C. Bonneuil u.a.: The Shock of the Anthropocene

Titel
The Shock of the Anthropocene. The Earth, History and Us


Autor(en)
Bonneuil, Christophe; Fressoz, Jean-Baptiste
Erschienen
London 2016: Verso
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
£ 16.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Heymann, Centre for Science Studies, Aarhus University

Unter dem Namen Anthropozän wird die Benennung einer neuen geochronologischen irdischen Epoche vorgeschlagen. Sie soll das Holozän ablösen und den Zeitabschnitt umfassen, in dem der Mensch zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde geworden ist. Das Konzept des Anthropozäns, das zunächst von Naturwissenschaftlern beschrieben wurde, ist mit einigem Enthusiasmus auch von Geistes- und Sozialwissenschaftlern aufgenommen worden. Zwar bestehen durchaus Zweifel daran, ob das Anthropozän von der International Commission on Stratigraphy als neuer geologischer Zeitabschnitt anerkannt wird. Doch das dürfte nicht entscheidend sein für die Karriere dieses Begriffes, der bereits lebhafte Diskussionen hervorgerufen, eine zunehmend unüberschaubare Zahl von Publikationen hervorgebracht und zur Gründung von neuen, ausdrücklich dem Anthropozän gewidmeten Zeitschriften Anlass gegeben hat. Überdies sind mindestens zwei Dutzend Ausstellungsprojekte in Vorbereitung, die neben anderen Aktivitäten und zahlreichen Medienberichten dazu beitragen, diesen Begriff auch in der weiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen.1

Das Buch der Historiker Christophe Bonneuil und Jean-Baptiste Fressoz ist ein überfälliger Versuch, das Anthropozän-Konzept zu historisieren, kritisch zu hinterfragen, seine Attraktivität wie seine Schwächen zu ermessen und die Rolle der Geistes- und Sozialwissenschaftler in diesem Diskurs zu reflektieren. Bonneuil und Fressoz teilen die Auffassung, dass ökologische Probleme tiefgreifend sind und langfristige Konsequenzen unausweichlich zu sein scheinen. Sie zeigen sich der Idee des Anthropozäns zunächst wohlgesonnen. Das „Anthropocene label […] is an essential tool for understanding what is happening to us“ (S. xi). In den ersten zwei Kapiteln fassen sie die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse zusammen, die zeigen, dass der Mensch zum maßgeblichen Faktor für globale Umweltveränderungen geworden ist – wir leben im Anthropozän, und das seit langem. Nicht nur ist die Menschheit damit in einer gänzlich neuen Situation. Auch unsere Auffassungen und Repräsentationen von der Welt würden damit umgewälzt. Beipflichtend zitieren sie Bruno Latour: Das Anthropozän sei „the most decisive philosophical, religious, anthropological and, as we shall see, political concept yet produced as an alternative to the very notions of ‘Modern’ and ‘modernity’“ (S. 19).2

Umso abrupter trifft den Leser die heftige Kritik am Konzept des Anthropozäns, die die Autoren im dritten und vierten Kapitel leisten. Die Befürworter des Konzepts, Natur- wie Geisteswissenschaftler, werden von hier an nicht ohne ironischen Unterton als „anthropocenologists“ bezeichnet (zu denen sich die Autoren nicht zählen), ihre Interpretation des neuen Erdzeitalters als „grand narrative“ relativiert. Dieses „grand narrative“ offenbart den Autoren zufolge erhebliche Schwächen. Dazu zählen die von den „anthropocenologists“ konstruierten „Stufenmodelle“ (S. 49), in denen beispielsweise die Industrielle Revolution seit etwa 1780 oder die Great Acceleration seit 1945 den Punkt des Eintrittes in das Anthropozän markieren. Diese Stufenmodelle halten sie aus historischer Sicht für „obsolete and excessively teleological” (S. 54).

Unbehagen bereitet den Autoren der übertriebene Fokus auf quantitative Datenreihen, die die Anthrozänologen als eine ihrer wichtigsten Evidenzen ins Feld führen. Dabei entstehe, so Bonneuil und Fressoz, ein Blick aus der Vogelperspektive, der jede geographische und soziale Differenzierung zugunsten aggregierter sozio-ökonomischer Faktoren wie Demographie, Wirtschaftswandel oder Energieverbrauch zum Verschwinden bringe. Historisches Verständnis bleibe auf der Strecke, aussagekräftige Erklärungsmodelle ließen sich nicht aus Datensammlungen ableiten. Naturwissenschaftliche Erkenntnisse und statistische Daten ersetzen nicht Quellenkritik und kritische historische Differenzierung.

