A. Mariss: A world of new things

Cover
Titel
"A world of new things". Praktiken der Naturgeschichte bei Johann Reinhold Forster


Autor(en)
Mariss, Anne
Reihe
Campus Historische Studien 72
Erschienen
Frankfurt 2015: Campus Verlag
Anzahl Seiten
459 S.
Preis
€ 56,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tobias Winnerling, Institut für Geschichtswissenschaften, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Der Naturforscher und Polyhistor Johann Reinhold Forster (1729–1798) steht eigentlich immer im Schatten seines ungleich bekannteren Sohnes Georg Forster (1754–1794) – und es ist ein Verdienst der vorliegenden Studie, dass sie sich zwar um die Figur des Vaters herum aufbaut, ihn aber bewusst nicht ins Licht zu rücken versucht. Obwohl an der Person des älteren Forster aufgehängt, soll hier keine Personengeschichte geschrieben werden, sondern Wissenschaftsgeschichte im Sinn der Handlungszusammenhänge und Strukturen, die im 18. Jahrhundert das Hervortreten bestimmter Praktiken als wissenschaftliche bedingten. Im Fokus stehen also die Räume, Personen und Ideen, in und zwischen denen Johann Reinhold Forster als „zwar kein gewöhnlicher, aber ein ‚typischer‘ Gelehrter der Aufklärung“ (S. 359) sein Leben und Werk aufzubauen und aufrecht zu erhalten suchte.

Der naturhistorische Schwerpunkt der Untersuchung ergibt sich einerseits aus Forsters Selbstzuordnung zu dieser Richtung wissenschaftlichen Forschens im 18. Jahrhundert und andererseits aus der besonderen Konstellation, in der Forster sich als solcher befand. Als Autodidakt im Fach (eigentlich hatte er Theologie studiert und zunächst eine Pfarrstelle in Nassenhuben bei Danzig innegehabt), Teilnehmer an James Cooks zweiter Weltumsegelung in den Jahren 1772 bis 1775 und Professor der Naturgeschichte in Halle von 1780 bis 1798 war er in alle Kontexte eingebettet, in denen sich naturhistorisches Forschen im 18. Jahrhundert abspielen konnte, vom Bücherstudium über das eigenhändige Pflanzensammeln in der Südsee bis zur Vorlesung im Hörsaal. Der exemplarische Zugriff über eine Person erlaubt es der Autorin, die ganze Bandbreite naturhistorischer und gelehrter Praktiken zu demonstrieren, die nötig waren, um das Feld der Naturgeschichte aufzuspannen, und damit zugleich von diesem Feld ermöglicht wurden.

Nach einer kurzen biographischen Einführung, die neben der historischen Kontextualisierung vor allem der Verdeutlichung von Forsters hervorstechenden Persönlichkeitsmerkmalen dient – er sei unter anderem jähzornig, rechthaberisch und leicht beleidigt gewesen, was ihm im Verlauf seiner Karriere einige Schwierigkeiten bereitete – folgen drei Großkapitel, die jeweils der Stellung der Naturgeschichte im 18. Jahrhundert (Kap. 3), naturhistorischen Praktiken auf Weltreisen (Kap. 4) sowie der Universität als Wissensraum (Kap. 5) gewidmet sind. Ein Fazit beschließt den Band, die jeweiligen Kapitel verfügen über einzelne Zwischenfazite und gewinnen damit eine große Eigenständigkeit. Trotz des chronologischen Aufbaus entlang Forsters Lebenslaufs ist so eine selektive, systematisch operierende Lektüre möglich und wird durch das gute Register geschickt unterstützt.

Das vierte Kapitel über naturhistorische Praktiken auf Weltreisen, das die Teilnahme Forsters (und seines Sohnes) an der Weltreise Cooks in den Mittelpunkt rückt, bildet dabei den klaren Schwerpunkt der Untersuchung, ist es doch fast so lang wie die beiden anderen zusammen. Einerseits ist das ein Ergebnis der zu diesem Punkt besonders guten Quellenlage, andererseits aber sicher auch der Faszinationskraft des Themas geschuldet. Nicht nur für die Forscherin, auch für den Leser ist es spannender, Forster beim Bäumefällen auf Neuseeland über die Schulter zu schauen als beim Dozieren in Halle. Anhand dieses Kapitels lassen sich auch die beiden großen Thesen, die Anne Mariss entwirft, am besten verdeutlichen.

Das ist zum einen die Betonung der Kontingenz und Prekarität nicht nur der Existenz des einzelnen Naturforschers, sondern auch der übergreifenden Entwicklung der Wissenschaft(en), die diese betrieb(en). Johann Reinhold Forster war zeitlebens – und bis 1780 vergeblich – auf der Suche nach einer halbwegs auskömmlich dotierten Dauerstelle, die es ihm ermöglichen würde, nicht nur seine Forschungen zu betreiben, sondern auch seine Familie ernähren zu können. Die Weltreise mit Cook stellte eine einmalige Chance dar, dieses biographische Endziel zu erreichen, und Forster versuchte, wie die Autorin deutlich machen kann, alles ihm Mögliche, um sie optimal zu nutzen. Hierbei bediente er sich der Praktiken der Naturgeschichte: Er sammelte Spezimen von Pflanzen, Tieren, Mineralien und indigenen Kulturprodukten; er konservierte, analysierte und beschrieb sie; er entwickelte darauf basierend Theoreme und Publikationen, und er kommunizierte diese Leistungen dem interessierten Publikum. Alle diese Tätigkeiten und ihre Ergebnisse waren stets zufallsbehaftet und gefährdet. Ob sich interessante Spezimen – Curiosa – finden und bergen ließen, hing von äußeren Umständen ab; genauso, ob aus der Fülle des Unbekannten die richtige Auswahl getroffen wurde; und ob die Stücke überhaupt konserviert werden konnten und nicht verdarben, verschimmelten, verrotten, zerfielen oder ihre Farbe verloren, ebenfalls. Ob die entwickelten Theorien im gelehrten Diskurs Anklang fanden, hing nicht nur von ihrer wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit ab, sondern auch von ganz subjektiven Faktoren, ebenso wie die Kommunikation darüber. Und ob durch geschickte Verkaufs-, Geschenk-, Widmungs- und Patronagenutzung der Lebensunterhalt gesichert werden konnte, war dem Wettbewerb der Forscher untereinander und Schwankungen der sowohl kommerziellen wie ideellen Märkte für all diese Güter unterworfen. Sowohl die persönliche Existenz des Gelehrten als auch die der Disziplin(en), die er betrieb, stellen sich also nicht als Ergebnis einer notwendigen Weiter- und Höherentwicklung mit verstreichender Zeit dar, sondern als Produkte volatiler Konstellationen von Ereignissen und Interessen.

