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Titel
Mehr Reichtum, mehr Armut. Soziale Ungleichheit in Europa vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart


Autor(en)
Kaelble, Hartmut
Erschienen
Frankfurt am Main 2017: Campus Verlag
Anzahl Seiten
211 S.
Preis
€ 19,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christopher Banditt, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Man muss sicherlich nicht uneingeschränkt der Einschätzung zustimmen, dass es sich bei sozialer Ungleichheit um ein „Megathema“1 handelt, dennoch wird man ihre aktuell hohe gesellschaftliche Relevanz kaum bestreiten können. Mittlerweile nehmen sich deshalb auch Geschichtswissenschaftler/innen vermehrt dieses Themas an bzw. werden historische Zugriffe darauf gewählt. Beispielsweise veröffentlichte Hans-Ulrich Wehler eine Darstellung der historischen Hintergründe heute vorherrschender Disparitäten.2 Und der Ökonom Thomas Piketty hat etwa seine medial breit rezipierten – und nicht unumstrittenen – Thesen zur Entwicklung von Einkommens- und Vermögensungleichheit aus langen Zahlenreihen gewonnen.3 Mit Hartmut Kaelble legt nun einer der renommiertesten Sozialhistoriker der Bundesrepublik eine konzise Darstellung sozialer Ungleichheit in Europa von 1900 bis in die Gegenwart vor.

Der Band verfolgt mehrere Zielstellungen: Es sollen „nicht nur Verschärfungen […], sondern auch Abmilderungen“ (S. 11) sozialer Ungleichheit im geschichtlichen Verlauf aufgezeigt werden. Über die bloße Darstellung hinaus werden die „Veränderungen von sozialer Ungleichheit […] auch zu erklären versucht“ (S. 13), also mögliche politische, wirtschaftliche und kulturelle Bestimmungsfaktoren herangezogen. Die Entwicklungen in Europa stehen zwar im Mittelpunkt, sollen aber durchgehend in einen „globalen Vergleich“ (S. 9), vornehmlich mit den USA, eingebettet werden. Während zumeist davon ausgegangen werde, „dass die Vermögens- und Einkommensunterschiede alle anderen Dimensionen der sozialen Ungleichheit bestimmen“ (S. 12), möchte Kaelble deutlich machen, dass Disparitäten in den Bereichen Wohnen, Bildung und Gesundheit sowie der sozialen Aufstiegsmöglichkeiten nicht zwangsläufig mit den materiellen Ressourcen zusammenhängen. Ganz im Sinne der klassischen Ungleichheitsforschung versteht Kaelble unter sozialer Ungleichheit „hierarchische Unterschiede [zwischen] den Lebenschancen“ (S. 14) in den vorgenannten Dimensionen. Zudem soll in der Monografie die Wahrnehmung sozialer Ungleichheit beleuchtet werden, die vermittelt durch Medien und Wissenschaft diskurshaft auf die Politik zurückwirken und also selber zu einem Einflussfaktor auf die Ausmaße von Ungleichheit werden kann. Diese Darstellung der Perzeptionen, soviel sei vorweggenommen, ist ohne Frage ein großes Plus der Abhandlung, fällt aber aufgrund der unterschiedlichen Quellen- und Datenlagen für die früheren Epochen schmaler und weniger gut belegt aus als für die späteren.

Die Zeit zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und dem Beginn des Ersten Weltkriegs bildet den ersten der vier Teile des Bandes. Chronologisch geht es mit der Zeit der Weltkriege und der Weltwirtschaftskrise weiter. Die „Trente Glorieuses“ der 1950er- bis 1970er-Jahre sind Inhalt des dritten Teils. Das mit Abstand umfangreichste Kapitel umfasst die „Ära der Wiederzunahme“ (S. 103) sozialer Ungleichheit seit den 1980er-Jahren. Teilweise arbeitet sich Kaelble in seiner Darstellung an gängigen Narrativen und Forschungsthesen ab, wie der Annahme, dass wirtschaftlicher Fortschritt mit hoher Ungleichheit zu bezahlen sei. Oder er stellt Pikettys These in Frage, „dass sich soziale Ungleichheit im Kapitalismus nur in Krisen abmilderte“ (S. 50). Ungeachtet dessen, dass dies von Piketty so zugespitzt und apodiktisch gar nicht formuliert wurde, hat dieser für die Periode vom Vorabend des Ersten Weltkriegs bis 1945 einen Rückgang der Konzentration von Vermögen und – mit einigen Auf- und Abwärtsbewegungen – auch von Einkommen festgestellt.

Hier schaut nun Kaelble auch für die anderen Dimensionen sozialer Ungleichheit genauer hin. Demnach war im Ersten Weltkrieg zwar die Vermögensungleichheit rückläufig, aber in den anderen Bereichen (Einkommen, Bildung, Wohnen, Gesundheitsversorgung) sind die Disparitäten schärfer geworden. Die 1920er-Jahre sieht er hingegen als „eine Art erstes Labor der politischen Abmilderung sozialer Ungleichheit“ (S. 61), die bei Vermögen, Einkommen, bei den Wohnbedingungen und Bildungschancen auf entsprechende staatliche Programme sowie steuer- und sozialpolitische Eingriffe zurückging. Der Bewältigung von Kriegsfolgelasten wird hierbei eine eher untergeordnete Rolle zugeschrieben; und bemerkenswerterweise wird die Inflation in den europäischen Staaten zu Beginn der 1920er-Jahre als möglicher Erklärungsansatz für Vermögensnivellierungen ausgespart. Im Zweiten Weltkrieg sanken zwar Vermögens- und Einkommensungleichheit, jedoch war dies für die mittleren und unteren Schichten „kein wirklicher Gewinn“ (S. 60) angesichts der immensen sozialen Kosten, zu denen nicht zuletzt die verschlechterten Wohn- und Gesundheitsbedingungen zählten.

