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Titel
Kriegsland im Osten. Eroberung, Kolonisierung und Militärherrschaft im Ersten Weltkrieg


Autor(en)
Liulevicius, Vejas Gabriel
Erschienen
Anzahl Seiten
374 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Steffen Bruendel, Gemeinnützige Hertie-Stiftung, Frankfurt am Main

Vom Ostfronterlebnis des Ersten zum Vernichtungskrieg des Zweiten Weltkriegs? Dies ist, zugespitzt formuliert, die Frage, die Vejas Gabriel Liulevicius in seiner Studie über die deutsche Militärherrschaft in Osteuropa aufwirft. Bis heute konzentrieren sich Historiker zumeist auf die Westfront.1 Die Kämpfe im Osten werden dagegen wenig beachtet, und selbst der Siegfrieden von Brest-Litowsk ist weitgehend vergessen.2 Liulevicius, 1966 in Chicago geboren und gegenwärtig Associate Professor an der University of Tennessee, kritisiert die „Vernachlässigung der Ostfront“ in der Forschung und richtet sein Erkenntnisinteresse auf die Frage, „welche Bedeutung das Erlebnis an der Ostfront für die Masse der einfachen Soldaten hatte, und welche kulturellen Auswirkungen es zeitigte“ (S. 12f.). Quellengrundlage seiner mentalitätsgeschichtlichen Studie, die im Jahre 2000 erschienen ist und seit Ende 2002 auf Deutsch vorliegt, sind offizielle Dokumente und private Aufzeichnungen, die er im Bundesarchiv/Militärarchiv und in litauischen Archiven ausgewertet hat, sowie Erinnerungen und Romane von Kriegsteilnehmern. Dem deutschen Blick ‚von oben’ möchte er gestützt auf litauische Quellen den ‚Blick von unten’ auf die Besatzungsherrschaft gegenüberstellen (S. 15f.). Nach einer – äußerst knappen –Vorbemerkung zu Methodik und Quellen (S. 7-8) und einer Einleitung (S. 9-21) folgen sechs etwa gleichlange Kapitel, in denen Liulevicius die Eindrücke der Deutschen bei ihrem Vormarsch im Osten (S. 22-71), die „militärische Utopie“ des Oberkommandos Ost (S. 72-115), die Verkehrs- und Kulturpolitik (S. 116-142; S. 143-188), sowie das „deutsche Bild vom Osten“ (S. 189-216) und die Krise des Besatzungsregimes (S. 217-277) beschreibt. Die beiden letzten Kapitel sind dem Einsatz der Freikorps 1918/19 (S. 278-300) sowie den mentalitätsgeschichtlichen Folgen des deutschen Ostfronterlebnisses (S. 301-336) gewidmet. In einer kurzen Schlussbemerkung (S. 337-340) fasst Liulevicius seine Ergebnisse noch einmal zusammen.

1. Volk ohne Raum im Land ohne Leute – das Ostfronterlebnis als verborgenes Vermächtnis der Deutschen?
Die deutschen Soldaten eroberten ein ihnen unbekanntes Land. Schon die Verschiedenheit von Flora und Fauna beeindruckte sie und insbesondere die russische „Endlosigkeit“, diese „gewaltige, rätselhafte Weite“ (S. 35, 41f.). Hinzu kam die irritierende Patchwork-Identität der Einwohner, die ganz unterschiedlichen Völkern, Kulturen und Religionen angehörten.3 Unbegreiflich war den Besatzern die Passivität der einheimischen Bevölkerung, die offenbar nie versucht hatte, das unwirtliche Land zu kultivieren.4 Liulevicius’ Stärke liegt in seiner impressionistischen Schilderung der Eindrücke, die die deutschen Soldaten beim Vormarsch gen Osten erhielten. Es war ein „Wirrwarr aus menschlichem Leid, Schmutz und Krankheit“ (S. 17), das Mitleid wie Abscheu hervorrief. Das Kriegsland im Osten war nicht nur unbekannt, sondern auch befremdlich. Sich in einem „Unland“ zu befinden und von „Unkultur“ umgeben zu sein, war die vorherrschende Meinung (S. 44f.). Das Prinzip der verbrannten Erde, das die zaristischen Truppen beim Rückzug anwendeten, verstärkte den Eindruck allgemeiner Kulturlosigkeit noch und festigte die Überzeugung von einem Kulturgefälle nach Osten (S. 29f.). Die vorgefundene Rückständigkeit ließ den Vormarsch zugleich wie eine Reise in die Vergangenheit wirken (S. 42). War schon in Schule und Universität vermittelt worden, die Deutschen seien seit der „Ostkolonisation“ durch die Deutschordensritter dazu berufen, das Land im Osten auf eine höhere Kulturstufe zu heben, wirkte die Eroberung vormoderner Länder auf die Soldaten wie eine Wiederholung der Geschichte (S. 60). Dementsprechend war die Benennung des ersten großen Sieges an der Ostfront nach dem Ort Tannenberg von hoher symbolischer Bedeutung: Nicht nur manifestierte sie die Wiedergutmachung für die dem Deutschen Orden 1410 von polnisch-litauischen Truppen beigebrachte Niederlage, sondern auch den geschichtlichen Auftrag, dessen Werk fortzusetzen (S. 26f.). So gesehen erschien die leere Ödnis im Osten als „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ (S. 75). Liulevicius führt aus, dass die Besatzer mit fortschreitender wirtschaftlicher, verkehrs- und verwaltungstechnischer Erschließung des Gebietes begannen, Anspruch auf das Land zu erheben und Siedlungspläne zu entwerfen. Es reifte eine Überzeugung, die nach Meinung des Autors nach Kriegsende zum „verborgenen Vermächtnis“ (S. 9) wurde: dass das „Volk ohne Raum“ seine Zukunft im Land ohne Leute finden müsse.5