Zum Anderen stellt die Autorin die Entwicklung und Leistungen der Naturgeschichte des 18. Jahrhunderts deutlich im Zusammenhang einer spezifischen solchen Konstellation dar: der europäischen Expansion und ihrer kolonialen und imperialistischen Bestrebungen. Sie sind „Teil einer in der Frühen Neuzeit einsetzenden globalen ‚Bioprospektion‘“ (S. 193), durch die die natürlichen Ressourcen der Welt für Europa zur Nutzung und Ausbeutung zur Verfügung gestellt werden sollten. Nicht nur die Expeditionen, die den Globus auf der Suche nach nützlichem Wissen durchstreiften, sondern auch die einzelnen Forscher, die dieses Wissen herstellten, und die Universitäten als Institutionen, die es systematisch verbreiteten, waren dabei Teil dieses Unternehmens. Aus Forsters noch vor der Cook-Reise liegendem Forschungsaufenthalt an der Wolga wie auch seinen späteren Vorlesungen und Arbeiten in Halle lässt sich dabei zeigen, dass auch ‚nicht-imperiale‘ Akteure bewusst von einer kameralistischen Nützlichkeitsperspektive aus in diese Zusammenhänge eingebunden wurden. Obwohl die Autorin immer wieder betont, dass indigene Akteure und lokale Gegebenheiten einen großen Einfluss auf die Möglichkeit und Abläufe der Wissensproduktion hatten, dass sowohl kanarische wie tahitische Insulaner, Matrosen und Seeleute sowie Zufallsbekanntschaften unabdingbar waren, um zum Erfolg zu führen, stellt sie jedoch zu wenig heraus, dass die treibenden Kräfte wie hauptsächlichen Nutznießer des Prozesses in dieser Konstellation doch immer die Europäer der oberen gesellschaftlichen Schichten waren – zu denen die Gelehrten gehören wollten.

Nun sind beide Thesen zwar nicht umstürzend neu, werden aber an einem prägnanten Beispiel in einer quellennahen und kontextsatten Untersuchung pointiert herausgearbeitet. Dass dabei nicht alle in Frage kommenden Aspekte gleichermaßen berücksichtigt werden konnten, ist verständlich, entweder aus Mangel an Quellen oder als Schwerpunktsetzung. So erfährt Forsters Korrespondenznetzwerk nur eine sehr partielle Untersuchung, dort, wo es bekannte Personen wie etwa Carl von Linné (1707–1778) beinhaltet oder zur Sprache kommen lässt. Auch sein Familien- und Sozialleben wird nur sporadisch in den Blick genommen, wenn es um sein (Arbeits-)Verhältnis zu seinem Sohn Georg geht. Hier wäre es aus Sicht des Rezensenten wünschenswert gewesen, die Analysekategorien noch zu erweitern, denn so besteht die Gefahr, trotz aller Kritik an einer positivistischen Wissenschaftsgeschichte einige ihrer Leitmotive implizit weiter zu tradieren. Vielleicht gehörte es zur Persönlichkeit Johann Reinhold Forsters, dass er sich über seine wissenschaftlichen Tätigkeiten definierte und andere alltägliche Einbettungen in Leben und Gesellschaft daher nur peripher waren. Vielleicht tradiert sich so aber auch das Bild vom mönchischen Wahrheitssuchenden weiter, der nur für die Erkenntnis lebt (wenn die Welt ihn denn ließe). Trotz der Herausarbeitung der vielfachen Kontingenzen und der Absage an positivistische Fortschrittskonzepte der Wissensentwicklung bleibt so ‚die Wissenschaft‘ als eine separate, eigengesetzliche Sphäre europäischer Lebenswelten weiterhin ein implizites Grundkonzept der Studie. Um die Narrative der Wissenschaftsgeschichte vollends aufzubrechen, würde vielleicht auch die Untersuchung des Fallbeispiels nicht nur als typischer Gelehrter, sondern auch als gewöhnlicher Mensch nötig sein.

Aber alles kann von einem Buch nicht verlangt und erst recht nicht geleistet werden. Dass Anne Mariss nicht nur die Naturgeschichte des 18. Jahrhunderts in ihren Praktiken und ihrer Verwobenheit mit Europas Ausgreifen auf die Welt erkennbar macht, sondern auch anhand von Johann Reinhold Forster exemplarisch die Fragilität wissenschaftlichen Fortschritts darstellt, ohne eine Biographie zu schreiben, verdient daher vor allem großes Lob – besonders, wenn man dabei lernt, dass zur Bioprospektion auch Blüten aus Bäumen geschossen wurden.