A. Celano: Aristotle's Ethics and Medieval Philosophy

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Titel
Aristotle's Ethics and Medieval Philosophy. Moral Goodness and Practical Wisdom


Autor(en)
Celano, Anthony J.
Erschienen
Anzahl Seiten
IX, 263 S.
Preis
€ 94,58; £ 64.99; $ 99.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan-Hendryk de Boer, Historisches Institut, Graduiertenkolleg 1919, Universität Duisburg-Essen

Spätestens seit den 1980er-Jahren lässt sich ein wiedererwachtes Interesse an den ethischen Theorien mittelalterlicher Philosophen und Theologen beobachten. Wichtigen Studien wurden von René Antoine Gauthier, Georg Wieland und Jörn Müller vorgelegt1 – und von Anthony Celano, der in seiner jüngsten Studie die ethischen Theorien scholastischer Autoren des 13. Jahrhunderts als Auseinandersetzung mit der ‚Nikomachischen Ethik‘ des Aristoteles untersucht. Eine feste Verankerung in der Forschungsdiskussion resultiert dabei in einem Mangel an Entdeckerfreude, was mitunter zur Reproduktion überkommener Urteile über die mittelalterliche Philosophie führt. Als Höhepunkte der Debatten erscheinen einmal mehr Albertus Magnus und Thomas von Aquin, deren ethische Schriften gegenüber den tastenden Versuchen ihrer Vorgänger einen signifikanten Fortschritt dargestellt hätten. Diese Ausrichtung entspricht den überkommenen Meistererzählungen vom Werden der Hochscholastik, ignoriert jedoch jene Diskussionen des 14. und 15. Jahrhunderts, welche die Forschung mittlerweile als eigenständigen und keinesfalls epigonalen Beitrag entdeckt hat. Bezeichnend ist, dass die beiden abschließend behandelten Kommentare, darunter derjenige des Radulphus Brito, als philosophisch weniger bedeutsam eingeschätzt werden. Dass „the more profound contributions to moral philosophy“ (S. 231) im Spätmittelalter nicht mehr in Ethikkommentaren, sondern in theologischen Schriften zu finden seien, wird man so pauschal kaum aufrechterhalten können. Allein der umfangreiche Ethikkommentar Johannes Buridans weist in eine andere Richtung.

Obwohl eine lateinische Übersetzung der ‚Nikomachischen Ethik‘ seit dem Ende des 12. Jahrhunderts verfügbar war, hielt sie Celano zufolge doch nicht umgehend Einzug in die philosophischen Debatten. Am Beginn des 13. Jahrhunderts seien lediglich die ersten drei Bücher behandelt worden, was bei dem Versuch, Aristoteles richtig zu verstehen, ein fast unüberwindliches Hindernis dargestellt habe. Die ‚Summa aurea‘ Wilhelms von Auxerre und die ‚Summa de bono‘ Philipps des Kanzlers markierten das langsame Eindringen des Aristoteles in die Diskussion moralischer Themen, die in beiden Werken noch vorrangig theologisch geführt worden sei. Die Einführung des Konzepts der „synderesis“ als Fähigkeit, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, erweise sich als Wegmarke einer allmählichen aristotelischen Neuausrichtung der Ethik. Parallel hätten Denker mit einer kommentierenden Durchdringung des Texts der ‚Nikomachischen Ethik‘ begonnen. Die Gattung Kommentar bot die idealen Voraussetzungen dafür, die komplexen Ausführungen des Aristoteles schrittweise zu durchdringen. Verständnis- und Deutungsschwierigkeiten boten sich jedoch zuhauf. Am Beispiel Robert Kilwardbys zeigt Celano, wie die Aussage, alle Dinge erstrebten das Gute, von den frühen lateinischen Kommentatoren sehr wörtlich genommen wurde: Menschen, Tieren und Dingen wurde ein je spezifisches Streben zugeschrieben. Einig waren sich die frühen Kommentatoren mit ihren berühmteren Nachfolgern, dass das aristotelische „summum bonum“ Gott als letztes Objekt menschlichen Verlangens einschließen müsse.

Ausführlich behandelt Celano die ethische Theorie des Albertus Magnus, wobei er mit ‚De bono‘, ‚De natura boni‘ und ‚De homine‘ auch jene früheren Schriften zu ethischen Themen untersucht, in denen sich der Dominikaner der aristotelischen Tugendlehre noch von einem augustinischen Deutungsrahmen aus nähert. Zugleich zeigen sich einige Konstanten: Wie schon in ‚De bono‘ unterscheidet Albert auch später zwei Typen von Glück. Die moralischen Tugenden hält er für vorbereitende Stadien, welche die Leidenschaften beruhigen und so die Kontemplation erst möglich machen. Dementsprechend ist er nicht bestrebt, politisches und kontemplatives Leben zusammenzubringen. Wie ein tugendhafter Mensch die verschiedenen Facetten menschlicher Tätigkeit in sich vereinen soll, stellt für ihn kein Problem dar. Schon in den frühen Schriften trennt Albert philosophische und theologische Erwägungen nicht strikt voneinander, sondern führt etwa die Diskussion, ob die „synderesis“ irren oder sündigen könne, ganz selbstverständlich anhand theologischer Argumente. Seine beiden großangelegten Ethikkommentare, die von der Kenntnis der vollständigen lateinischen Übersetzung profitieren, mühen sich in Celanos Darstellung um die richtige Deutung der aristotelischen Aussagen über das Verhältnis von Tugend und Glück. In der 1262 entstandenen ‚Paraphrase‘ betrachtet Albert Weisheit als Ziel des spekulativen, Klugheit als dasjenige des praktischen Intellekts. Ohne die praktische Vollkommenheit der Klugheit könne das Vermögen des Intellekts zur Rationalität nicht aktualisiert werden. Die moralischen Tugenden seien auf die Klugheit hin geordnet, deren vollkommener Akt Glück sei. Dieses Glück wiederum sei auf die intellektuellen Tugenden hin geordnet, von denen es seine Gewissheit erlange. Ohne Weisheit jedoch sei Seligkeit nicht möglich, weshalb sie höher als die Klugheit stehe.

