S. Köstering: Natur zum Anschauen

Titel
Natur zum Anschauen. Das Naturkundemuseum des deutschen Kaiserreichs 1871-1914


Autor(en)
Köstering, Susanne
Erschienen
Köln 2003: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
VIII; 351 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christine Brecht, Zentrum für Interdisziplinäre Frauen-und Geschlechterforschung, Technische Universität Berlin

Die Geschichte naturwissenschaftlicher Sammlungen und Museen erfreut sich wachsender Aufmerksamkeit, seit Geschichtswissenschaft und Wissenschaftsgeschichte ihre Erkenntnisinteressen unter kulturalistischen Vorzeichen erweitert haben. Sind damit doch Fragen nach epistemischen und gesellschaftlichen Funktionen der Repräsentation von Natur auf die Tagesordnung gerückt, die sich an diesen „Räumen des Wissens“, so die Annahme, exemplarisch untersuchen lassen. Die neuere historische Museums- und Wissenschaftsforschung zeichnet sich daher - bei allen Unterschieden im Einzelnen - dadurch aus, museales Sammeln und Darstellen als eigenständig-geschichtsfähige Gegenstandsbereiche in die Betrachtung einzubeziehen.

Susanne Kösterings Studie zum Naturkundemuseum des Kaiserreichs, die als Dissertation am Institut für Geschichtswissenschaften der Technische Universität Berlin entstanden ist, schließt sich dieser Betrachtungsweise an. Sie untersucht aus wissens- und präsentationsgeschichtlicher Perspektive, wie sich das Naturkundemuseum in den Jahrzehnten zwischen Reichsgründung und Erstem Weltkrieg von einer Forschungs- zur „Volksbildungsstätte“ entwickelte. Das Hauptaugenmerk gilt daher dem Wandel der Inhalte und Formen musealer Naturdarstellung, der mit dieser Entwicklung vom Speicher zum Schauraum einherging. Um 1900, so lautet die zentrale These, kam es zu einer grundlegenden Neuorientierung naturkundlicher Wissenspräsentation. Köstering bezeichnet diesen Paradigmenwechsel als „Biologische Wende“ und fächert in vier Kapiteln auf, welche Faktoren und Akteure - darunter Museumsreform und Evolutionsbiologie, Tierpräparatoren und Massenpublikum - diese Wende bewirkten. Diese Fokussierung verbindet sie mit der Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz des Naturkundemuseums in einer Zeit, als die Entfremdung der Natur im Zuge von Industrialisierung und Urbanisierung zu einer Signatur der Moderne wurde. Gestützt auf eine breite Quellengrundlage, konzentriert sich die Analyse dabei auf die zoologischen Abteilungen der wichtigsten „Reformschausammlungen“ des Kaiserreichs. Diese notwendige und wohlbegründete Beschränkung schließt die großen, prestigeträchtigen Häuser in Berlin, Frankfurt und Hamburg ebenso ein wie naturhistorische Abteilungen von Regional- und Stadtmuseen, etwa des Altonaer Museums, oder das 1912 als Gemeinschaftsprojekt von Lehrern eröffnete Naturkundliche Heimatmuseum in Leipzig, so dass die enorme Bandbreite der institutionellen und personellen Träger des wilhelminischen Naturkundemuseums in den Blick kommt.

Das erste Kapitel skizziert zunächst die sammlungs- und institutionsgeschichtlichen Entstehungsbedingungen der naturkundlichen Museumslandschaft, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts in den deutschen Staaten herausbildete und im Kaiserreich nicht weniger als 140 (im Anhang tabellarisch dokumentierte) Museen und Sammlungen umfasste. Im Anschluss an diese Bestandsaufnahme werden die institutionellen und architektonischen Veränderungen, die im Kontext der Museumsreformbewegung seit den 1870er-Jahren in Gang kamen, als Voraussetzungen der „Biologischen Wende“ rekonstruiert. Früher als in anderen Museen setzte sich im Naturkundemuseum das Prinzip der Sammlungstrennung durch und fand, wo neue Museumsbauten errichtet wurden, in veränderten Raum- und Gebäudekonzeptionen seinen Ausdruck. Die räumliche Trennung zwischen wissenschaftlichen Sammlungen, die der Forschung vorbehalten blieben, und Schausammlungen für das große Publikum war anfangs allerdings weniger dem reformerischen Eifer geschuldet, das Naturkundemuseum für das Volk zu öffnen. Wie Köstering am Beispiel der Planungsgeschichte des Berliner Museums für Naturkunde herausarbeitet, lag diese Zweiteilung vielmehr im professionspolitischen Interesse der akademischen Zoologen. Ihnen ging es zunächst einmal darum, Amateur- und Hobbynaturforscher vom Zugang zu den ganzen Sammlungen auszuschließen, um das Museum - angesichts der Konkurrenz zum Labor - als exklusiven Ort der beschreibenden Naturforschung zu profilieren. Wo die Übergänge zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit zuvor noch fließend waren, beförderte also Sammlungstrennung „sowohl eine Zweiteilung zwischen forschungsrelevantem und volksbildendem Wissen als auch zwischen Wissensproduzenten und Publikum“ (S. 61).