Den Mangel an Differenzierung und kritischer Reflexion machen die Autoren besonders deutlich durch die Frage „Who is the Anthropos?“ (Kapitel 4). Allzu schnell sei von der Menschheit als einheitlichem Akteur die Rede. Wer aber ist der Mensch des Anthropozäns? „Is it not eminently diverse, with extremely different responsibilities in the global ecological disturbance?“ (S. 70) Auch stilisierten die Anthropozänologen häufig einen Moment des Erwachens, um dann die Menschheit in zwei Kategorien einzuteilen: einerseits die „uninformierte Masse der Weltbevölkerung”, die noch gar nicht begriffen habe, dass sie zu einem „geological agent” geworden sei; anderseits eine „schmale Elite von Wissenschaftlern, die die dramatische und unsichere Zukunft des Planeten” offenbare (S. 65). Diesen Führungsanspruch der wissenschaftlichen Elite ziehen die Autoren gründlich in Zweifel.

Die Kritik von Bonneuil und Fressoz richtet sich aber nicht nur an Naturwissenschaftler, sondern insbesondere an die Geistes- und Sozialwissenschaften. Sie sind geradezu verwundert darüber, dass viele Geistes- und Sozialwissenschaftler, „in their desire to contribute to the official narrative of the Anthropocene“ (S. 67), sich so vorbehaltlos den Daten, Perspektiven und historischen Deutungen der Naturwissenschaftler angeschlossen haben3. „Now it is the sciences of the Earth system, and no longer historians, who name the epoch in which we are living.” (S. 66) Das Anthropozän wird als ein attraktives Konzept gesehen, um die umfassenden Umweltveränderungen durch den Menschen zu beschreiben. Doch die Ergebnisse jahrzehntelanger geistes- und sozialwissenschaftlicher Forschung und Differenzierung, die etwa die Rolle von Ideologien und Herrschaftsmechanismen analysiert und sichtbar gemacht haben, gerieten den Autoren nach damit ins Hintertreffen.4

Im Gegenzug bieten Bonneuil und Fressoz eine eigene Historisierung der Anthropozänologen und des hegemonialen Anspruchs ihrer „neuen Kosmographie“ (S. 48) an. Diese sei dem „scientific imaginary” des Kalten Kriegs verhaftet (S. 60). Computermodelle, Kriegsspiele und strategische Machtphantasien, so vermuten sie, bilden den ideologischen Urgrund für die Idee des Anthropozäns. Der radikal allumfassende Anspruch des Begriffs Anthropozän gleiche dem vielfach beschriebenen und interpretierten Blick vom Weltraum aus auf die kleine Erde und biete wie dieser nur „a radically simplistic interpretation of the world” (S. 62).

Dass die naturwissenschaftlichen Methoden in der Erforschung des Anthropozäns Priorität haben sollten, halten die Autoren für nicht akzeptabel. Sie erklären das Konzept des Anthropozäns nicht als untauglich, sondern wollen es sich als Historiker aneignen, geistes- und sozialwissenschaftliche Perspektiven an die erste Stelle setzen und so dazu beitragen, den Diskurs zu repolitisieren.5 Das Konzept des Anthropozän sei wichtig, um die „nutzlose Unterscheidung“ zwischen Moderne und Reflexiver Moderne aufzuheben. Es zwinge uns nämlich, die Gegenwart als einen „culminating point of a history of destructions” (S. 170) zu verstehen, dem eine lange Tradition der Reflektion gesellschaftlicher Naturverhältnisse vorausgeht. Jene, die das Narrativ eines ökologischen Erwachens vertreten, würden die Reflexivität vergangener Gesellschaften ignorieren und damit die lange Geschichte des Anthropozäns depolitisieren.