2. Totaler Krieg und totale Kontrolle – „Militärische Utopie“ und Besatzungspolitik in Ober Ost
Nachdem die Deutschen 1915 zum Angriff übergegangen waren, entschloss sich Ludendorff, wie er in seinen Erinnerungen schrieb, etwas Neues, „etwas Ganzes zu schaffen“.6 Im eroberten Gebiet Litauens und Kurlands wurde ein abgeschotteter Militärstaat – nach dem Oberbefehlshaber Ost kurz „Ober Ost“ genannt – aufgebaut, der Ordnung und Kultur verbreiten sollte (S. 72f.). Es galt, durch eine effiziente Verwaltung und die umfassende wirtschaftliche Ausbeutung von Land und Leuten die Versorgungslage der Deutschen zu verbessern und noch vor Friedensschluss eine dauerhafte Ordnung zu etablieren. Dabei wurden sehr moderne Herrschaftstechniken angewandt wie statistische Erhebungen, Volkszählungen und die Einführung von – bis dato unbekannten – Pässen für die Einwohner. Liulevicius differenziert zwischen zwei Säulen, auf denen der Militärstaat ruhte. Mit Hilfe der „Verkehrspolitik“ sollten die materiellen Ressourcen des besetzten Gebietes erschlossen und die personellen mobilisiert werden (S. 116ff.). Das „Kulturprogramm“ – die Vermittlung deutscher Sprache und Bildung sowie deutscher Hygiene- und Ordnungsvorstellungen – diente dazu, den deutschen Einfluss auf die gesellschaftliche und politische Entwicklung nachhaltig zu sichern (S. 143ff.). Trotz des enormen Apparates – Liulevicius schätzt, dass 1918 fast 20.000 Männer in der Verwaltung von Ober Ost arbeiteten (S. 76) – scheiterte Ludendorffs Militärutopie an der Kluft zwischen dem Anspruch des Militärstaates und der Wirklichkeit. Ein der Formel von der „Deutschen Arbeit“ (S. 68ff.) geradezu Hohn sprechendes Chaos sowie die rücksichtslose Ausbeutung der Einheimischen verhinderten die Etablierung von Recht und Ordnung und eine freiwillige Annäherung an Deutschland.7 Es war der „desaströse Versuch, Kultur durch Gewalt zu vermitteln“ (S. 242). Der zunehmenden Auflösung der Disziplin und dem wachsenden Widerstand der Einheimischen stand die Militärverwaltung weitgehend machtlos gegenüber.8 Nach dem Zusammenbruch Deutschlands versank das Gebiet von Ober Ost 1918/19 in einem Bürgerkrieg, der auf allen Seiten mit äußerster Brutalität geführt wurde (S. 296ff.). Bolschewisten kämpften gegen zarentreue Truppen und einheimische Wehren gegen deutsche Freikorps, deren Einsatz Liulevicius als das „brutale Schlussfanal des Ostfronterlebnisses“ (S. 20) bezeichnet.