Für die drei Jahrzehnte nach 1945 zeigt Kaelble, dass die Minderung sozialer Ungleichheit kein allein europäisches Phänomen war und dass diese Entwicklung durchaus mit Wirtschaftswachstum (rund 5 Prozent in Westeuropa bis in die frühen 1970er-Jahre) zusammengehen konnte. Diese Prosperitätszeit mit dem Ausbau des Wohlfahrtsstaates, hoher Spitzensteuersätze und Bildungsinvestitionen dient Kaelbe zur Untermauerung seiner These, dass sich Disparitäten mit einem „Mix von Politik, Wirtschaft und Kultur“ (S. 174) abmildern lassen.

Kaelble bezieht sich in seinen Ausführungen durchweg auf Studien anderer Autoren und Institutionen. Für die Zeit von den 1980er-Jahren bis heute liegt die größte Fülle an Material vor, das natürlich eine gewisse Heterogenität aufweist. So führt Kaelble zum Beispiel Einkommensdaten vor Steuern und Abgaben aus der Luxembourg Income Study oder OECD-Statistiken zu Haushaltseinkommen als Belege für eine generell gewachsene Einkommensungleichheit an (S. 105). Diese wird im Ganzen begründet mit wirtschaftlich-arbeitsweltlichen Veränderungen, verminderter Gewerkschaftsmacht, nur noch gedämpft gestiegenen Wohlfahrtsstaatsausgaben und gesenkten Spitzensteuersätzen (S. 109f.). Die Punkte geben für die Gesamtentwicklung völlig richtige Aufschlüsse, sie erklären nur mitunter nicht die Ausprägungen bei den konkreten Einkommensarten. Steuerrechtliche Maßnahmen haben naturgemäß auf Einkommen vor Steuern keinen Einfluss, während sie sich, wie auch Sozialtransfers, bei den Haushalts(-netto-)einkommen wiederum bemerkbar machen. An solchen Punkten hätte man sich eine klarere und differenzierte Betrachtung gewünscht. Beispielsweise wäre hier eine Quantifizierung steuerpolitischer und wohlfahrtsstaatlicher Effekte auf Ungleichheitsverhältnisse sehr interessant gewesen. Jedoch wird im Buch regelmäßig konzediert, dass manches noch „nicht genau untersucht“ (S. 59) ist oder der Raum fehlt, um gewisse Entwicklungen „im Einzelnen zu diskutieren und zu erklären“ (S. 123). Mit der Limitierung auf eine Tour d’Horizon über die Ungleichheitsverhältnisse des 20. und 21. Jahrhunderts wird leider stellenweise das Potential zu tiefergehenden Aufklärungen und Analysen verschenkt.

Betrachtet werden hauptsächlich Länder Westeuropas, wobei nicht nur Ungleichheiten in den einzelnen Gesellschaften, sondern bisweilen auch zwischen ihnen abgebildet werden. Neben Vergleichsregionen wie Nordamerika, Ostasien oder der „Dritten Welt“ werden ebenfalls punktuell die Staaten des ehemaligen „Ostblocks“ beleuchtet. Hier hätte für eine umfassendere Europadarstellung die vergleichsweise knappere, jedoch vorhandene Forschungsliteratur zu sozialer Ungleichheit im Sozialismus breiter rezipiert werden können.4 Positiv ist unbedingt herauszustellen, dass immer wieder der Blick auch auf Geschlechterdisparitäten gerichtet wird. Und ein weiteres hervorzuhebendes Element in Kaelbles Darstellung ist die Bestandsaufnahme der Entwicklung von sozialen Distinktionen. Es wird zum Beispiel gezeigt, dass in den Jahrzehnten seit den 1980er-Jahren neben den gewachsenen Ungleichheiten – aufgrund derer dieser Periode eine gewisse „Düsternis“ (S. 174) attestiert wird – sich immerhin die sozialen Trennlinien weiter abschwächten. So stellen der Besitz und die Nutzung von Fernsehern, Waschmaschinen, Autos oder heute von Smartphones keine Besonderheiten höherer Schichten mehr dar, sondern sind für die Breite der Gesellschaft normal geworden. Zudem fanden Trennlinien adressierende Termini wie Klassengesellschaft, Ober- und Unterschichten in Medien und politischen Debatten weitaus seltener Verwendung.

Insgesamt ist Hartmut Kaelble eine bündige Überblicksdarstellung über die Entwicklung der europäischen Ungleichheitsverhältnisse seit Beginn des 20. Jahrhunderts gelungen, die zum einen eine Vielzahl an weiteren Forschungsperspektiven aufzeigt und zum anderen eine gute Einführungslektüre darstellt.

Anmerkungen:
1 Julian Bank / Till van Treeck, „Unten“ betrifft alle: Ungleichheit als Gefahr für Demokratie, Teilhabe und Stabilität, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 10/2015, S. 41–46, hier S. 41.
2 Hans-Ulrich Wehler, Die neue Umverteilung. Soziale Ungleichheit in Deutschland, München 2013.
3 Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, München 2014.
4 Beispielsweise zur Einkommensverteilung: Anthony B. Atkinson / John Micklewright, Economic Transformation in Eastern Europe and the Distribution of Income, Cambridge 1992.