C. A. Schall: The Rise and Fall of the Miraculous Welfare Machine

Titel
The Rise and Fall of the Miraculous Welfare Machine. Immigration and Social Democracy in Twentieth-Century Sweden


Autor(en)
Schall, Carly Elizabeth
Erschienen
Anzahl Seiten
XI, 245 S.
Preis
€ 52,51; £ 36.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anna Derksen, Historisches Institut, Universität Leiden

Als Schweden während der sogenannten Flüchtlingskrise im Spätherbst 2015 ankündigte, vorübergehend Grenzkontrollen am Öresund einzuführen, war das Echo im übrigen Europa groß, galt das Land mit seiner generösen Einwanderungspolitik bis dahin doch als ein leuchtendes Beispiel für eine solidarische Willkommenskultur. Der Beschluss der sozialdemokratisch geführten Regierung war daher eine drastische Kehrtwende, die jenseits von Aspekten der Grenzsicherheit auch Fragen zum schwedischen Selbstverständnis als „humanitäre Großmacht“ und zum wohlfahrtsstaatlichen Gesellschaftsmodell an sich aufwirft: Wie kompatibel sind offene Grenzen und großzügige Sozialpolitik? Wie kann der Staat soziale Sicherheit und Kohäsion in einer Gesellschaft gewährleisten, die zunehmend heterogener wird? Und auf welche Weise beeinflussen Faktoren wie Wirtschaft, Arbeitsmarkt, die Medien oder auch gesellschaftliche Werte das Verhältnis zwischen Bürgern und Neuankömmlingen? Diese Bedenken sind keinesfalls neu, aber auch aufgrund von Nachrichten über Segregation und Diskriminierung, der Anti-Einwanderungsrhetorik der „Schwedendemokraten“ und nicht zuletzt dem Anschlag in der Stockholmer Innenstadt weitaus stärker in der öffentlichen Debatte präsent als noch vor wenigen Jahren.

Carly Schalls Dissertation „The Rise and Fall of the Miraculous Welfare Machine. Immigration and Social Democracy in Twentieth-Century Sweden“ nimmt sich dieses Themas aus der historischen Langzeitperspektive an. Im Mittelpunkt steht die Frage, welche Rolle ethnische Homogenität für den Aufbau des schwedischen universellen Wohlfahrtsstaates gespielt hat, und ob dieser durch Einwanderung bedroht wird. Der Untersuchungszeitraum macht dabei einmal mehr deutlich, wie rasch ein Buch von aktuellen Ereignissen eingeholt werden kann. Es orientiert sich an fünf „Krisenperioden“, beginnend mit der berühmten Volksheim-Rede des ehemaligen Ministerpräsidenten Per Albin Hansson im Jahr 1928, und endet mit dem Aufstieg der rechtspopulistischen Schwedendemokraten bei der letzten Wahl im Jahre 2014. Schall identifiziert die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SAP) als zentralen Architekt sowohl der institutionellen Ausgestaltung des Wohlfahrtsstaates als auch seiner Konzeption als Eckpfeiler schwedischer Identität im Sinne von Benedict Andersons „imagined community“.1 Der Reihe von Studien, die sich dem Wohlfahrtsstaat aus sozial- oder wirtschaftswissenschaftlicher Perspektive nähern, fügt sie damit eine bisher wenig beleuchtete kulturelle Komponente hinzu. Neben der sozialdemokratischen Prägung stehen insbesondere drei Werte der schwedischen Volksheimideologie im Mittelpunkt: Gleichheit (jämlikhet), soziale Sicherheit (trygghet) und Wahlfreiheit (valfrihet). In Kombination mit steigender Einwanderung und Diversität können diese laut Schall verschiedene Funktionen erfüllen. Zum einen ein am nationalen Selbstverständnis eines homogenen Staates ausgerichtetes, nach außen hin exkludierendes „bonding“, zum anderen den Versuch, Zugewanderte durch brückenschlagende Strategien („bridging“) in den bestehenden Wohlfahrtsstaat zu integrieren. Wer genau zu dieser „imagined community“ gehörte, und damit Zugang zu öffentlichen Gütern erhielt, war, so Schalls Schlussfolgerung, vor allem dem Agieren politischer und kultureller Eliten geschuldet: „Homogeneity and heterogeneity matter for the welfare state because elites make it matter.“ (S. 13)