So sehr sich Thomas von Aquin durch den Ethikkommentar Alberts beeinflusst zeigt, schließt er sich dessen Theorie von den zwei Typen des Glücks nicht an. Moralische und intellektuelle Tugenden bestimmt er als komplementäre Elemente im menschlichen Glück. In den moralischen Themen gewidmeten Quaestiones der ‚Summa theologiae‘ erscheint Aristoteles lediglich als eine Autorität neben anderen. Für die Diskussion der Klugheit etwa ist Augustinus ein ebenso wichtiger Gesprächspartner. Deren Funktion sieht Thomas – ebenso wie Albert – darin, die adäquaten Mittel für das Erlangen der Ziele zu bestimmen, auf welche die moralischen Tugenden das Streben ausrichten. Ohne Klugheit könne es keine handlungsleitende moralische Tugend geben, wie umgekehrt jene nicht ohne diese existieren könne. Das moralische Leben, das von der Klugheit regiert werde, vermöge jedoch nur auf niedere Weise glücklich zu machen, vollkommenes Glück bestehe in der spekulativen Tugend, wie Thomas Aristoteles entnehmen zu können meint. Letztes Ziel des Menschen sei Gott als das höchste Objekt der Kontemplation. Wie in anderen Fragen löst der Dominikaner die Aufgabe, die aristotelische Ethik in einen theologischen Rahmen zu integrieren, indem er zwischen vollkommener und unvollkommener Seligkeit unterscheidet, um der vom heidnischen Philosophen diskutierten Tugend des tätigen Lebens einen, wenn auch hierarchisch niedrigen, Platz innerhalb seiner christlich durchformten Moraltheorie zu gewähren.

Den lesenden Historiker lässt Celanos Ansatz, so kenntnisreich er auch durchgeführt wird, mitunter ratlos zurück. Der Gedanke, die teils sehr umfangreichen Schriften und die verästelte Diskussion nicht in aller Breite aufzufalten, sondern ein Kernproblem in den Mittelpunkt zu stellen, nämlich das Verhältnis von Tugend und Glück, überzeugt nicht allein aus pragmatischen Gründen, sondern auch, weil die mittelalterlichen Autoren hier merklich mit ihrer Vorlage rangen, auf die sie sich in Auseinandersetzung mit ihren Kollegen einen eigenen Reim zu machen suchten. Kommentieren und Interpretieren erweisen sich in dieser Frage also – entgegen manchem Klischee – als dynamisches Geschehen. Irritierend ist jedoch die Entscheidung, der philosophiehistorischen Untersuchung ein vierzigseitiges Kapitel voranzustellen, in dem Celano seine – als die richtige eingeführte – Deutung der moralischen Theorie des Aristoteles vorstellt. Die scheinbar differierenden Ausführungen zur Natur des Glücks im ersten und zehnten Buch der ‚Nikomachischen Ethik‘ seien tatsächlich miteinander vereinbar, wenn man begreife, dass „phronesis“ als vereinheitlichender Faktor eingeführt werde. Als Tugend, die durch deduktives Schließen moralische Entscheidungen ermögliche, verbinde sie alle moralischen Entscheidungen und damit Theorie und Praxis, praktisches und kontemplatives Leben zu einem kohärenten Ganzen, das es allererst erlaube, das Glück als Ziel des Lebens zu erreichen. Seine Aristotelesdeutung macht Celano im Folgenden zum Maßstab, um die Leistungen der mittelalterlichen Autoren zu beurteilen. Wie Celano selbst implizit zeigt, geht es den scholastischen Autoren jedoch nicht vorrangig um eine historisch korrekte Aristotelesinterpretation, sondern um die Formulierung wahrer ethischer Theorien, wozu sie neben der ‚Nikomachischen Ethik‘ zahlreiche weitere antike Philosophen ebenso heranziehen wie die Kirchenväter. Die selbstverständliche Rolle, die der Glauben in den Schriften der untersuchten Denker einnimmt, verweist darauf, dass die Maßstäbe einer gelungenen Aristotelesinterpretation im Mittelalter und in der heutigen Philosophie verschieden sind. Jene herauszuarbeiten, hätte ermöglicht, die ethischen Debatten des Mittelalters aus sich heraus zu verstehen und sie nicht vom Standpunkt der fortschrittsgewissen Moderne zur Frühgeschichte des Werdens einer überhistorischen Wahrheit zu degradieren.

Anmerkung:
1 Verwiesen sei nur auf René Antoine Gauthier, Trois commentaires ‚averroistes‘ sur l’Ethique à Nicomaque, in: Archives d’histoire doctrinale et littéraire du moyen âge 42 (1975), S. 71–141; Georg Wieland, Ethica, scientia practica. Die Anfänge der philosophischen Ethik im 13. Jahrhundert, Münster 1981; Jörn Müller, Natürliche Moral und philosophische Ethik bei Albertus Magnus, Münster 2001.