Cover
Titel
History, Frankish Identity and the Framing of Western Ethnicity, 550–850.


Autor(en)
Reimitz, Helmut
Reihe
Cambridge Studies in Medieval Life and Thought. Fourth Series 101
Erschienen
Anzahl Seiten
xiv, 511 S.
Preis
€ 130,96
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alheydis Plassmann, Historisches Seminar, Rheinische-Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Für das Frühmittelalter ist die Frage nach den gentes und ihrer Identität ein zentrales Thema. Die vielfältigen Verschiebungen, aber auch Traditionslinien, die im Prozess der „Transformation of the Roman World“ zum Tragen kamen, wurden immer an der Deutung der gentes, der frühmittelalterlichen „Völker“, entlang interpretiert. Wer die gentes als germanisch-barbarisch in der Identität betrachtete, brachte die Zeit mit dem Titel „invasion des barbares“ auf den Punkt, wer die „germanischen“ gentes als innovativ betrachtete, sprach von einer germanisch-romanischen Synthese.1 Solche einfach gestrickten Erklärungsmuster sind heute zu Recht aus der Mode gekommen, zumal seit den bahnbrechenden Forschungen von Reinhard Wenskus und in seiner Differenzierung durch die Wiener Schule, Herwig Wolfram und seine Schüler sowie in nächster Generation durch Walter Pohl und dessen Umfeld immer wieder darauf hingewiesen worden ist, wie fließend Identität zu verstehen ist und wie sehr sie Objekt zum Teil bewusster, zum Teil unbewusster Stiftung ist. Die Arbeit des in Princeton tätigen Helmut Reimitz ist in diesem Forschungskomplex zu verorten. Die Anbindung der Wiener an die internationale Frühmittelalterforschung äußert sich auch in der Wahl der Sprache für die Veröffentlichung, die immer häufiger das Englische ist. Für die Veröffentlichung auf Englisch müssen Nicht-Muttersprachler in manchen Fällen möglicherweise auf das letzte i-Tüpfelchen in der Genauigkeit der Formulierung verzichten, gewinnen aber ein weitaus größeres Publikum für die Rezeption ihrer Ergebnisse. Bedauerlich ist allerdings, wenn dann Teile nichtenglischer Forschung ignoriert werden, weil das englischsprachige Zielpublikum sie wahrscheinlich nicht kennt, wie z.B. das zwar erwähnte, aber an den entscheidenden Stellen nicht herangezogene Buch von Magali Coumert.2

Helmut Reimitz hat sich vorgenommen, den Konstituierungen von fränkischen Identitäten im Frankenreich zwischen 550 und 850 nachzuspüren, und begreift Identitätsstiftung, die in den allermeisten Fällen in den herangezogenen Quellen implizit erfolgt, als einen Diskurs, der zwischen den Autoren der Texte erfolgt und der im Zweifel einer bestimmten politischen Agenda zuzuordnen ist. Für die Frage nach der fränkischen Identität zieht Reimitz vor allem, aber nicht ausschließlich historiographische Quellen heran. Dass Quellen wie Gregor von Tours‘ „Zehn Bücher Geschichte“, Fredegars Chronik oder der Liber Historiae Francorum den meisten Platz beanspruchen, ergibt sich aus ihrer zentralen Stellung für die Frage nach fränkischen Identitäten, aber auch Quellen, die für die Fragestellung nur wenig hergeben, wie etwa die Metzer Bischofsgesten des Paulus Diaconus, werden behandelt. Als Kenner der Handschriftentraditionen widmet sich Helmut Reimitz auch immer wieder der Frage, wie Auslassungen, Übernahmen, Bearbeitungen in späteren Versionen den Wandel des Identitätsverständnisses widerspiegeln. Dieser Komplex ist etwa bei der Frage nach der 6- und 10-Bücher-Version Gregors von erheblicher Bedeutung, aber auch für die karolingische Zeit, die vor allem durch Neu- und Überarbeitungen fränkischer Geschichte(n) geprägt ist. Etwas gewöhnungsbedürftig ist die Tatsache, dass gelegentlich eine Einschätzung zur Verortung eines Autors nicht unmittelbar nach Einführung der Quelle erfolgt (so etwa S. 174–176 zu Fredegar, mit dem auf S. 166 begonnen wird; S. 251–258 zum Autor des Liber Historiae Francorum, während das Kapitel auf S. 240 beginnt).

Gregor von Tours wird in drei Kapiteln (S. 25–73) behandelt und wird von Reimitz in Anlehnung an die wichtige Studie von Martin Heinzelmann3 als „cultural broker“ (S. 27) verstanden, der die Hirtenpflichten der Bischöfe in den von Reimitz explizit und nicht nur in diesem Kapitel als deutsches Fremdwort genannten „Spielräumen“ der historisch überlieferten Personen wie etwa Chilperich und Prätextatus propagiert und die fränkische Identität gegenüber diesem Idealbild bischöflicher Verantwortung vernachlässigt und sogar aktiv in ihrer Bedeutung herunterspielt. In zwei weiteren Kapiteln (S. 74–123) legt Reimitz weitere, etwa bei Venantius Fortunatus zu findende fränkische Identitäten dar, gegen die Gregor angeschrieben habe, ein Schluss, der angesichts der Tatsache, dass es sich beim Dialog der widerstreitenden Identitäten um einen von Reimitz aus impliziten Andeutungen erschlossenen handelt, vielleicht etwas weit reicht. Meines Erachtens reichen die Quellenbelege allein für den Nachweis unterschiedlicher Identitätsvorstellungen, ohne dass wirklich unterstellt werden kann, dass diese von den jeweiligen Autoren als sich ausschließende Alternativen begriffen worden wären. Dafür müsste doch ein genauerer Zusammenhang zwischen den Quellen gerade in Bezug auf die zentralen Stellen zur Identität belegt werden.