Die vergleichende Untersuchung von Schweden als Wohlfahrts- und Einwanderungsland unterteilt sich in zwei Blöcke, die den Aufstieg des universellen Wohlfahrtsstaates vor dem Hintergrund ethnischer Homogenität sowie seinen langsamen Niedergang in Kombination mit wachsender Heterogenität chronologisch anhand der untersuchten Krisenperioden nachzeichnen. Diese beeinflussten, so Schall, zwei verschiedene institutionelle Schließungsprozesse (crises of closure): Immigration als Zugang ins Land (closure-as-entry) und Integration als Zugang zu wohlfahrtsstaatlichen Gütern (closure-as-access to goods). Im ersten Teil, „Homogeneity in the People’s Home“, konzentriert sich Schall auf die Etablierung des schwedischen Volksheims als zentrales Projekt der sozialdemokratischen Partei. Das erste Kapitel untersucht, wie zwischen 1928 und 1932 die Ideologie einer solidarischen Volksgemeinschaft in einem starken Staat konzipiert wurde – durch die Überbrückung von Klassenunterschieden, aber auch rassebiologische Diskurse, die zwischen nordischen und nichtnordischen Einwanderern (Ostbalten, Sami, Finnen und die reisenden „Tattare“) unterschied: „SAP’s desire to be the party of democracy and to build the ‚great People’s Home‘ was enabled by a definition of people linking the inclusiveness of an ethnic nation with the state-guaranteed egalitarianism of a civic nation“ (S. 54). Eine mögliche Bedrohung des sozialen Zusammenhalts im Volksheim durch Kriegsflüchtlinge von 1945 bis 1950 ist Gegenstand des zweiten Kapitels. Schall stellt fest, dass die Frage nach dem potentiellen Integrationserfolg zu zwei Strategien führte, einmal der engen Einbindung nordischer Nachbarn aus einem Gefühl der Verbundenheit und Solidarität heraus sowie der auf Mildtätigkeit basierten, begrenzten Aufnahme nichtnordischer Flüchtlinge.

Nach einer kurzen Zusammenfassung der Hauptargumente und ihrer Verknüpfung zum Wohlfahrtsstaat leitet Schall zum zweiten Teil über, der sich mit der zunehmenden Heterogenität auseinandersetzt. Das dritte Kapitel stellt die Regierung Olof Palmes und seine Fortführung der Volksheimrhetorik in den Vordergrund. Die oben genannten Werte Gleichheit, Sicherheit und Wahlfreiheit werden von Schall präzise als Instrumente der SAP und bestimmende Merkmale schwedischen Selbstverständnisses analysiert und in Beziehung zur neuen Gruppe der Gastarbeiter gesetzt, die eine politische Wandlung verursachten: „In the 1940s, SAP was building a welfare state for Swedes and convincing Swedes that the welfare state was a defining feature of their national character. By the 1970s, SAP was building a welfare state for immigrants, too” (S. 121). Im vierten Kapitel diskutiert Schall den „Zusammenbruch“ der titelgebenden „Wohlfahrtsmaschine“ zwischen 1991 und 1995 vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Rezession, einem starken Anstieg der Flüchtlingszahlen und dem Ende der sozialdemokratischen Hegemonie. Das fünfte und letzte Kapitel untersucht schließlich die drei Wahlen in den Jahren 2006, 2010 und 2014, die einen markanten Aufschwung einwanderungskritischer Stimmen, darunter die Schwedendemokraten, verzeichneten und dadurch auch Reaktionen der etablierten Parteien hervorriefen. Das Fazit bringt Schalls Argumente auf den Punkt. Tatsächliche und von der SAP konzipierte Homogenität habe den Aufbau des Wohlfahrtsstaates stark begünstigt und geprägt, während Heterogenität insbesondere durch nichtnordische Einwanderung strukturelle und ideologische Reformen notwendig machte. Aber auch der Wohlfahrtstaat an sich, unter sozialdemokratischer Führung, habe beeinflusst, wie diese Heterogenität in der schwedischen Gesellschaft wahrgenommen wurde.