Der Rest des Buches (Part III, Kapitel 5–11) steht für das Bemühen, sich dem Anthropozän in seiner historischen Komplexität als Historiker anzunehmen und eine Vielzahl von Narrativen des Anthropozäns als „explanatory perspectives“ zu entwickeln. Dafür verwenden sie „somewhat barbarous neologisms“, von denen nicht ganz klar ist, ob diese ernst gemeint sind und die Vielfalt relevanter Perspektiven betonen sollen, oder sie (vielleicht gleichzeitig) dazu dienen, die Mode der Neologismen zu ironisieren.6 Dazu zählen Perspektiven der Energiegeschichte und Kohlendioxidemissionen („Thermocene“, Kapitel 5), Militärgeschichte und Umweltzerstörung („Thanatocene“, Kapitel 6) und der Entwicklung der Konsumgesellschaft („Phagocene“, Kapitel 7). Die Geschichtswissenschaft habe die Aufgabe, die historisch entwickelten „grammars of environmental reflexivity“ wiederherzustellen, die teilweise viele Jahrhunderte zurückreichen („Phronocene“, Kapitel 8). Darunter verstehen die Autoren – Latour folgend – Konzepte des Mensch-Umwelt-Verhältnisses, die noch nicht die Externalisierung von Natur und die erst im 19. und 20. Jahrhundert entstandene kategorische Dualität von Natur und Kultur beinhalteten.7 Diese Externalisierung habe eine kulturelle Blindheit („Agnotocene“, Kapitel 9) sowie den Höhenflug des Kapitalismus und die mit diesem verknüpften Technostrukturen („Capitalocene“, Kapitel 10) erst möglich gemacht. „It is this profit-oriented technostructure that swung the Earth system into the Anthropocene.“ (S. 222)

Der Begriff des Anthropozäns – und das macht dieses Buch deutlich – ist ein politischer Begriff, der Aufmerksamkeiten weckt und lenkt (und als solcher auch von Paul Crutzen ins Spiel gebracht wurde). Als wissenschaftlicher Begriff hat er per se nur begrenzten analytischen Wert. Dieser entsteht eher aus der kritischen Auseinandersetzung mit ihm. Dafür ist das vorliegende Buch ein Beispiel. Den Autoren ist ein wichtiger Beitrag zur Debatte um das Anthropozän gelungen. Der Stil und die Sprache (vielleicht auch die direkte Übertragung ins Englische) machen die Lesearbeit vor allem im ersten Teil des Buches zuweilen anstrengend. Aber der Aufwand lohnt sich. Wer sich für die Rolle der Geisteswissenschaften im Ringen um ein Verständnis globaler Umweltveränderungen und die Diskurse um das Anthropozän interessiert, dem sei das Buch dringend empfohlen.

Anmerkungen:
1 Helmuth Trischler, The Anthropocene: A Challenge for the History of Science, Technology, and the Environment, in: N.T.M. 24 (2016), S. 309–335. Neugegründete Zeitschriften sind: The Anthropocene Review (geistes-und sozialwissenschaftliche Perspektiven, Verlag Sage Publications) und Elementa: Science of the Anthropocene (Naturwissenschaften, Verlag BioOne, ab Januar 2017 University of California Press).
2 Bruno Latour, Facing Gaia: Six lexture on the political theology of nature, Gifford Lectures 2013, http://afterxnature.blogspot.dk/2013/03/pdf-of-latours-gifford-lectures.html (16.10.2016), S. 77.
3 Z.B. stützen sich die Historiker John R. McNeill und Peter Engelke in ihrer Umweltgeschichte des Anthropozäns seit 1945 über weite Strecken überwiegend auf naturwissenschaftliche Literatur. John McNeill und Peter Engelke, The Great Acceleration. An Environmental History of the Anthropocene since 1945. Cambridge, Mass. 2014.
4 So auch Andreas Malm und Alf Hornborg, The Geology of Mankind? A Critique of the Anthropocene Narrative, in: The Anthropocene Review 1 (2014), S. 62–69.
5 Z.B. Charles Tung, Baddest Modernism: The Scales and Lines of Inhuman Time, in: Modernism/modernity 23 (9/2016), S. 515–538; Ian Baucom, History 4°: Postcolonial Method and Anthropocene Time, in: Cambridge Journal of Postcolonial Literary Inquiry 1 (3/2014), S. 123–42.
6 André Micoud, Entry into the Anthropocene (2014), http://www.metropolitiques.eu/Entry-into-the-Anthropocene.html (31.10.2016). Derartige Neologismen haben eine gewisse (zweifelhafte) Konjunktur. Z.B. Donna Haraway, Anthropocene, Capitalocene, Plantationocene, Chthulucene: Making Kin, in: Environmental Humanities 6 (2015), S. 159–165; Jason W. Moore (Hrsg.), Anthropocene or Capitalocene? Nature, History, and the Crisis of Capitalism, Oakland 2016; Gregory T. Cushman / Zachary Caple (Hrsg.), Phosphorus and the Opening of the Plantationocene, in: RCC Perspectives 2016, No. 5, München (im Erscheinen).
7 Bruno Latour, We have Never Been Modern, Cambridge, Mass. 1993.

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