Mit der Einrichtung von separaten Schausammlungen waren zugleich die Bühnen für neue Inhalte und Formen der Darstellung bereitet, die die folgenden beiden Kapitel ausleuchten. In detaillierten Beschreibungen und vergleichenden Analysen einzelner Reformschausammlungen werden sowohl die wissenschaftlichen Grundlagen als auch die visuellen Konzepte herauspräpariert, auf denen die „Biologische Wende“ basierte. Zoologische Sammlungen waren (und sind) darauf gerichtet, die natürliche Vielfalt der Tiere in größtmöglicher Vollständigkeit zu erfassen und systematisch - nach Klassen, Gattungen, Arten usw. - zu ordnen. Diese systematisch-taxonomische Ordnung der Tierwelt wurde in den Schausammlungen zwar keineswegs aufgegeben. Doch wissenschaftliche Ansätze, die im Zuge der Darwinschen Evolutionstheorie entstanden waren, schoben sich, wie das zweite Kapitel im Einzelnen zeigt, nach und nach in den Vordergrund. Vormals endlose Reihen von Tierpräparate wurden gleichsam aufgelockert durch tiergeografische Zusammenstellungen von 'charakteristischen Tieren' in Afrika- oder Antarktis-Dioramen, durch 'Biologische Gruppen' von „Wildschweinen im Hochsommer“ und bisweilen auch durch ökologische Arrangements mit Titeln wie „Auf dem Felde“ und „Im Walde“. Das 'System' trat, mit anderen Worten, hinter biologische Darstellungen des 'Lebens' der Tiere zurück. Träger und Motoren dieser wissenschaftlich fundierten Verschiebung waren „Reformdirektoren“, die in einem Exkurs als vielseitige Grenzgänger zwischen akademischen und außerakademischen Welten porträtiert werden.

Entscheidend hinzu kam jedoch, wie das dritte Kapitel ausführt, dass sich neue Darstellungstechniken und -konventionen herausbildeten, die inszenierenden Präsentationsweisen Vorschub leisteten. So entstand im Kontext der Tierpräparation, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als kunsthandwerkliches Praxis- und Berufsfeld etablierte, eine neue Präparationstechnik, die so genannte Dermoplastik, die die 'naturgetreue', 'lebenswahre' Darstellung des Tierkörpers zum ästhetischen Maßstab machte. Dieses Konzept der „lebendigen Darstellung“ habe, so argumentiert Köstering, maßgeblich dazu beigetragen, Tierdarstellungen mit symbolischen Botschaften aufzuladen. In den deutschen Naturkundemuseen fand es seinen Niederschlag zumal in idyllischen Inszenierungen des Familienlebens der Tiere in heimatlich-vertrauter Umgebung, in denen die bürgerliche Geschlechterordnung als natürliche Grundlage sozialen Friedens figurierte. Ein anderes visuelles Konzept bestand darin, spektakuläre Schauobjekte zum Blickfang zu machen. Diese „Politik der visuellen Höhepunkte“ bestimmte vor allem die Präsentation exotischer Tiere aus den deutschen Kolonien, die nach der Jahrhundertwende zu Hauptattraktionen der großen Museen avancierten. Anhand der Beschaffungsgeschichten solcher Exponate wird deutlich, dass naturkundliches Ausstellen nicht zuletzt in kolonialpolitische Netzwerke von Afrikaforschern, Großwildjägern und Tierhändlern eingespannt war. Zwischen den Polen „Identifikation“ und „Attraktion“ entfaltete sich also in den Schausammlungen des wilhelminischen Naturkundemuseums eine spannungsvolle Bedeutungsproduktion, deren Interpretation gegenüber der Analyse der konzeptionellen und materiellen Herstellung dieser „Natur zum Anschauen“ jedoch etwas zu kurz kommt.

