C. Treitel: Eating Nature in Modern Germany

Cover
Titel
Eating Nature in Modern Germany. Food, Agriculture and Environment, c.1870 to 2000


Autor(en)
Treitel, Corinna
Erschienen
Anzahl Seiten
XVIII, 386 S.
Preis
€ 121,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Laura-Elena Keck, Institut für Kulturwissenschaften, Universität Leipzig

Alternative Ernährungsformen vom 19. bis ins späte 20. Jahrhundert sind seit den 1990er-Jahren immer wieder zum Gegenstand historischer Darstellungen geworden.1 Das zeugt nicht nur von einem wachsenden Interesse an ernährungsgeschichtlichen Themen, sondern auch von einer anhaltenden Auseinandersetzung mit der Lebensreformbewegung, die eine wichtige Triebfeder moderner alternativer Ernährungskonzepte war. Während in den 1990er-Jahren erste Überblickswerke zum Lebensreform-Netzwerk oder zu einzelnen Reformsträngen erschienen, nähern sich viele neuere Beiträge dem Thema aus einer stärker kulturhistorisch geprägten Perspektive und beleuchten zum Beispiel diskurs- oder körpergeschichtliche Aspekte.2

Corinna Treitel reiht sich in diese neuere Forschung zur Lebensreform ein. Sie beschäftigt sich mit der Entstehung und Verbreitung der Idee einer „natürlichen Ernährung“, deren Wurzeln sie im 19. Jahrhundert bei Vordenker/innen der Lebensreform wie Eduard Baltzer verortet. Im ersten Kapitel legt sie dar, wie Baltzer und andere Akteur/innen seit den 1860er-Jahren eine vegetarische bzw. fleischarme, genussmittelfreie Kost als Alternative zu der möglichst fleisch- und eiweißreichen Ernährung entwickelten, die die meisten etablierten Wissenschaftler/innen und Ärzt/innen zu dieser Zeit empfahlen. Von dort aus schlägt sie einen weiten Bogen bis ins späte 20. Jahrhundert und zeigt, wie sich die Idee einer „natürlichen“ Ernährung und Landwirtschaft von einem liberalen Lösungsansatz für die soziale Frage zu einem politisch ambivalenten, in viele Richtungen anschlussfähigen biopolitischen Programm entwickelte.

Neu ist dabei weniger der Gegenstand als vielmehr der Fokus auf die biopolitischen Dimensionen der „natürlichen Ernährung“. Schon bei Baltzer zielte die Reformkost nicht nur auf das Individuum, sondern auch auf die Gesundheit und Leistungsfähigkeit der Gesamtbevölkerung ab. In der NS-Zeit, der Treitel ein eigenes Kapitel widmet, rückten „natürliche Ernährung“ und Bio-Landwirtschaft erstmals ins Zentrum der staatlichen (Bio-)Politik: Sie sollten die Gesundheit des „Volkskörpers“ optimieren und zur „rassischen Aufwertung“ beitragen, wurden aber auch im Zusammenhang mit nationaler Autarkie und der Blut- und Boden-Ideologie diskutiert. Treitels theoretischer Anspruch ist es, das Verständnis von der Produktion und Verbreitung solcher biopolitischer Konzepte und Praktiken voranzubringen und zu erweitern: „Whereas existing scholarship tends to see biopolitics as driven mainly by experts exerting a disciplinary force from the top down, this book takes a broader view. It explores biopolitics as the result of a popular impulse to self-rule as well as an authoritarian impulse to coerce, as coproduced by laypeople as well as experts, and as immensely flexible in its goals and alliances.“ (S. 10)

Zwei Begriffspaare dienen Treitel zur Strukturierung ihrer Arbeit: Um die Produktion und Verbreitung biopolitischen Wissens zu fassen, arbeitet sie zum einen äußerst fruchtbar mit den Begriffen „critique“ und „co-optation“. So gehört sicherlich zu den Verdiensten des Buchs, dass es die Lebensreform nicht als isolierte Bewegung, sondern konsequent im Zusammenhang und Austausch mit anderen Gruppen und Akteur/innen betrachtet. Die Lebensreformer/innen, die meist aus einer Außerseiter/innenperspektive heraus agierten, und die von staatlichen Institutionen gestützten Expert/innen verstrickten sich schon früh in einer Dynamik aus gegenseitiger, oft polemischer Kritik und gleichzeitiger, mehr oder weniger stillschweigender Aneignung von Konzepten der jeweils anderen Seite. Besonders überzeugend wird das im dritten Kapitel dargelegt: Treitel zeigt dort, wie Lebensreformer/innen und wissenschaftliche Außenseiter/innen um 1900 dazu beitrugen, den Voit’schen Proteinstandard von 120 Gramm pro Tag ins Wanken zu bringen und so ein entscheidendes Argument für eine fleischlastige Ernährung auszuhebeln.