3. Vom Ostfronterlebnis des Ersten zum Vernichtungskrieg des Zweiten Weltkriegs?
Geprägt durch das „Ostfronterlebnis“ (S. 14), resümiert Liulevicius, bildeten sich nach dem Ersten Weltkrieg „wichtige Ansichten über den Osten und die Vorstellung einer zivilisatorischen Mission der Deutschen heraus“ (S. 16). Die „Bedeutung der Geschehnisse“ (S. 13) an der Ostfront zeige sich darin, dass zwei bis drei Millionen Soldaten geprägt wurden vom Eindruck unendlicher und ungeordneter Weite sowie der Absenz jeder Kultur. Zum Ostfronterlebnis gehörte die Erfahrung, dass Russland besiegt werden konnte, der Größe seiner Armee und allen Unbilden der Natur zum Trotz (S. 303). Dieser Einstellungswandel ist vor einigen Jahren treffend auf die Formel: „Erst Dampfwalze, dann Sandkastenspiel“9 gebracht worden. Dass das Russland- und Osteuropa-Bild durch die „militärische Utopie von Ober Ost und das Ostfronterlebnis“ (S. 336) einem „radikalen Wandel“ (S. 337) unterlag, hatte in der Tat Auswirkungen auf das politische und militärstrategische Denken in den 1920er-Jahren. Der osteuropäischen Vielfalt im Weltkrieg nicht Herr geworden, entwickelten Militärs wie Intellektuelle radikale geopolitische Raumordnungspläne, die später von den Nationalsozialisten aufgegriffen wurden und schließlich Eingang in den „Generalplan Ost“ fanden.10 Zwar bringt Liulevicius diesen Radikalisierungsprozess auf die Formel: „Weg mit den Leuten und her mit dem Raum“ (S. 308), aber er stellt fest: „Hitlers alptraumhafte Visionen weisen Gemeinsamkeiten mit dem Projekt Ober Ost [...] auf, aber auch erhebliche Unterschiede dazu“ (S. 332). Obgleich er beides herausgearbeitet hat, suggeriert Liulevicius eine mentalitätsgeschichtliche Kontinuität zwischen dem Ostfeldzug von 1915 und dem Angriffskrieg von 1941. Die Besatzungspolitik des Ersten war aber etwas grundlegend anderes als die Vernichtungspolitik des Zweiten Weltkrieges.

Dicht belegt hat Liulevicius, wie negativ der Osten gesehen wurde. Paradoxerweise, schreibt er, konnte diese ablehnende Haltung mit dem Drang zur Kolonisation verbunden werden (S. 337). Aber für wen gilt dieses Paradoxon? In der Kluft zwischen dem Anspruch, die „Kriegserfahrungen der einfachen Menschen“ (S. 13) zu untersuchen, und einer letztlich schmalen Quellengrundlage liegt das Problem dieser Studie. Liulevicius belegt seine Thesen fast ausschließlich mit Aussagen von höheren Offizieren und einigen Rechtsintellektuellen wie Ernst von Salomon. Von diesen aber auf die Einstellung aller Ostfrontkämpfer (S. 24) oder gar der „gewöhnlichen Deutschen“ (S. 336) zu schließen, ist zumindest gewagt. So weicht anfängliche Freude über anregende Thesen und impressionistische Beschreibungen zunehmendem Ärger darüber, dass ein großes Thema, die Herausbildung dauerhafter Einstellungen und kollektiver Denkweisen, ohne wirklichen methodischen Ansatz bearbeitet wurde. Obwohl sein Erkenntnisinteresse es verlangt hätte, bezieht sich Liulevicius in seiner Vorbemerkung „zu Methodik und Quellen“ nur auf die Auswertung von Schriftstücken, nicht aber auf Theorien zur Erforschung von Mentalitäten, die anzuwenden seiner Studie gut getan hätte. Indem der Autor auf diese verzichtet, wird er seinem Anspruch nicht gerecht, mehr als Militärherrschaft, nämlich den Zusammenhang von „Culture, National Identity and German Occupation in World War I“ 11 zu untersuchen. Ärgerlich sind zudem auch die vielen, zum Teil wortgleichen Wiederholungen sowie die fehlerhaften Karten.12 Liulevicius’ Verdienst besteht darin, die Grundlagen der Herrschaftspolitik von Ober Ost und ihre Umsetzung genau untersucht zu haben. Er hat damit den Blick auf die allzu lange ‚vergessene’ Ostfront gelenkt und überzeugend dargelegt, dass das „Fronterlebnis“ nach West- und Ostfront zu differenzieren ist. Sein Buch gefällt als „Anatomie eines modernen Besatzungssystems“ (S. 339), als mentalitätsgeschichtliche Studie überzeugt es nicht.

