Cover
Titel
Mut und Melancholie. Heinrich Böll, Willy Brandt und die SPD. Eine Beziehung in Briefen, Texten, Dokumenten


Herausgeber
Bicher, Norbert
Erschienen
Anzahl Seiten
247 S.
Preis
€ 22,00
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Felix Lieb, Institut für Zeitgeschichte München-Berlin

Willy Brandt und Heinrich Böll hatten mehr gemeinsam, als auf den ersten Blick zu vermuten wäre. Beide litten auf ihre Weise unter dem Dritten Reich, setzten sich nach 1945 für eine Aufarbeitung der NS-Verbrechen ein und waren im Laufe ihrer Karrieren massiven Verleumdungen ausgesetzt: Brandt aufgrund seiner unehelichen Herkunft und Emigration; Böll wegen des Vorwurfs, ein Helfershelfer des RAF-Terrorismus zu sein. Seitdem war er als „literarischer Nestbeschmutzer“ (S. 12) abgestempelt.1

Norbert Bicher rekonstruiert in „Mut und Melancholie“ die von starker „gegenseitiger Hochachtung“ (S. 12) gekennzeichnete Beziehung zwischen Böll und Brandt sowie zwischen Böll und der Sozialdemokratie. Bicher, ehemals Pressesprecher der SPD-Bundestagsfraktion, hat dafür 70 Dokumente (meist Briefe, Essays oder Zeitungsartikel) aus den Jahren 1961 bis 1985 zusammengestellt und ordnet diese in einer 44-seitigen, sehr lesenswerten Einleitung in den historischen Kontext ein. Auf äußert anschauliche Weise zeichnet er darin vor allem die starke Polarisierung der westdeutschen Nachkriegsöffentlichkeit nach: Waren die Nobelpreisträger Böll und Brandt einerseits Personifikationen eines „besseren Deutschlands“, so standen sie gleichzeitig im Zentrum massiver Anfeindungen von konservativer Seite. Beiden war bewusst, dass auch in der Bundesrepublik der Kampf für Meinungsfreiheit, innere Liberalität und Rechtsstaatlichkeit stets von neuem ausgefochten werden musste (Dok. 46, 69) – ein Kampf, der Böll mit seinem Einsatz gegen die Notstandsgesetzgebung und den Radikalenerlass bisweilen auch in einen scharfen Gegensatz zur SPD trieb (Dok. 2, 3, 38, 39).

Die Auseinandersetzung zwischen Böll und der konservativen Presse in den 1970er-Jahren nimmt den zentralen Part des Buches ein. Im Januar 1972 polemisierte Böll im SPIEGEL-Artikel „Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?“ gegen die BILD-Schlagzeile „Baader-Meinhof-Gruppe mordet weiter“, da die Verantwortung der RAF für einen dort erwähnten Bankraub noch gar nicht erwiesen sei. Böll attackierte diesen „nackten Faschismus“ und die indirekte „Aufforderung zur Lynchjustiz“ (Dok. 10). In der Folge sah er sich einer beispiellosen Diffamierungskampagne nicht nur der Springer-Presse, sondern auch anderer Medien und rechtskonservativer Politiker ausgesetzt. Die 1974 erschienene Erzählung „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ wertete sogar der spätere Bundespräsident Karl Carstens als „Rechtfertigung von Gewalt“ (S. 38f.). Im gleichen Jahr beschuldigte Matthias Walden, Chefkorrespondent des Senders Freies Berlin, Böll mit teilweise falschen Zitaten aus dessen Werk der geistigen Mitverantwortung an der Ermordung des Berliner Kammergerichtspräsidenten Günter von Drenkmann. 1978 wies der BGH eine Klage Bölls dagegen noch ab, erst 1981 revidierte der BGH sein Urteil und zwang den SFB zu einer Schmerzensgeldzahlung. Der Unterstützung Brandts und der SPD konnte Böll sich dabei in aller Regel sicher sein. Ihn der geistigen Mittäterschaft am Terrorismus zu bezichtigen, sei, so Brandt, „grotesk. Wir dürfen die Anstrengungen, eine neue Liberalität, eine neue Freiheitlichkeit im Geistesleben und in der Politik zu erringen, nicht aufgeben“ (Dok. 54). Und direkt an Böll gerichtet: „Sie sind nicht so allein, wie Sie sich manchmal fühlen mögen.“ (Dok. 43)