Carly Schall ist mit ihrem Werk eine schlüssige und gerade in der aktuellen Debatte um Einwanderungsrechte und Integration wichtige Analyse des schwedischen Wohlfahrtsstaates und seiner vielzitierten Integrationspolitik gelungen, die auch für Historiker und Soziologen mit Fokus auf anderen Ländern interessant sein dürfte. Einen besonderen Stellenwert erhält das Werk durch seine historische Darstellung, die explizit auch kulturelle Werte mit einbezieht. Das von ihr deutlich und nachvollziehbar herausgearbeitete Selbstverständnis einer auf sozialdemokratischen, solidarischen Werten basierenden Gemeinschaft, das Schweden auch nach der weitgehenden Diffusion des Volksheimgedankens prägt, wird von ihr gekonnt mit wichtigen Verschiebungen und Wendepunkten in der Migrationsgeschichte verknüpft. In diesem Sinne bietet das Werk eine wertvolle Ergänzung zu Veröffentlichungen ähnlicher Zielrichtung etwa von Byström und Frohnert2 oder Brochmann und Hagelund.3 Die Fokussierung auf die Hegemonialstellung der SAP ist jedoch sowohl Stärke als auch Schwäche: Obschon Schalls enge Koppelung der SAP als politischer Elite an Volksheim, Wohlfahrtssystem und Einwanderungspolitik logisch und begründet ist, geht sie leider zulasten anderer Akteure und Faktoren. So werden die möglichen Gründe für den Niedergang des universellen Wohlfahrtsstaates gegen Ende des 20. Jahrhunderts auf die Punkte Wirtschaftskrise, gescheiterte Integration sowie Niedergang der SAP reduziert. Schwedens internationale Verflechtungen im Zuge von Globalisierung und Europäisierung bleiben unausgesprochen, ebenso wie sich wandelnde gesellschaftliche Werte (Individualismus, Neoliberalismus) oder die Rolle nichtstaatlicher Akteure. Schall bemüht sich zwar, dieser Elitenzentrierung durch ihre Quellenauswahl entgegenzuwirken. Hier ergibt sich jedoch eine weitere Problematik: Neben Regierungsdokumenten und Parlamentsdebatten basiert ihre Argumentation fast ausschließlich auf der Analyse von vier teilweise als Sprachrohre schwedischer Parteien aktiven Zeitungen4, die anhand zentraler Begrifflichkeiten kodiert wurden. Dies gibt die öffentliche Debatte jedoch nur begrenzt wieder. Berichte und Interviews von Einwanderern selbst, von Arbeitgebern oder Vertretern der öffentlichen Verwaltung wären hier sicherlich bereichernd. Dennoch ist die Veröffentlichung sehr empfehlenswert, wirft sie doch neue Schlaglichter auf das fortdauernd hochaktuelle Thema Migration und inspiriert zu weiteren Forschungen an der Schnittstelle zwischen Wohlfahrtsstaat, nationalem Selbstverständnis und Einwanderung.

Anmerkungen:
1 Benedict Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London 1983.
2 Mikael Byström / Pär Frohnert (Hrsg.), Reaching a State of Hope. Refugees, Immigrants and the Swedish Welfare State, 1930–2000, Lund 2013.
3 Grete Brochmann / Anniken Hagelund (Hrsg.), Immigration Policy and the Scandinavian Welfare State 1945–2010, London 2012.
4 Untersucht wurden 2.321 Artikel und Kolumnen aus Arbetet (bis 2000), Norrländska Social-Demokraten (ab 2000), Dagens Nyheter und Svenska Dagbladet.

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