Das andere strukturierende Begriffspaar bilden „hunger“ und „health“, die Treitel als treibende Kräfte hinter den von ihr beschriebenen Entwicklungen identifiziert. Je nach politischer und wirtschaftlicher Situation in unterschiedlicher Gewichtung trugen beide Konzepte dazu bei, die „natürliche Ernährung“ für bestimmte Akteur/innen erstrebenswert zu machen. Ein Beispiel ist die Angst vor einer Ernährungskrise vor und während des Ersten Weltkriegs, durch die die „natürliche“ Ernährung auch für bislang skeptische Expert/innen interessant wurde. Die Konzentration auf den Anbau und den Konsum heimischer Pflanzen und die Einschränkung der vergleichsweise ineffektiven Viehwirtschaft sollten die Importabhängigkeit der deutschen Lebensmittelwirtschaft verringern. Dementsprechend veränderte sich auch die öffentliche Darstellung: „Low-meat and meatless diets were reframed during the war as simultaneously the diet of ‚our fathers‘ and the diet of the future, one that housewives above all had a patriotic duty to deliver to the family table.“ (S. 134)

Treitel erzählt die Geschichte der „natürlichen Ernährung“ größtenteils als fortschreitende Erfolgsgeschichte. Das Ernährungskonzept der Lebensreformer/innen, im 19. Jahrhundert noch ein marginales Phänomen, erreichte im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts in beiden deutschen Staaten den Mainstream: in der DDR als Teil der offiziellen Gesundheitspolitik, allerdings ohne die lebensreformerische „ideology of nature“ (S. 283); in der BRD im Kontext des neuen Umweltbewusstseins und der sozialen Bewegungen der 1970er- und 1980er-Jahre. Die NS-Zeit spielte laut Treitel eine Schlüsselrolle für diese Erfolgsgeschichte: „[T]he Nazi state forced people and ideas from separate spheres into sustained engagement“ (S. 304) – so sei die Grundlage für Forschungsprogramme, Kooperationen und Theorien geschaffen worden, die sich nach 1945 voll entfalteten. In der DDR war „natürliche Ernährung“ allerdings vor allem auf der preskriptiven Ebene relevant, während sie in der BRD Eingang in die alltäglichen Konsum- und Ernährungspraktiken vieler Menschen fand. Diese Differenz erklärt Treitel unter anderem mit der Marginalisierung und Unterdrückung lebensreformerischer Initiativen in der DDR: „[I]t was only where life reformers joined by a handful of renegade experts were allowed to organize and live out their faith in nature freely that the dream of eating naturally became part of lived experience.“ (S. 305) Diese These ist auch für ihren theoretischen Erklärungsansatz zur biopolitischen Wissensproduktion relevant, denn sie impliziert, dass biopolitische Programme, die nur von staatlicher Seite – ohne Unterstützung „von unten“ – durchgesetzt werden, lediglich eine begrenzte Reichweite haben.

Treitel schreibt außerdem eine Geschichte der politischen Diversifizierung. In den 1860er-Jahren war die „natürliche Ernährung“ noch klar mit linksliberalen Positionen assoziiert. In den folgenden Jahrzehnten breitete sie sich jedoch über das gesamte politische Spektrum aus und verband sich zunehmend auch mit völkischen und antisemitischen Ideologien – eine Entwicklung, die im Nationalsozialismus ihren Höhepunkt erreichte. In der BRD der 1970er-Jahre setzte schließlich eine erneute, bis heute präsente Pluralisierung ein: Bio-Landwirtschaft und „natürliche Ernährung“ werden zwar meistens als Bestandteil eines eher „linken“ Lebensstils wahrgenommen, Treitel weist aber darauf hin, dass sie auch in rechten und rechtsextremen Kontexten populär sind. Diese politische Multivalenz, die der „natürlichen Ernährung“ beinahe von Beginn an innewohnte, erklärt Treitel mit der großen Relevanz und Anschlussfähigkeit der an sie gekoppelten biopolitischen Ziele und Debatten „over hunger and freedom, health and fitness, the environment and future generations“ (S. 311).

