?module=module.about> (01.08.2016).
6 Zu diesem Bereich dominieren in den vorgestellten Bänden eher die Einzelbeiträge etwa zur London Underground Map oder auch zu Autokarten und den dazugehörigen Firmen wie Michelin oder Rand McNally.