Anmerkungen:
1 Ausnahmen sind z.B. Stone, Norman, The Eastern Font, 1914-1917, New York 1975; Strazhas, Aba, Deutsche Ostpolitik im Ersten Weltkrieg. Der Fall Ober Ost, 1915-1917, Wiesbaden 1993.
2 Vgl. Churchill, Winston S., The Unknown War: The Eastern Front, New York 1931. Auch neue Arbeiten beziehen sich v.a. auf die Westfront, so Duppler, Jörg; Groß, Gerhard P. (Hgg.), Kriegsende 1918. Ereignis, Wirkung, Nachwirkung, München 1999. Zum Frieden von Brest-Litowsk vgl. Wheeler-Bennett, John W., Brest-Litovsk. The Forgotten Peace, March 1918, New York 1966 (Neudruck von 1938). Älteren Datums auch: Hahlweg, Werner, Der Diktatfrieden von Brest-Litowsk 1918 und die Bolschewistische Weltrevolution, Münster 1960.
3 Liulevicius, S. 35, 40. Polen, Litauer, Weißrussen, Ostjuden und – vor allem in Kurland – Deutschbalten bildeten diesen „Mischmasch“ (S. 59), der bei deutschen Soldaten aus den polnischen Gebieten Preußens, zu einer Art Identitätskrise führte (S. 238ff.). Dieser Aspekt wird vom Autor aber insgesamt überbewertet, denn letztlich war es, wie er selbst ausführt, gerade die landschaftliche und kulturelle Ödnis, die die Deutschen in ihrem Deutschtum und ihrer kulturellen Überlegenheit bestärkte (S. 239).
4 Anfangs irritierte auch die Unterwürfigkeit, mit der die ausschließlich bäuerliche Bevölkerung den Deutschen zunächst gegenübertrat (S. 65).
5 Liulevicius, S. 125, 205ff., 293, 308 (Zitat). Die in den 1920er-Jahren populäre Selbstbezeichnung ging auf einen zum Schlagwort gewordenen Buchtitel zurück: Grimm, Hans, Volk ohne Raum, 2 Bde., München 1927.
6 Ludendorff, zit. nach Liulevicius, S. 72. Er spricht von einem „Projekt der totalen Kontrolle“ (S. 20). Vgl. Wehler, Hans-Ulrich, „Vom ‚absoluten’ zum ‚totalen’ Krieg oder: Von Clausewitz zu Ludendorff“, in: Ders., Krisenherde des Kaiserreiches 1971-1918, Göttingen 1979, S. 89-116.
7 Zum Chaos vgl. Liulevicius, S. 217ff., 223, 232; zur Ausbeutung und Entfremdung vgl. ebd., S. 85, 93, 225ff., 234.
8 Vgl. Liulevicius, S. 50, 108ff., 171f., 226ff., 231f. Die Krise des Militärstaates spitzte sich paradoxerweise zu, als der Zusammenbruch des Zarenreiches und der Frieden von Brest-Litowks die deutsche Herrschaft über Osteuropa dauerhaft zu sichern schienen (S. 243ff.).
9 Afflerbach, Holger, „Erst Dampfwalze, dann Sandkastenspiel“, in: Die Zeit 35, 26.8.1994. Vgl. auch Ders., „Die militärische Planung des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg“, in: Michalka, Wolfgang (Hg.), Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse, München 1994, S. 280-317.
10 Liulevicius, S. 308, 326-332, 338.
11 So der Untertitel der Originalausgabe. Die deutsche Übersetzung stellt demgegenüber eine Verengung dar.
12 Merkwürdig ist z.B., dass auf Karte 1 [S. 23: „Osteuropa vor 1914“] eine Art „Generalgouvernement“ zu sehen ist und Deutschland auf Karte 5 [S. 306: „Osteuropa in den zwanziger Jahren“] in den Grenzen von 1939 eingezeichnet zu sein scheint; zudem fehlt hier die Grenze zwischen Lettland und Russland. Auch der Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung, dessen umstrittene „Wehrmachtsausstellung“ wegen gravierender Mängel vor einiger Zeit überarbeitet worden ist, muss sich fragen lassen, wie genau er es mit historischen Fakten nimmt.

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