Treitel stellt die Geschichte der „natürlichen Ernährung“ als spezifisch deutsches Phänomen dar: Eine Mischung aus strukturellen Faktoren im 19. Jahrhundert und außergewöhnlichen nationalen Ereignissen im 20. Jahrhundert habe zu einer besonders tiefen und langlebigen Verankerung dieser Ideen geführt. Leider bleibt etwas unscharf, worin genau sich die deutsche Entwicklung von anderen Ländern unterschied, in denen die „natürliche Ernährung“, wie Treitel selbst schreibt, ebenfalls viele Anhänger/innen fand. Hier hätte an der einen oder anderen Stelle eine stärkere Einbeziehung transnationaler Perspektiven das Argument weiter schärfen können. Auch eine stärkere Problematisierung und historische Einordnung des Natürlichkeitsbegriffs wäre wünschenswert gewesen. Wenn Treitel von „natürlicher Ernährung“ schreibt, bezieht sie sich auf ein historisch spezifisches Ernährungskonzept, das sich zwar im Laufe der Zeit veränderte, aber in Bezug auf zentrale Faktoren – etwa eine fleischlose oder -reduzierte Kost – relativ konstant blieb. Als Geschichte der Entstehung und Verbreitung dieses Konzepts funktioniert Treitels Buch wunderbar. Aus dem Blick gerät allerdings, dass nicht nur Versatzstücke dieses spezifischen Ernährungskonzepts, sondern auch das Natürlichkeitsideal selbst adaptiert und in neue Kontexte übernommen wurde. So wurde und wird z.B. auch Fleisch immer wieder als Inbegriff einer „natürlichen“ Ernährung bezeichnet, etwa im Kontext sogenannter „Steinzeitdiäten“. Eine zumindest ausblickhafte Einbeziehung solcher gegenläufiger Natürlichkeitskonzepte hätte den Blick eventuell auf weitere Bedeutungen und Implikationen lenken können, die sich aus dem Zusammendenken von Ernährung und Natürlichkeit ergeben. Ähnliches gilt auch für Natürlichkeitspraktiken: Treitel zeigt für das 19. Jahrhundert sehr schön, wie Natur von einem „place to visit“ zu einem „set of practices“ (S. 56) wurde und wie sich Ernährungs- mit anderen Natürlichkeitspraktiken verbanden. Je weiter das Narrativ fortschreitet, desto unspezifischer wird Treitel in dieser Hinsicht: Für die Zeit nach 1945 beschreibt sie zwar das Fortleben bestimmter Ernährungstheorien, nicht aber das Weiterleben und die eventuelle Neuausrichtung von Natürlichkeitspraktiken. Diese Gewichtung ist sicherlich der Anlage und Schwerpunktsetzung des Buches geschuldet, das der Zeit vor 1945 deutlich mehr Platz einräumt und die Nachkriegszeit eher als Ausblick behandelt. Eventuell ließen sich hier weitere Forschungen zu Ernährung und Natürlichkeit im 20. Jahrhundert anschließen.

Insgesamt hat Corinna Treitel ein sehr lesenswertes und aufschlussreiches Werk vorgelegt, das durch eine umfangreiche Quellenauswertung, klare Strukturierung und durchdachte theoretische Fundierung überzeugt. Sie zeigt, wie wichtig die Lebensreform für die Entwicklung moderner alternativer Ernährungskonzepte war, macht aber gleichzeitig deutlich, dass die „natürliche Ernährung“ ihren Einfluss nur durch das Wechselspiel aus Aneignung und Kritik zwischen ganz unterschiedlichen Akteur/innen über Jahrzehnte hinweg festigen und ausbauen konnte.

Anmerkungen:
1 Judith Baumgartner, Ernährungsreform – Antwort auf Industrialisierung und Ernährungswandel. Ernährungsreform als Teil der Lebensreformbewegung am Beispiel der Siedlung und des Unternehmens Eden seit 1893, Frankfurt am Main 1992; Eva Barlösius, Naturgemäße Lebensführung. Zur Geschichte der Lebensreform um die Jahrhundertwende, Frankfurt am Main 1997; Jörg Melzer, Vollwerternährung. Diätetik, Naturheilkunde, Nationalsozialismus, sozialer Anspruch, Stuttgart 2003; Sabine Merta, Schlank! Ein Körperkult der Moderne, Stuttgart 2008, sowie Florentine Fritzen, Gemüseheilige: Eine Geschichte des veganen Lebens, Stuttgart 2016.
2 Merta, Schlank!; Maren Möhring, Marmorleiber. Körperbildung in der deutschen Nacktkultur (1890–1930), Köln 2004, und Florentine Fritzen, Gesünder leben. Die Lebensreformbewegung im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2006.