Spielt der Publikumsbezug naturkundlicher Schausammlungen auf allen Untersuchungsebenen eine Rolle, wendet sich das vierte Kapitel schließlich eigens den Adressaten des Naturkundemuseums zu. Damit erschließt Susanne Köstering auch der vielfach eingeforderten historischen Rezeptionsforschung neues Terrain. Zählebige Vorstellungen von einer monolithischen Publikumsmasse werden zugunsten einer Betrachtungsweise zerstreut, die verschiedene Fach- und Laienöffentlichkeiten mit jeweils spezifischen Interessen und Bedürfnissen unterscheidet. Zur Fachwelt gehörten in diesem Fall sowohl Naturwissenschaftler als auch Vertreter der sich professionalisierenden Museumswelt. Als „Wissensprüfer“ steckten sie - durch Beiträge in den einschlägigen Fachzeitschriften - die Grenzen der anfangs stark umstrittenen Biologisierung der Schausammlungen ab. Und auch für das quellenmäßig schwer fassbare Laienpublikum lässt sich durchaus zeigen, dass es aus mehreren Gruppen bestand. Während naturkundliche Amateure, die selber Naturalien sammelten, sowie Lehrer und Schüler, die im Rahmen des Naturkundeunterrichts ins Museum kamen, dazu beigetragen haben dürften, dass die Biologie die Systematik nicht vollständig ablöste, schreibt Köstering dem Massenpublikum einen entscheidenden Anteil an der „Biologischen Wende“ zu. Anders als im Falle der Kunstmuseen handelte es sich hier in der Tat vor allem um Angehörige der klein- und unterbürgerlichen Schichten, die sich naturkundliche Schausammlungen im Rahmen von organisierten Gruppenführungen aktiv anverwandelten - und in Exkursionen auch die Natur der näheren Umgebung. Für diese neue und immer größer werdende Besuchergruppe waren biologische Inszenierungen aufgrund ihrer Überschaubarkeit, Anschaulichkeit, und der in ihnen enthaltenen Bildungs-, Deutungs- und Kompensationsangebote offenbar besonders attraktiv.

Mit ihrer material- und facettenreichen Darstellung gelingt es Susanne Köstering in mehrfacher Hinsicht, ausgetretene Pfade zu verlassen. Weit davon entfernt, das Naturkundemuseum des Kaiserreichs zur Identitätsfabrik oder zur Disziplinaranstalt zu stilisieren, kann sie sichtbar und plausibel machen, dass dessen gesellschaftliche Relevanz gerade darin bestand, als „Repräsentationsraum der Natur“ (S. 275) integrative und kompensatorische Funktionen zu übernehmen. Insgesamt mag das Bild des wilhelminischen Naturkundemuseums, das auf diese Weise entsteht, etwas zu harmonisch geraten sein. Denn Konflikt- und Spannungspotentiale werden zwar benannt, aber nicht systematisch behandelt. Das gilt, um nur einen Aspekt zu nennen, auch für den fundamentale Widerspruch zwischen Naturbewahrung und Naturbeherrschung, den museale Tierdarstellungen im buchstäblichen Sinne verkörpern. Die Stärke der Untersuchung liegt indes darin, die Produktion naturkundlicher Wissenspräsentation als vielschichtigen Prozess der sozialen Interaktion auszuweisen, an dem über Disziplin-, Berufs- und Klassengrenzen hinweg eine Vielzahl von Akteuren beteiligt war. Damit leistet „Natur zum Anschauen“ einen wichtigen Beitrag zur Museumsgeschichtsschreibung und darüber hinaus zu einer Kultur- und Alltagsgeschichte des Wissens in der Moderne. Abgerundet durch einen tabellarischen Anhang und zahlreiche historische Fotografien, handelt es sich um ein lesens- und sehenswertes Buch, dem seinerseits ein großes Publikum zu wünschen ist.

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