Im Fall von Fredegar, dem ein einziges, dafür langes Kapitel gewidmet ist (S. 166–239), kann man eine Kenntnis von Gregors 6-Bücher-Version, aber wohl auch eine Anknüpfung der Franken an eine römische Trojatradition annehmen. Reimitz sieht in Fredegars Chronik eine Aufwertung einer gesamtfränkischen Identität, die im Gegensatz zu Gregor die Franken als Entscheidungsträger im merowingischen Reich hervorheben soll und sich gut in die nicht mehr nur königlich geprägte, „konsensuale“ Herrschaft der fränkischen Großen, insbesondere der Hausmeier einpasst.

Im Gegensatz zu Gregor und Fredegar hebt der Liber Historiae Francorum (S. 240–281) nicht auf die Entscheidungsträger ab, sondern sieht die Franken als auserwähltes Volk, das in die Heilsgeschichte eingepasst wird. Mit immerhin fast 300 Seiten (bis S. 292) bestreitet Helmut Reimitz mit diesen zentralen historiographischen Quellen der Merowingerzeit den Hauptteil des Buches. Mit seinen Ergebnissen kann die Rezensentin kaum ins Gericht gehen, da sie gerade zu Fredegar und dem Liber in weiten Teilen mit eigenen publizierten Überlegungen übereinstimmen4, was indes von Helmut Reimitz nicht vermerkt wird.

Im Anschluss wendet sich Helmut Reimitz den karolingischen Traditionen zu und konstatiert für die Fortsetzung des Fredegar und weitere Quellen vor Karl dem Großen einen Rückbezug auf die Betonung der Rolle der Großen und der Entscheidungsträger, die dem frühkarolingischen Verständnis von Zusammenarbeit von Hausmeiern/Königen und Adel entgegenkam (S. 295–334).

Die Vergrößerung des karolingischen Herrschaftsbereiches und die Kaiserkrönung Karls erforderten eine stärkere ideelle Anbindung der fränkischen Identität, die damit erreicht wurde, dass sich die Identität der Franken nun zu einer allgemeinen christlichen Identität ausweitete, eine Entwicklung, die indes bei herrscherkritischen Quellen bezeichnenderweise nicht zu finden ist (S. 335–409).

Die Krise des Reiches unter Ludwig dem Frommen, die mit dem Ende der Reichsannalen zusammenfällt, führte zu einer Krise der fränkischen Identität, die Reimitz zum Ende noch anhand der Annales Bertiniani ausführt (S. 411–440), ehe er mit einem Ausblick auf die kapetingische Verwendung der fränkischen Identität und einer Gesamtzusammenfassung schließt (S. 440–455).

Wenn Forscher aus einer deutschen Tradition auf Englisch veröffentlichen, findet sich oftmals das Beste aus beiden Traditionen: ein konsequenter Zugang zum Thema aus den Quellen mit Blick auf das Wesentliche ohne allzu hochgelehrte Ausschweifungen, wie man es aus dem englischsprachigen Raum kennt, und gleichzeitig eine sorgfältige Abwägung der Forschungstradition und Einbettung der eigenen Ergebnisse in bereits Geleistetes, wie es in deutschsprachigen Veröffentlichungen (gelegentlich im Übermaß) geschieht. Helmut Reimitz hat sich zumeist der englischsprachigen Tradition angeschlossen, wie bei den Anmerkungen, in denen häufig nur auf die Quellen verwiesen und Literatur – hauptsächlich englischsprachige oder Werke aus dem Umfeld der Wiener Schule – nur kursorisch genannt wird, zu sehen ist. Leserinnen und Leser werden so zwar anschaulich durch ein hochkomplexes Thema geführt, für eine Einbettung in bereits formulierte Ergebnisse müssen sie jedoch anderswo fündig werden.

Anmerkungen:
1 Die Forschungsgeschichte zum Problem der „Barbaren“, der „Germanen“ und zur frühmittelalterlichen Ethnogenese der Völker ist instruktiv aufgearbeitet in Patrick Geary, Europäische Völker im frühen Mittelalter. Zur Legende vom Werden der Nationen, Frankfurt am Main 2002.
2 Magali Coumert, Origines des peuples. Les récits du Haut Moyen Âge occidental (550–850), Paris 2007, S. 267–380.
3 Martin Heinzelmann, Gregor von Tours (538–594). „Zehn Bücher Geschichte“: Historiographie und Geschichtskonzept im 6. Jahrhundert, Darmstadt 1994.
4 Alheydis Plassmann, Origo gentis. Identitäts- und Legitimitätsstiftung in früh- und hochmittelalterlichen Herkunftserzählungen, Berlin 2006, S. 116–190.

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