Dabei scheint die Beziehung zwischen Böll und Brandt eine eher asymmetrische gewesen zu sein. Böll schrieb oft an und über Brandt, der für Böll ein „Wunder“ war und „der erste deutsche Kanzler, der aus der Herrenvolktradition herausführt[e]“ (Dok. 17). Doch auch in den (vergleichsweise) wenigen Aussagen Brandts über Böll wird ein tiefes Mitgefühl mit seinem Gegenüber offenbar, das seiner eigenen Verfolgungserfahrung entsprang: „Lassen Sie sich bitte nicht entmutigen. […] Resignieren sollten Sie nicht. Ich habe es auch nicht getan.“ (Dok. 14) Bicher hat sich vollkommen zurecht dafür entschieden, auch die Korrespondenz Bölls mit anderen prominenten Sozialdemokraten zu berücksichtigen, so z.B. mit Bundeskanzler Helmut Schmidt, dem SPD-Fraktionsvorsitzenden Herbert Wehner oder Bundespräsident Gustav Heinemann. Gerade im Vergleich mit diesen Briefwechseln zeigt sich, dass Bölls Affinität weniger der Sozialdemokratie als Partei, sondern vielmehr ihrer Ausnahmeerscheinung Willy Brandt galt, den er weit mehr schätzte als viele seiner Genossen.

Für viele Fragen, die momentan zur Geschichte der SPD diskutiert werden, bietet die Edition jedoch leider wenig neue Erkenntnisse. Dafür konzentriert sich die Textauswahl zu stark auf die Auseinandersetzung um Bölls Aussagen zum Terrorismus. Darüber hinaus wäre interessant gewesen, noch mehr über die Reaktionen der SPD auf Bölls Engagement in der Friedensbewegung zu erfahren.2 Bevor Böll im Oktober 1981 auf der Großdemonstration im Bonner Hofgarten als Hauptredner sprach, hatte Schmidt noch versucht, Erhard Eppler und andere Sozialdemokraten davon abzuhalten, an der Demonstration teilzunehmen – letztlich vergeblich. Die Sympathien vieler SPD-Mitglieder zur Friedensbewegung war einer der zentralen Gründe für die zunehmende Entfremdung zwischen Partei und Regierung. Ähnliches gilt für Bölls Verbindungen zu den Grünen, deren Europawahlkampf 1979 er unterstützte und zu deren Wahl er 1983 aufrief. Zu den Grünen ist lediglich eine einzige, nur wenige Worte umfassende Aussage Bölls in die Edition aufgenommen worden (Dok. 59). Brandts vermeintliche Reaktion auf Bölls Engagement für die Grünen beschränkte sich, zumindest in diesem Buch, auf die doch sehr allgemeine Feststellung: „Heinrich Böll gehört keiner politischen Fraktion, sondern Deutschland, der deutschen Kultur und der Weltliteratur.“ (Dok. 69) In der Einleitung erwähnt Bicher zwar ein Interview Bölls von 1985, in dem dieser den Wunsch einer rot-grünen Koalition äußert (S. 54), führt es in der Textsammlung aber nicht auf.

