J. Heinzen: Making Prussians, Raising Germans

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Titel
Making Prussians, Raising Germans. A Cultural History of Prussian State-Building after Civil War, 1866–1935


Autor(en)
Heinzen, Jasper
Reihe
New Studies in European History
Erschienen
Anzahl Seiten
X, 376 S.
Preis
£ 90.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Richard Pohle, Institut für Geschichte, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Was das Deutsche Historische Museum 2016 in seinem „Fokus Königgrätz“ aus seinen Archiven geholt hatte, dürfte ziemlich genau die gegenwärtige Erinnerung an den „Deutschen Krieg“ 1866 umrissen haben: Zündnadelgewehr und Pickelhaube, Georg Bleibtreus imposantes Gemälde „Schlacht von Königgrätz am 3. Juli 1866“ und natürlich die Lorbeerkränze, die Bismarck nach dem Sieg über die österreichischen Truppen im realen, mehr aber noch im übertragenen Sinne geflochten wurden. Dass anders als mit Blick auf den Dualismus Preußen-Österreich von Hass und Gewalt dieses Bürgerkrieges, der „Provinzialisierung“ Hannovers und den tiefen ideologischen Gegensätzen zwischen Welfen und Borussen dagegen kaum mehr etwas im breiteren Bewusstsein geblieben ist, ist allerdings auch kein Zufall. Vielmehr ist es Ergebnis eines bereits unmittelbar nach dem Krieg einsetzenden Staats- und Traditionsbildungsprozesses, dessen Dialektik von teils gegenläufigem teils symbiotischem Erinnern und Vergessen Jasper Heinzen nun in einer imposanten Studie untersucht hat.

Basierend auf einer in Cambridge entstandenen Dissertation geht diese der Frage nach, welche langfristige Bedeutung das „kollektive Trauma“ des Bürgerkriegs respektive der Niederlage darin für den Staatsbildungsprozess in der Provinz Hannover hatte, mit welchen Mitteln und auf welchen Ebenen die Legitimität der neuen Herrschaft durchgesetzt werden sollte und wie schließlich die Integration der unterlegenen Bürgerkriegspartei im Vergleich zu jenen Gesellschaften gelang, die wie die Schweiz (1847), Italien (1860/61) und die USA (1861–65) zur selben Zeit vor ähnlichen Herausforderungen standen. Und um gleich mit der letzten Frage zu beginnen: die Leistungsbilanz Preußens und des späteren Kaiserreichs fällt für Heinzen wie für einen Großteil der neueren Kaiserreichforschung deutlich differenzierter und damit partiell auch erfolgreicher aus, als es die alte Sonderwegsthese unterstellt hatte.

Doch der Reihe nach, und das sind sechs thematisch angelegte Kapitel zu Schlüsselbereichen kultureller Staatsbildung. Zunächst ist da die preußische Armee, gegen die den hannoverschen Truppen in Langensalza nur ein verlustreicher Pyrrhussieg gelungen war, und die als effektives Instrument der „Staatszerstörung“ wie des Staatsaufbaus nur vier Monate später die ersten hannoverschen Rekruten einzog. Deren Loyalität konnte sie dabei trotz der über 1871 hinaus anhaltenden antipreußischen Stimmung durchaus gewinnen, weil sie eben nicht nur für die Nation in Waffen stand, sondern aufgrund ihrer föderalen Struktur auch regionale und lokale Traditionen integrieren konnte, die nicht allein den moralisch „flexiblen“ Offizieren den Übergang deutlich erleichterten. Da sie, wie Heinzen am Beispiel etlicher Kriegervereine zeigen kann, bis zu einem gewissen Grad auch konkurrierende Loyalitäten und politischen Dissens zuließ und zudem die handfesten Vorteile preußischer Garnisonsstädte mitbrachte, erwies sich die Armee bald als ein mächtiges Bindeglied an den neuen Staat, ohne diesen doch vollends mit den Hohenzollern identifizieren zu müssen.

Ähnlich verhielt es sich mit der Erinnerungslandschaft der Provinz, die im zweiten Kapitel durchmessen wird. Anhand der Debatten um die großen und kleinen Kriegerdenkmäler analysiert Heinzen hier die Kontinuitätsbedürfnisse der verschiedenen Akteure, allen voran der Hohenzollern selbst, die ähnlich wie in Italien dem noch jungen Nationalstaat eine von der Vergangenheit verbürgte Zukunft stiften wollten und dazu nicht nur die Rivalität mit den Welfen symbolisch herunterspielten, sondern zuletzt auch die Monarchie bewusst regionalisierten, was sie wiederum für den virulenten Heimatdiskurs anschlussfähig machte. Gleichzeitig betont Heinzen aber auch die Kreativität der lokalen Eliten in der Deutung „ihrer“ Denkmäler, bei denen eben immer auch eigene Repräsentationsbedürfnisse ein Rolle spielten und bei denen sich wie in den ebenfalls untersuchten Heimatmuseen stark integrierende und tendenziell depolitisierende Lesarten durchsetzen.

Eine besondere Herausforderung kultureller Staatsbildung war sodann der im dritten Kapitel analysierte Umgang mit einer nicht mehr ohne weiteres durch Zensur zu steuernden Presselandschaft. Gegen die wirkungsvolle Propaganda der im Exil lebenden Welfen kam die preußische Provinzpresse hier nämlich lange nicht an. Auch war das Modell des durch den Welfenfonds mitfinanzierten „literarischen Büros“ und der von ihm belieferten regierungsnahen Zeitungen kaum auf den eher liberalen Zeitungsmarkt Hannovers übertragbar. Erst die Umstellung der Pressearbeit nach 1882, bei der weniger direkte Kontrolle als vielmehr mittelbarer Einfluss über eine Zusammenarbeit mit den Medien gesucht und kostengünstiges Nachrichtenmaterial für die „überparteilichen“ Generalanzeiger bereitgestellt wurden, trug hier Früchte. Ein anderes von Heinzen ausgewertete Feld preußischer Öffentlichkeitsarbeit stellten die knapp 700 Volksbibliotheken dar, die in der Provinz eingerichtet und anfangs mit überwiegend preußenfreundlichen Büchern ausgestattet wurden. Auch hier musste indes bald nachgesteuert werden, weil gerade diese Bücher kaum gelesen wurden und auch die Leserschaft nicht der gewünschten Zielgruppe entsprach. Die Preußenpropaganda ging in den Normalverzeichnissen also auf gerade noch 20 Prozent zurück, was wiederum lokale Gestaltungsspielräume eröffnete und den paradoxen Effekt zeitigte, dass, ganz anders als etwa die Südstaaten der USA, hier nun massiv in die öffentliche Bildung der vormaligen Gegner investiert wurde.

Das vierte Kapitel widmet sich sodann der pädagogischen Staatsbildung, wobei hier lediglich die Volksschulen bzw. deren Text- und Lesebücher von Interesse waren, weil nur sie die Regionalgeschichte breiter behandelten. War aber, so könnte man fragen, nicht gerade das Gymnasium der Ort, an dem der aktuelle Konflikt zwischen föderativem und zentralem Staatsmodell vor der griechisch-römischen Folie diskutiert worden sein dürfte?

Heinzen geht darauf leider nicht ein und kommt so wieder nur auf jenen auch in den Vergleichsstaaten dominierenden und alle Unterschiede einebnenden Heimatdiskurs, selbst wenn dieser, wie Heinzen zeigen kann, durch die Schulbuchkonflikte erhebliche Dynamik entfalten und schließlich durch das Stammeskonzept August Tecklenburgs noch modernisiert und mit dem Reichsnationalismus verbunden werden konnte.

Auf die systemstabilisierende Konkurrenz zielt auch das Kapitel über die weibliche Wohltätigkeit in Vereinen und prominenten Einrichtungen wie dem Henriettenstift oder dem Clementinenhaus. In ihrem privaten Haß auf die preußischen Usurpatoren den Männern anfangs kaum nachstehend zeigten sich die dort engagierten Frauen ebenfalls sehr bald zu pragmatischen Kompromissen bereit, ermöglichte der Rückzug auf die Agenda der Inneren Mission, nicht zuletzt aber der Wettbewerb um Anerkennung und Spenden eine Identifikation auch mit der „Landesmutter“ der Hohenzollern – zumal hier über politisch nonkonforme Einstellungen wegen des fehlenden Wahlrechts noch leichter hinweggesehen werden konnte als etwa bei den Kriegervereinen.

Warum die Integration der Verlierer, die bis zum ersten Weltkrieg in Deutschland relativ gut funktioniert habe, in Weimar plötzlich wieder in Frage gestellt wurde und die alten Seperatismen wieder gewaltsam aufbrachen (man denke an den „Welfenputsch“ 1919), ist schließlich die Frage des letzten Kapitels. Heinzen argumentiert hier, dass die symbolische Trennung Preußens von den Hohenzollern, die die Integration in den neuen Staat trotz anderweitiger Loyalität lange möglich gemacht hatte, nun wegfiel und die latenten Probleme deshalb essentialisiert und wiederum gegen Preußen, das „preußische Blut“ usw. gerichtet werden konnten. Hinzu kamen die nicht zuletzt im Heimatdiskurs militarisierten Raumvorstellungen, die über ideologische Grenzen hinweg mobilisieren konnten und deshalb, so Heinzens Plädoyer, in der Gewaltgeschichte Weimars auch stärker Berücksichtigung finden sollten als bisher.

Zwei der Faktoren, die im Kaiserreich wesentlich zur Integration Hannovers in den preußischen Staat beigetragen hatten, erwiesen sich somit als Katalysatoren der politischen Desintegration der Provinz in der Weimarer Republik. Von einer unbedingten Erfolgsgeschichte der preußischen Staatsbildung wird man daher sicher nicht sprechen können, wohl aber kann man mit Heinzen so etwas wie einen preußischen „Mittelweg“ bei der Bewältigung der Bürgerkriegsfolgen konstatieren, bei dem weniger ein breiter Konsens gesucht als die vorhandenen Antagonismen vielmehr in Formen des Wettbewerbs überführt oder in hinreichend unbestimmte Erzählungen von Heimat und Stamm integriert wurden. Dass maßgebliche Impulse für solche historischen Erzählungen dabei, wie Heinzen Studie eindrucksvoll belegt, nicht preußischer Propaganda entstammten, sondern vielmehr aus der Provinz selbst kamen und auf beiden Seiten einen langwierigen Selbstüberzeugungsprozess in Gang setzten, mag schließlich nicht nur der Regionalgeschichte Auftrieb geben. Dieser Befund dürfte auch dem jüngsten Interesse an den eben nur vermeintlich „Besiegten“ der Geschichte neue Quellen und gewichtige Argumente liefern.