Die Kriterien, nach denen jene Quellen zusammengestellt wurden, erklärt Bicher leider an keiner Stelle. Es bleibt sogar einiges unerwähnt, was in der Forschung bereits länger bekannt ist. Drei Beispiele seien hier genannt: Als die Gruppe 47 die SPD im Wahlkampf 1965 unterstützen wollte, übte Böll daran harsche Kritik. Einer Partei, die die Notstandsgesetze akzeptiere sowie eine Große Koalition unter einem ehemaligen Nationalsozialisten anstrebe, die „Sträußchen zu binden“, sei „entweder albern oder selbstmörderisch“3; an anderer Stelle bezeichnete er die großkoalitionäre SPD gar als „mieseste aller Parteien“.4 Dass Böll Anfang 1973 einen offenen Brief an Brandt mitunterzeichnete, in dem dieser angesichts der amerikanischen Bombardements in Vietnam zur einer „außenpolitischen Wendung“ aufgefordert wurde, hat Bicher ebenso wenig berücksichtigt.5 Generell bleibt in der Textauswahl vieles von dem unterrepräsentiert, was Böll an der Politik der SPD ablehnte, wie unter anderem die programmatische Wende des Godesberger Programms. Indem sich Bicher vor allem auf die Auseinandersetzung um Bölls Aussagen zum RAF-Terrorismus konzentriert, lässt er dessen Haltung zur SPD somit in einem deutlich zu hellen Licht erscheinen.

Hinzu kommt, dass „Mut und Melancholie“ für die Wissenschaft leider nur sehr bedingt nutzbar ist. Das angehängte Literaturverzeichnis umfasst nur 13 Titel und ist nicht ansatzweise aktuell, spezielle Titel zur SPD-Geschichte fehlen gar komplett. Ein Register ist nicht vorhanden, der einleitende Essay verzichtet auf Anmerkungen oder Belege und die Fußnoten im Quellenteil beschränken sich meist auf äußerst knappe biographische Angaben zu erwähnten Personen. Äußerungen Dritter, auf die Böll oder sein jeweiliger Korrespondenzpartner verweisen und deren Wortlaut für das bessere Verständnis der Quelle hilfreich wäre, wurden oft gar nicht in die dünne Kommentierung aufgenommen (Dok. 8, 11, 15). Quellen, die in der Einleitung zitiert werden, aber nicht Teil der Textauswahl sind, werden nicht belegt. In dieser Hinsicht reicht Bichers Buch nicht an andere Editionen wie beispielsweise den Briefwechsel zwischen Brandt und Schmidt heran.6 Fairerweise muss man jedoch hinzufügen, dass der Autor bewusst auf eine vergleichbare wissenschaftliche Tiefe verzichtet hat (S. 55).

Nichtsdestotrotz eröffnet Bichers Textzusammenstellung einen spannenden Blick auf das innenpolitische Klima und die Auseinandersetzungen um den freiheitlichen Rechtsstaat der Bundesrepublik sowie das Verhältnis der Sozialdemokratie zu den westdeutschen Kulturschaffenden. Zwar genügt „Mut und Melancholie“ nicht den Ansprüchen an eine wissenschaftliche Edition und sollte aufgrund einiger Lücken mit einer gewissen Vorsicht genossen werden, bietet aber dennoch eine anregende Lektüre.

Anmerkungen:
1 Zu Böll siehe zuletzt Jochen Schubert, Heinrich Böll, hrsg. v. Heinrich-Böll-Stiftung, Darmstadt 2017.
2 Zur Nachrüstungsdebatte in der SPD siehe Bernd Faulenbach, Das sozialdemokratische Jahrzehnt. Von der Reformeuphorie zur neuen Unübersichtlichkeit. Die SPD 1969–1982, Bonn 2011, S. 714–723, sowie zuletzt Jan Hansen, Abschied vom Kalten Krieg? Die Sozialdemokraten und der Nachrüstungsstreit (1977–1987), Berlin 2016.
3 Heinrich Böll, Angst vor der Gruppe 47?, in: Merkur 19 (1965), S. 775–783, hier S. 781.
4 So äußerte sich Böll 1966 gegenüber Hans Werner Richter. Zit. nach Schubert, Heinrich Böll, S. 182.
5 Peter Merseburger, Willy Brandt. 1913–1992. Visionär und Realist, Stuttgart 2013 (1. Aufl. 2002), S. 670.
6 Willy Brandt / Helmut Schmidt, Partner und Rivalen. Der Briefwechsel (1958–1992), hrsg. u. eingel. v. Meik Woyke, Bonn 2015.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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